Selbstdarstellung von Prof.Dr.med. Zvi Lothane:
Ich bin am 21.Mai 1934 in Lublin in Polen geboren. Meine Eltern waren
Juden und ich bin Jude geblieben. 1941 habe ich Polen verlassen und bis
1946 in Rußland gelebt, um dann nach Polen zurückzukehren. Vier
Jahre später war ich in Israel eingebürgert, wo ich Medizin studiert
und geheiratet habe. Seit 1963 lebe und arbeite ich in den USA, wo ich
mich auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychoanalyse spezialisiert habe.
Ich habe Arbeiten über die Methodologie der Psychoanalyse und Psychotherapie
veröffentlicht, darunter das Buch „In Defense of Schreber: Soul Murder
and Psychiatry“ (1992). Eine Besprechung dieses Buches erscheint in der
Zeitschrift „Luzifer-Amor“ Nr. 18/1996. Ich bin Clinical Associate Professor
of Psychiatry an der Mount Sinai School of Medicine in New York, Fellow
der American Psychiatric Association und Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung. Originalfassung dieses Artikels: 23. Juli 1994. |
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Vorbemerkung
In meiner ersten Besprechung von Paul Schreber 1982 sah ich ihn noch als
„eine paranoide Persönlichkeit“, getreu den Interpretationen Freuds
(1911) von Schrebers berühmten Halluzinationen und Wahnvorstellungen.
Zu der Zeit sah ich noch nicht die innere Widersprüchlichkeit in Freuds
Formulierungen: Da ist zum ersten die Diagnose und sein Schwanken zwischen
Paranoia, paranoider Demenz (paranoider Schizophrenie) und [108] Paraphrenie
und dann zum zweiten die Interpretationen der Paranoia als ursächlich
mit dem homosexuellen Wunsch verbunden: „...der paranoische Charakter liegt
darin,“ verallgemeinert Freud, „daß zur Abwehr einer homosexuellen
Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn reagiert wird“ (Freud
1911, S.295), und zwar mit den Mitteln der Projektion, um seine unwahrscheinliche
Hypothese zu begründen, daß Schreber im Sommer 1893 von leidenschaftlichen
Wünschen und Sehnsüchten gegenüber Flechsig erfüllt
war, „der Kern des Konfliktes bei der Paranoia des Mannes“ (Freud 1911,
S.299).
Jung (1911) und Bleuler (1912) waren die allerersten, die diese Verallgemeinerung
Freuds im Sinne der Libidotheorie in Frage gestellt haben und viele andere
Autoren folgten (Lothane 1989, 1992), obwohl diese Dynamik in manchen Fällen
gelten kann. Freud hat sich dieser Theorie bedient, um den folgenden unwahrscheinlichen
Mythos über Senatspräsident Schreber zu konstruieren. Was Paul
Schreber laut Freud schon im Sommer 1893 bewegte, also bevor er Flechsig
im Herbst 1893 nach acht Jahren wiedersah, war nicht die Furcht, daß
seine „frühere Nervenkrankheit wieder zurückgekehrt sei“ (Schreber
1903, S.34), nicht die „ungewöhnliche Arbeitslast bei Antritt des
(ihm) neu übertragenen Amtes eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht
Dresden“ (S.34), nicht die „mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen“
(S.36), sondern der angeblich heiße, vollbewußte Wunsch von
Flechsig, im After koitiert zu werden. „In der Inkubationszeit der Krankheit
(zwischen seiner Ernennung und seinem Amtsantritt zwischen Juni und Oktober
1893)“, so Freud, „mit der Erinnerung an die Krankheit wurde auch die an
den Arzt geweckt, und die feminine Einstellung der Phantasie galt von Anfang
an dem Arzte“ ... (Es war) ... eine zärtliche Anhänglichkeit
an den Arzt übriggeblieben, die jetzt, aus unbekannten Gründen,
eine Verstärkung zur Höhe einer erotischen Zuneigung gewann ...
Ein Vorstoß homosexueller Libido war also die Veranlassung
dieser Erkrankung, das Objekt desselben war wahrscheinlich von Anfang an
der Arzt Flechsig, und das Sträuben gegen diese libidinöse Regung
erzeugte den Konflikt, aus dem die Krankheitserscheinungen entsprangen“
(Freud 1911, S.277-278) ... „Ich denke, wir sträuben uns nicht weiter
gegen die Annahme, daß der Anlaß der Erkrankung das Auftreten
einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie war“ (Freud 1911,
S.283). Das ist Freuds freie Phantasie über Schreber. Das ist Mythenbildung
und Mythendeutung (Lothane 1989a, 1994a, 1995d, 1995e). [109]
Entlang dieser Linie argumentiert Freud, daß Schrebers wahnhafte
Überzeugung einer Weltkatastrophe, eines Weltunterganges“ (Freud 1911,
S.305) „die Folge des zwischen ihm und Flechsig ausgebrochenen Konfliktes“
(Freud 1911, S.306) war. Jedoch nahm Freud auch an, daß die
Weltuntergangsphantasie weit über einen libidinösen Konflikt
hinausging; „eine solche Weltkatastrophe während des stürmischen
Stadiums der Paranoia“ bedeutete, „der Weltuntergang ist die Projektion
dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen,
seit er ihr seine Liebe entzogen hat“ (Freud 1911, S.307).
Eine solche Argumentation verfolgte mehr die Linie der gerade entstehenden
Ich-Psychologie als der damals noch herrschenden Triebpsychologie. Freud
zog dabei zum einen nicht in Betracht, daß Weltuntergangsphantasien
auch für Depression typisch sind (Jaspers 1963), Schrebers wahre Erkrankung,
und zum anderen, daß Paranoia und Liebe viel weitreichendere Konzepte
sind als verdrängte sexuelle Wünsche. Diese Konzeption wurde
später sowohl von C. G. Jung wie auch von Melanie Klein verfolgt.
Freud übernahm und bestätigte die Diagnose einer Paranoia von
Guido Weber und zog eine Differentialdiagnose nicht in Betracht. Obwohl
ihn die Depression als Erkrankung vertraut war, und Abraham gerade seinen
Beitrag zur Depression veröffentlicht hatte, lag die Abfassung seiner
eigenen klassischen Arbeit hierzu „Trauer und Melancholie“ noch Jahre in
der Zukunft. [110]
Trotz dieser Einschränkungen muß man Freuds Verdienst anerkennen:
Seiner zentralen Einsicht folgend, daß Verrücktheit Bedeutung
hat, was in der statischen und organisch orientierten Psychiatrie seiner
Zeit undenkbar war, ordnete Freud der Phantasie eine wichtige lebenserhaltende
Funktion zu: „... der Paranoiker baut sie (die zerstörte Welt, Z.
L.) wieder auf ... Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die
Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion“
(Freud 1911, S.308; Hervorhebung von Freud). In einer späteren Passage,
wo er über die „stürmischen Halluzinationen“ bei der Schizophrenie
spricht, formuliert Freud, „dieser ... Heilungsversuch bedient sich aber
nicht wie bei der Paranoia der Projektion, sondern des halluzinatorischen
(hysterischen) Mechanismus“ (Freud 1911, S.313).
Im Jahre 1987 kehrte ich wieder zur Beschäftigung mit Schreber
zurück, aber folgte diesmal Freuds zweifachem Rat, die Meinung anderer
Leute über einen Fall zunächst einmal nur als Behauptung zu nehmen
und sich ganz auf den eigenen Eindruck zu stützen, um dann, vor einer
erneuten Lektüre von Freuds Darstellung von Schreber, „sich vorher
mit dem Buche (Schrebers) wenigstens durch einmalige Lektüre vertraut
zu machen“ (Freud 1911, S.242). Indem ich gerade das tat und Freuds Aussagen
über Paul Schreber mit dem verglich, was Schreber selbst sagte, war
für mich der Schluß unausweichlich, daß Freud und
später andere nicht wirklich auf Schreber hörten, sondern eigenen
Vorannahmen folgten. Es ist anzumerken, daß Freuds klinische Fälle,
die die Dynamik von Homosexualität und Paranoia illustrieren sollten,
vornehmlich Frauen waren und erst sehr viel später auch Männer
(Freud 1922b). So war Freuds Analyse von Schreber ein Beispiel für
angewandte Psychoanalyse und Schrebers Text wurde als Paradigma verwandt,
als eine Illustration für eine bereits bestehende klinische Theorie (Lothane 1996a, 1997a). Dabei ging jedoch die historische Person Schreber
in der Fülle der Interpretationen verloren.
In zwei aufeinander folgenden Artikeln (1989a, 1989b) stellte ich eine
erste Neubewertung der deskriptiven, diagnostischen, dynamischen und dialektischen
Aspekte von Paul Schrebers Geschichte dar. Es stellte sich mehr und mehr
heraus, daß Schreber als Patient falsch beschrieben, falsch diagnostiziert,
mißverstanden und falsch behandelt worden war. Die historische Überlieferung
mußte korrigiert werden. Aufbauend auf der Forschung meiner Vorgänger
entwickelte ich meine eigenen Befunde in meinem Buch „In Defence of Schreber:
Soul Murder and Psychiatry“ und das [111] Thema entwickelt sich immer noch
weiter (Lothane 1993a, 1993b, 1993c, 1993d; 1994a, 1994b, 1994c, 1994d,
1994e; 1995a, 1995b, 1995c, 1995d, 1995e).
Paul Schrebers Geschichte wurde nicht in der Weise aufgenommen, wie
er sie erzählte und ausdrückte. So wurde nicht der ganze Titel
und Text der „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ (1903) in Betracht
gezogen, der die ganz entscheidenden Berufungsbegründungen enthält,
wie sie von Schreber selbst verfaßt wurden, und ebenso nicht ein
Anhang über forensische Psychiatrie. Dies aber ist eine grundlegende
Voraussetzung für jede Betrachtung von Unterlagen, die bei posthumer
Forschung entdeckt wurden. Diese Forschung hat unser Wissen über Einzelheiten
von Schrebers Biographie erweitert, hat aber Schrebers Selbstbeschreibung
nicht substantiell verändert. Darüberhinaus erbrachte meine Richtigstellung
zweier weit verbreiteter Mythen über Vater und Sohn einen ethischen
Ertrag: Sie stellten eine posthume Rehabilitation von Moritz und Paul Schreber
dar, die in verschiedener Weise entstellt dargestellt worden waren. So
war der angebliche Sadismus von Moritz Schreber keineswegs belegbar und
sein Sohn Paul litt unter einer stärkeren Depression, zeigte aber
kein homosexuelles Verhalten oder homosexuelle Konflikte. Schreber spielte
mit Phantasien einer Geschlechtsverwandlung und hat in privatem Kreis auch
Frauenkleider ausprobiert, was Freud in seiner dynamischen Bedeutung nicht
ausreichend würdigte.
Posthume Verleumdung oder historischer Rufmord (Seelenmord)
Zu seinen Lebzeiten wurde Paul Schreber als psychotischer Paranoiker verleumdet,
ein Fall von Rufmord, gegen den Paul Schreber sich sehr heftig selbst verteidigte,
während posthum diese vermeintliche Paranoia als ein Modell genommen
wurde, um Hitlers angebliche Paranoia zu erklären. In diesem Beitrag
möchte ich abschließend die verleumderische Verknüpfung
von Vater und Sohn Schreber mit Adolf Hitler und dem Nazi-Totalitarismus
untersuchen (Lothane 1989b, 1992, 1996b), der immer noch einige Intellektuelle
anhängen (Dinnage 1994), die ich in meiner Antwort auf Dinnage (Lothane
1994e) widerlegte und kürzlich noch einmal in meinem Artikel in „Die
Zeit“ (1995a) diskutierte. Ich verwende zur Bezeichnung einer solchen Verknüpfung
absichtlich das Wort Seelenmord, das Paul Schreber in den „Denkwürdigkeiten“
benutzte. Es ist ein alter Rechtsausdruck, [112] nicht ein schizophrener
Neologismus, durch den er seiner Klage Ausdruck gab, daß er als Insasse
einer Anstalt für geistig Kranke entehrt war, Opfer einer seelenmordenden
Grausamkeit war und seiner bürgerlichen Rechte beraubt war, all das
als Konsequenz eines ärztlichen Kunstfehlers in seiner Behandlung,
der gegen seinen erklärten Willen seinen Aufenthalt im Krankenhaus
der Universität Leipzig beendete und seine zwangsweise Aufnahme in
einer öffentlichen Irrenanstalt durchsetzte, ein beschämendes
Ende für einen hochrangigen Juristen. Ich sehe in der Verknüpfung
von Schreber mit Hitler den neuerlichen Fall einer Art Kunstfehler im weiteren
Sinne: Eines historischen Kunstfehlers oder historischen Seelenmordes.
Ich habe das entehrende einer solchen Verknüpfung anläßlich
der Pathographie von Wolfgang Dreher „Schreber, Steiner und Hitler“ ausgeführt
(Lothane 1989b). Ich setzte mich dabei auch mit Annahmen von Schatzman
und Niederland auseinander. Doch haben sich neue Fakten seit damals ergeben.
Durch Sander Gilman wurde mir bekannt, daß die erste Verknüpfung
zwischen Schreber und Hitler von dem österreichisch-jüdischen
Schriftsteller, Essayisten, Humanisten und Pazifisten Arnold Zweig (1887-1968)
stammte (Lothane 1994c). Zweig war ein Freund der Ostjuden und von Martin Buber, der nach dem Ersten Weltkrieg das Gewissen der Welt mit dem Portrait
des Sergeanten Grischa erschütterte. Er lebte später in Palästina
und kehrte nach einer Reihe von Enttäuschungen nach dem Zweiten Weltkrieg
in das frühere kommunistische Ostdeutschland zurück, wo er starb.
Als Bewunderer und Briefpartner von Freud (Freud-Zweig-Briefwechsel
1968), las Arnold Zweig Freuds epochale Analyse von Schrebers „Denkwürdigkeiten“
von 1911. In einem 1933 nach Hitlers Machtergreifung geschriebenen Buch
„Bilanz der deutschen Judenheit“ (1991) machte Zweig den mutigen Versuch,
den Aufstieg der nationalsozialistischen Tyrannei, die Unterwerfung Deutschlands
unter den Totalitarismus und die schwarze Flut des Antisemitismus gedanklich
in den Griff zu bekommen. Er hatte den Anspruch, diese Entwicklungen durch
Hitlers Pathologie erklären zu können, und zwar über Schrebers
Pathologie. Ein solches Vorgehen wirft ernste methodologische Fragen für
Historiker, Psychohistoriker, Psychoanalytiker und Psychiater auf: Welche
Rolle spielt die Pathologie einer Person für das Verhalten des Führers
und seiner Anhänger im Zusammenhang einer Gesellschaft und einer politischen
Vereinigung; wie ethisch [113] ist es, lebende Personen ohne deren Zustimmung
zu analysieren; ist es legitim, sich auf Psychoanalyse und Psychohistorie
in einer Biographie zu stützen, ohne die Aussagen mit der historischen
Forschung in Zusammenhang zu bringen?
Lassen Sie mich meine eigene Position darstellen. Zum Ersten reicht
die individuelle Pathologie eines Führers für sich allein nicht
aus, um die Beziehung zwischen dem Verhalten des Führers und der Gruppe
oder den Massen, die ihm folgen zu erklären, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil kein Führer in einem sozialen und politischen Vakuum
handelt. Die überwältigende Masse der Schriften Freuds beschäftigt
sich mit der Psychologie des Individuums, und nur eine mit der Psychologie
von Gruppen und Massen, die die Dynamik zwischen dem Führer und seinen
Anhängern zu erforschen sucht (Freud 1921), was viele, nicht nur Zweig,
übersehen haben. Ich habe diese Thematik in einem kürzlich erschienen
Artikel beschrieben (Lothane 1997b). Zum Zweiten sollte man sich bei der
psychologischen Beschreibung von lebenden Personen vor generalisierenden
Feststellungen nach allgemeinen Schemata hüten. Es scheint mir riskant
und ethisch fragwürdig zu behaupten, man könne jemanden ohne
seine Zustimmung und Bestätigung analysieren. Zum Dritten ist es meiner
Meinung nach notwendig, Hermeneutik und Geschichtswissenschaft miteinander
zu verbinden, denn, nach dem Vorbild Kants formuliert, Hermeneutik ohne
Geschichte ist leer und Geschichte ohne Hermeneutik ist blind.
Ohne viel von der Lebenswirklichkeit von Schreber zu wissen, aber großzügig
mit hermeneutischen Schlußbildungen arbeitend, fand Zweig eine Parallelität,
eine Identität und eine „klinische Entsprechung“ zwischen dem „paranoiden“,
antisemitischen, nationalsozialistischen „Phänomen eines Massenwahns“
und „dem klassischen Zeugnis der wahrhaft genialen Selbstbeschreibung,
die der geisteskranke, entmündigte und ungewöhnlich scharfsinnige
Dresdner Senatspräsident Dr. Daniel Paul Schreber seiner eigenen Person
gewidmet hat: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Ich kritisiere
nicht Zweigs Analyse der Irrationalität der „völkischen Naziideologie“,
aber ich kritisiere sehr wohl die Verwendung der „Denkwürdigkeiten“
als Erklärung dieser Ideologie und seine negative Einstellung zu Schreber.
Ich erwarte nicht, daß Zweig die Diskussionen über Schreber
in der deutschen psychiatrischen Literatur gelesen hat, oder auch die positiven
[114] Besprechungen seines Buches in den Fachzeitschriften, da die meisten
dieser Veröffentlichungen unbeachtet blieben und bis heute vergessen
sind. Die erste Diskussion des Falles Schreber in der Literatur stammte
von dem bemerkenswerten Otto Groß (1904), ein Jahr vor der
anonymen Diskussion über Schreber durch seinen Psychiater Guido Weber
(1905). Während Weber diagnostizierte, daß Schreber an einer
Paranoia litt, einer chronischen Hirnerkrankung, war Groß der erste,
der eine Differentialdiagnose durchführte und daraufhin für das
Vorliegen einer Schizophrenie argumentierte. Der Artikel von Groß
und seine Diagnose einer Schizophrenie wurden von Jung (1907) und Bleuler
(1911) zitiert aber nicht von Freud. Schreber wurde auch von Kraepelin
zitiert und ausführlich von Jaspers (1913). Keiner der genannten Autoren
führte jedoch eine wirkliche Differentialdiagnose durch oder zog die
rechtlichen Aspekte des Falles in Betracht.
Aus einer feindseligen Einstellung gegenüber Paul Schreber dämonisierte
Zweig ihn in einer sarkastischen Weise und verdrehte den Sinn seiner Worte
in dem Buch „Das Beil von Wandsbek“, das zuerst 1944 veröffentlicht
[115] wurde: „Das Buch (Schrebers) enthielt den zumeist sehr freimütigen
Bericht eines hohen Juristen, ... über seinen Zusammenstoß mit
der Außenwelt bei der Erfüllung einer einmaligen Mission, die
Gott der Herr ihm, und keinem anderen, auferlegte ... die Welt zu erlösen.
Dies sollte dadurch geschehen, daß er den Messias gebar und zu diesem
Zweck in ein Weib verwandelt wurde, welches dem Beischlaf unterlag ...
Aber eine Weltverschwörung hatte sich gegen diesen Erlösungsplan
erhoben, entschlossen, dem Dr. Schreber diese Auszeichnung nicht zu gönnen,
ihm seine Mitwirkung vielmehr kräftig zu versalzen. Die teuflischsten
Mächte ... gehörten vor allem der Studentenverbindung Saxonia
... die bedienten sich dazu des Anstaltsarztes Dr. Flechsig ... Nun aber
kam das Überraschende, da es dem Dr. Schreber ... gelungen war,
sich durch nichts als den eigenen Scharfsinn, die Logik und Beweiskraft
seiner Eingaben und Schriftstücke aus dieser Internierung zu befreien
und sogar die Entmündigung aufzuheben“ (Zweig 1979, S.250-251). Paul
Schreber hat nicht gesagt, er würde einen Messias gebären. Er
hat nicht gesagt, es gebe eine Weltverschwörung gegen diesen Plan,
oder daß Studenten des Corps Saxonia Flechsig gegen ihn aufhetzten.
Seine Phantasien, eine Frau zu werden, hatten eine ganz andere Bedeutung (Lothane 1992, 1993c).
Das gewichtigere von Zweigs Problemen war seine ungerechtfertigte Gleichsetzung
von Massenpsychose und individueller Pathologie, das weniger bedeutsame
seine schroffe und voreingenommene Einstellung gegenüber Paul Schreber.
Der Zusammenhang in der Beziehung zwischen Führer und Masse war schon
vor Freud hergestellt worden, z.B. in Tolstois „Krieg und Frieden“ in bezug
auf Napoleon.
Zweig zitierte nicht Freuds These, daß Paranoia durch unterdrückte
und projizierte Homosexualität verursacht ist. Doch war Zweig fähig,
allen Ernstes festzustellen, daß der „maßlose Uniformtrieb
des Deutschnationalismus“ sich widerspiegelte „im Falle des Dr. Schreber
durch Verwandlungen, die an seinem Körper vor sich gehen werden“ (Zweig
1979, S.77), und dies, obwohl auch nicht die Spur einer Ähnlichkeit
und Analogie zwischen solchem Massenverhalten und Schrebers Vorstellungen
über seinen Körper bestehen, wie etwa die Wunder, mit denen Gott
ihn verfolgte, oder seine Phantasien, daß er sich in eine Frau verwandele
oder da er sich mit Bändern schmückte, ganz abgesehen von
den Ursachen und Absichten solcher Vorstellungen und Inszenierungen. Im
Bann solcher Vergleiche glaubte Zweig, er könne „vertauschen ... den
unglücklichen Dr. Schreber [116] mit den völkischen Agitatoren
und Gläubigen“ (Zweig 1979, S.79-80). Hier übertreibt und simplifiziert
Zweig wiederum. Einerseits bauten die Ideologen von Hitlers Drittem Reich
bewußt und absichtlich ihre Innen- und Außenpolitik auf einem
Fundament von Rassismus und antisemitischer Propaganda auf, indem sie die
Juden zu ihren Feinden erklärten. Auf der anderen Seite nannte Schreber
nur einen wesentlichen Verfolger in seiner Lebenssituation, und zwar seinen
Psychiater Professor Flechsig, der wie Satan im Fall von Hiob den allmächtigen
Gott dazu verführte, den armen Schreber in den verschiedensten Weisen
zu quälen, was in bezug auf Flechsig eine Einbildung war, aber einen
Kern von Wahrheit enthielt. Hitler andererseits war der Führer eines
totalitaristischen Staates, der durch die Macht der Armee, der Polizei
und des Rechtssystems unterstützt wurde. Wie der nationalsozialistische
Rechtsprofessor Carl Schmitt feststellte, „durchdringen und erfassen (die
Nürnberger antijüdischen Rassengesetze) unsere ganze Auffassung
vom Recht. Auf sie wird sich in Zukunft Moralität, Ordnung, Anstand
und öffentliche Moral beziehen. Sie sind der Grund für Freiheit,
das Kernstück modernen germanischen Rechtswesens“ (zit. n. Tenenbaum
1956, S.4). Diese Position wurde in die nationalsozialistische Verfassung
aufgenommen (Huber 1937). Andererseits ist wahr, daß in dem Schrecken
des Zusammenbruchs der Weimarer Republik die verunsicherten Massen durch
Erlösungsversprechen eines Rattenfängers verführbar waren,
wie sie von den Ideologen und Propagandisten angeboten wurden. Zweig vermengte
die vielen Wurzeln von Haß, Vorurteilshaftigkeit und Verfolgung des
fundamentalen Bösen, um Kants Ausdruck zu verwenden, mit einer schnell
getroffenen psychiatrischen Diagnose und den Machenschaften eines einzelnen
Agitators.
Der Gipfel von Zweigs Verleumdung von Schreber war die Gleichsetzung
von Hitlers haßerfülltem „Mein Kampf“ mit den so achtbaren „Denkwürdigkeiten“.
Dabei parallelisiert Zweig Hitlers „Mischung von besessener Propaganda,
abgestandenen Brocken einer kümmerlichen Autodidaktenbildung, schlagkräftig
falschen Bildern“ und „die unheimliche Geschwätzigkeit, den affektgedrängten
Vortrag und von Gedankenflucht zeugenden Schachtelsätze“ mit „das
unheimliche Durch- und Nebeneinander von Wahn und geistiger Schlagkraft
... (von) Dr. Schreber, ... (der) etwa vermochte sich durch die verstandhafte
Schärfe seiner Schriftsätze aus der Entmündigung sich zu
befreien“ (Zweig 1979, S.87). Er setzte diese Vergleiche in „Das Beil von
Wandsbek“ fort. In Wirklichkeit war das Verhältnis zwischen Schreber,
seinen Ärzten und seinen Pflegern ganz [117] anders. Schreber mag
nicht einfach zu verstehen gewesen sein, aber während seines Aufenthaltes
bei Flechsig hatte der junge Dr. Teuscher keine Schwierigkeit, zu ihm eine
verstehende und herzliche Beziehung zu haben, was Schreber dankbar anerkennt.
Von den anderen Ärzten, Flechsig, Pierson und Weber, kann man nicht
sagen, daß sie aus ihrer Berufsrolle herausgingen, um besondere Sympathie
für Schreber zu zeigen. Doch, wie ich an anderer Stelle feststellte:
„Der Fehler dieser Analogieschlüsse bei Zweig ist nur zu offensichtlich
... Antisemitische Vorurteile Paranoia zu nennen ist genauso, wie wenn
man den katholischen Glauben an die unbefleckte Empfängnis einen Wahn
nennen würde, und nichts als ein Spiel mit Worten. Die Anwendung des
Begriffes Paranoia auf die Massenmörder des Holocaust ist eine Entwürdigung
der Toten und Gequälten. Im gleichen Atemzug die unschuldigen Träume
eines Mannes, der Opfer eines psychiatrischen und rechtlichen Systems war,
mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vergleichen ist mehr als
ein Mißverständnis - es ist eine Entstellung der Wahrheit und
ein Bruch ethischer Grundwerte“ (Lothane 1994c).
Zweigs voreingenommene Einstellung gegenüber Schreber steht in
starkem Kontrast zu der der Richter am Oberlandesgericht Dresden, an dem
Schreber vor seiner Erkrankung arbeitete, die ihm Respekt zeigten und seine
Entmündigung aufhoben. Man vergleiche dies auch mit Freuds Bezeichnung
von Schrebers rechtlichem Erfolg als „Triumph“ - da ist nicht zweifelhaft,
auf welcher Seite Freud steht. Andererseits reagierte Freud nicht auf die
Kernaussagen des Buches von Zweig oder auf Zweigs Bemerkungen über
Schreber und Hitler, als er die Fahnenabzüge der „Bilanz“ von Zweig
erhielt (Freud/Zweig 1968).
1960 wurde Zweigs Mythos ohne irgendeine Erwähnung der Quelle
von dem bis heute noch einflußreichen deutschen Essayisten Elias
Canetti, einem ursprünglich bulgarischen Juden, in einem Essaybuch
„Masse und Macht“ wiederentdeckt (Santner 1996). Entgegen dem Versprechen
im Titel behandelt Canetti in seinem Buch nicht die Dynamik zwischen dem
Führer und den Massen, wie sie von Freud (1921) diskutiert wurde,
sondern nur die Anwendung der Psychologie einer geisteskranken Person auf
einen geistig gestörten Führer, wobei er die Argumente Zweigs
kopiert. Ich habe bereits an anderer Stelle Canetti für seinen verleumderischen
Seelenmord an Schreber kritisiert. „Paul Schrebers Paranoia - seine Verfolgungsgefühle
gegenüber Flechsig und seine phantastischen Wahnvorstellungen [118]
von Seelenarmeen - wurden (von Canetti) gleichgesetzt mit der Paranoia,
der Machtgier und den Taten solch grausamer Eroberer wie Dschingis Khan,
Tamerlan und Hitler. Die Paranoia von Schreber wurde dabei als ein Erklärungsparadigma
genommen. Abgesehen davon, daß die ersten beiden im Gegensatz zu
Hitler noch nicht als paranoid bezeichnet waren, ging es Canetti vor allem
um die Paranoia Hitlers, die er durch lange Zitate aus den „Denkwürdigkeiten“
zu erklären versuchte. Diese Vorstellung ist nicht nur falsch und
widersinnig: sie ist ein Mißbrauch einer psychiatrischen Diagnose
und ein Angriff auf das Andenken Paul Schrebers“ (Lothane 1992, S.353).
Nach Canetti wurde die Verleumdung der Schrebers von Kohut (1971) fortgesetzt,
der nun die angenommene Psychose Hitlers mit der angenommenen Psychose
von Paul Schrebers Vater, Moritz Schreber, gleichsetzte, was eine neuerliche
Verdrehung ist. Von den Schriften Niederlands ausgehend nahm er beim Vater
Schreber an, daß er „eine besondere Art von psychotischer Charakterstruktur
habe - wahrscheinlich eine Art postpsychotischer Charakterveränderung,
ähnlich der vielleicht von Hitler ..., die sich aus einer hypochondrischen
Phase heraus mit der fixen Idee entwickelte, daß die Juden den Körper
Deutschlands infiltrierten und deshalb ausgelöscht werden müßten“
(Lothane 1992). Dies ist ein diagnostischer Mischmasch, wo alles möglich
ist, denn sicher muß man nicht eine Psychose oder psychotische Charakterveränderung
haben, um Juden zu hassen, oder um - wie es der antisemitische Historiker
Treitschke tat - die Juden als Unglück Deutschlands anzusehen oder
um zu fordern, und dies auch schon lange vor Hitler, daß Deutschland
judenrein werden müsse. Kohut sah in der revidierten Ausgabe von 1891
von Moritz Schrebers ursprünglichem Buch von 1858 über Kindererziehung
„Kallipädie“, das von dem Herausgeber Hennig 1891 den neuen Titel
„Das Buch der Erziehung an Leib und Seele“ erhielt, den „Ausdruck eines
verborgenen psychotischen Systems“ (Lothane 1992, S.353). Soviel zu der
globalen Diffamierung des Vaters.
Den nächsten Schritt machte Schatzman, der die Behauptung aufstellte,
daß sowohl die psychotischen „Offenbarungen“ des Sohnes wie auch
die Erziehungsmethoden des Vaters, wie er sie der „Kallipädie“ entnahm,
Vorläufer von Hitlers Antisemitismus und seinem von Haß durchtränkten
„Mein Kampf“ seien, einem Buch, das heutzutage in Deutschland verboten
ist. „Ich bin nicht der einzige", meinte Schatzman, „der eine mögliche
Verbindung zwischen der mikrosozialen Despotie in der Familie Schreber
und [119] der makrosozialen Despotie des Nazi-Deutschland vermutet. Auch
der Romancier und Soziologe Elias Canetti stellt in seiner Abhandlung über
Masse und Macht (1960) ähnliche Überlegungen an“ (Schatzman 1978,
S.141).
Aber Elias Canetti konnte keineswegs so der gleichen Meinung gewesen
sein, weil er weder von der Familie Schreber wußte noch darüber
schrieb. Canetti hat keinen Vergleich zwischen Moritz Schreber und Hitler
gemacht, Canetti hat nur Paul Schreber und Hitler verglichen! Doch es stört
Schatzman nicht, im gleichen Atemzug hinzuzufügen: „Er (Canetti) erwähnt
Schrebers Vater nicht; lediglich auf Grund der Denkwürdigkeiten weist
er auf den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hin. Über die
Auffassung des Sohnes über Gottes Machtsystem stellt er (Canetti)
fest: 'Wir werden bei Schreber ein politisches System
von beunruhigender Vertrautheit finden'" (Canetti 1960, S.511, Schatzman
1978, S.141).
Welche „Fesstellung“ ist das? Offensichtlich hat Schatzman jeden Anspruch
auf eine konsistente Darstellung über Bord gehen lassen. Freilich
hat Canetti den Vater nicht erwähnt, aber darum die „Denkwürdigkeiten“
als „Ausgangsdaten“ zu verwenden, gleicht der Logik des Wolfes, der die
flußabwärts trinkenden Schafe anklagte, das Wasser zu verschmutzen.
Schatzman zitiert Canetti in folgender Weise:
„Und wiederum mit Blick auf die Offenbarungen des Sohnes sagt Canetti:
'Man wird nicht leugnen können, daß sein (Schrebers, des Sohnes
- Morton Schatzman, Z. L.) politisches System es einige Jahrzehnte später
zu hohen Ehren gebracht hat. Es wurde in etwas roher und weniger 'gebildeter'
Fassung zum Credo eines großen Volkes. Es hat ... zur Eroberung des
europäischen Kontinents und um ein Haar bis zur Weltherrschaft geführt.
Schrebers Ansprüche sind damit von seinen ahnungslosen Jüngern
nachträglich anerkannt worden. Von uns läßt sich dasselbe
nicht gut erwarten. Wohl aber soll die unwiderlegbare Tatsache einer weitgehenden
Koinzidenz der beiden Systeme als Rechtfertigung dafür dienen, daß
hier aus einem einzigen Fall von Paranoia so viel Wesens gemacht wird'"
(Canetti 1960, S.515, Schatzman 1978, S.141f).
Aber der arme, unschuldige Paul Schreber hat kein politisches Machtsystem
beschrieben, sondern nur die Macht seiner Psychiater und des Entmündigungsgesetzes,
wodurch er auf dem Sonnenstein gegen seinen [120] erklärten Willen
festgehalten wurde. Es gibt also keine Koinzidenz und die angebliche Paranoia
eines Individuums hat keinen Erklärungswert für die Massenparanoia
des Nationalsozialismus (s. Rauschning 1938). Man mag nun Paul Schreber
und seine „Denkwürdigkeiten“ als schiere Verrücktheit ansehen,
obwohl das nicht richtig ist, aber die Behauptung, Schreber habe ein politisches
System zur Eroberung der Welt gehabt oder die Nazis seien seine unwissenden
Schüler gewesen, ist noch wesentlich verrückter. Warum nicht
dann auch behaupten, daß die „Denkwürdigkeiten“, von denen nur
wenige die Vernichtung durch ein Famlienmitglied überlebten, regelmäßig
an die Naziführer zusammen mit „Mein Kampf“ verteilt wurden? Und was
den Vater angeht sagt Schatzman warnend: „Wir erinnernuns: Hitler und seinesgleichen
wuchsen in einer Zeit auf, als Dr. Schrebers den Familientotalitarismus
predigende Bücher populär waren“ (Schatzman 1978, S.141).
Zum ersten ist die Anwendung des Ausdruckes Totalitarismus auf Schrebers
Familie, wie negativ man auch immer über Moritz Schreber denken will,
eine Verleumdung und Verunglimpfung, wenn man das politische Phänomen
des Totalitarismus ernst nimmt. Zum zweiten wurde Hitler 1889 geboren und
wuchs in dem kleinen österreichischen Ort Braunau, in der Nähe
von Salzburg, auf, wo Schreber wohl kaum bekannt gewesen sein dürfte.
Zum dritten waren Schrebers Bücher über Erziehung, in denen er
sich gegen die körperliche Züchtigung von Jugendlichen wandte,
am Ende des Jahrhunderts vergessen, während die Generation, die um
1910 und später geboren wurde, die Söhne der geschlagenen Väter,
die aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen, in einer Atmosphäre
deutlich erhöhter körperlicher Gewalttätigkeit aufwuchsen (Hävernick 1964). Es ist diese Generation, die im Geiste eines Nazi-Militarismus
und einer Nazi-Ideologie aufwuchs, die zusammen mit der früheren Generation
von Hitler und der Parteihierarchie die Grundlagen für die Nazityrannei
legte.
In bezug auf den Vater Schreber behauptet Schatzman weiter: „In Hitlers
„Mein Kampf“ gibt es viele Stellen, die den Ansichten Dr. Schrebers gleichen.
Wie Dr. Schreber verabscheut Hitler das, was er als Schwäche, Faulheit,
Weichlichkeit und Trägheit bezeichnet ... Hitlers Haltung gegenüber
den „Massen“ gleicht den offensichtlichen Gefühlen Dr. Schrebers gegenüber
Kindern, sie ist jedoch viel zynischer: „Die Psyche der breiten Masse ist
nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache. Gleich dem Weibe,
[121] dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter
Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen
Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem
Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse
mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr
befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch
die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur
wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit
ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein,
wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt
sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht
sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten
Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt.“ (Schatzman 197`8,
S.142).
Wieder dieser empörende Vergleich zwischen Schreber und Hitler.
Die historische Wahrheit ist, daß Weichheit ebenso von dem großen
medizinischen Vorgänger von Moritz Schreber, dem aufgeklärten
preußischen Arzt C. W. Hufeland „verabscheut“ wurde (Lothane 1992).
Doch können wir ebensowenig Hufeland für den deutschen Militarismus
der Wilhelminischen Epoche, der zum Ersten Weltkrieg beitrug, oder für
den Militarismus des Dritten Reiches, der zum Zweiten Weltkrieg führte,
verantwortlich machen, wie Moritz Schreber, einen Antimilitaristen, der
den Regierungen empfahl, weniger Geld für Munition auszugeben und
mehr für Schulen. Diesmal überlasse ich es der Wahl des Lesers,
die Worte zu finden, die einen solchen Vergleich von den integeren Schriften
von Moritz Schreber und seinem Sohn mit den haßerfüllten Botschaften
Hitlers, die zur Zeit in Deutschland verboten sind, charakterisieren könnten.
Der Vorgänger von Schatzman in der Schreber-Forschung Niederland
ging auf dieser Linie noch einen Schritt weiter, wobei er wohl mehr Kohut
als Schatzman folgte. Aufgebracht durch die Tatsache, daß Schatzmans
Buch in nur einem Jahr ein Bestseller wurde, was ihn sehr schmerzte, rediagnostizierte
Niederland (1974) Paul Schreber als eine paranoide Persönlichkeit.
Doch hatte er keinerlei klinische Basis für eine solche Diagnose.
Zum Vater sagte er dies: „Mit dem missionarischen Eifer des Reformers scheint
er (Moritz Schreber) diese ursprünglich auf orthopädische Methoden
begrenzten Ideen zu einem allgemeinen System der Körperertüchtigung
ausgeweitet zu haben, als sein Mittel zur Förderung der [122] Gesundheit
durch die landesweite Übernahme solcher Übungen. Seinen hygienisch-therapeutischen
Prinzipien fügte er noch weitere Ideen über Disziplin, Moral
und Religion hinzu und fügte dies alles zu einem reglementierten Erziehungssystem
für Eltern und Lehrer zusammen, so daß daraus eine praktische
Lebensanweisung wurde. Es überrascht vielleicht nicht, daß Schrebers
Biograph Ritter, der sowohl Schreber wie auch Hitler bewunderte, im ersteren
eine Art geistiger Vorläufer des Nazismus sah“ (Niederland 1974, S.65).
Hier wimmelt es wieder von beziehungsreichen Beiworten und ausschweifenden
Generalisierungen - missionarischer Eifer, allgemeines System, landesweite
Annahme, reglementiertes System - worin sich eine übertreibende und
verzerrende Rezeption von Moritz Schrebers Werken spiegelt, die ich in
meinem Buch in einer historischen Weise würdige (Lothane 1992). Tatsache
ist, daß Moritz Schrebers konservative (nicht operative) orthopädischen
Methoden spezifische orthopädische Probleme betrafen, während
seine Ideen über Körperhaltung und Körperübung noch
heute Gültigkeit haben und eine Grundlage für moderne Rehabilitationsmedizin
bilden (Brauchle 1971, Lothane 1994e). [123]
Zudem waren, wie oben angemerkt, seine Erziehungsmethoden und seine
Schriften, die zum großen Teil ausgesprochen menschlich waren und
milder als jene anderen, die unter die Rubrik der Schwarzen Pädagogik
fielen, in Deutschland nicht weit verbreitet oder weithin angenommen. Sie
wurden am Ende des Jahrhunderts vergessen, wie dies Alfons Ritter dokumentiert
hat. Entgegen den Angaben von Niederland hat Ritter nichts über die
Erziehungsmethoden von Schreber und die Erziehung im Nazi-Staat gesagt,
noch hat er gesagt, daß Moritz Schreber ein Vorläufer der Nazis
gewesen sei: Lediglich im Vorwort seiner Doktorarbeit von 1935/36 hatte
Ritter eine Verbindung zwischen dem Naziideal von Blut und Boden mit den
Schrebergärten hergestellt, die tatsächlich von ihm nicht gegründet
wurden und nur nach seinem Tod nach ihm den Namen erhielten. Ritter tat
nicht mehr, als der herrschenden Ideologie der Nazi-Partei seine Referenz
zu erweisen, die zu dieser Zeit die Universitäten kontrollierte und
eine solche Referenz verlangte. [124]
Zusammenfassung
Die Geschichte von Unmenschlichkeit von Menschen gegenüber Menschen
ist so lang wie die Geschichte der Menschheit selbst und besteht noch heute
fort; und wir haben es noch mehr als früher nötig, aus der Geschichte
moralische Lehren zu ziehen. Es ist aber auch eine Erfahrung, die soweit
reicht wie die Geschichte selbst, da solche Lehren immer ignoriert
werden.
Die Schrebers, Vater und Sohn, kamen aus einer an der Bibel orientierten
Tradition eines deutschen Pietismus und den humanistischen Ideen Immanuel
Kants u. a., wobei jeder in seiner Weise den Anspruch hatte, ein Lehrer
der Menschheit zu sein. Sie waren nicht vollkommen, aber sie waren integer.
Von den beiden war der Sohn noch tiefschürfender als der Vater, denn
er verstand die befreiende Macht der Wahrheit und die rohe brutale Gewalt
der Unterdrückung besser, da er beides am eigenen Leibe erfahren hatte.
Sein Buch war ein Werk der Selbstrechtfertigung und Befreiung und eine
Botschaft über die Bewahrung der individuellen Freiheit gegenüber
den Ansprüchen totalitärer Macht sowohl für seine Zeit wie
auch für die Zukunft.
Es ist ein alter jüdischer Glaube, daß der, der eine Seele
rettet, die ganze Welt rettet und die Ankunft des Messias näher bringt.
Darin ist die Mahnung an den Einzelnen ausgedrückt, Unrecht auch als
Unrecht zu benennen. Das ist der Grund, weshalb ich meine Energie dafür
eingesetzt habe, die falschen Mythen zu zerstören, die um die Schrebers
geschaffen wurden, um dadurch ihren guten Namen wiederherzustellen.
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Originaly published in 1934, in Amsterdam by Querido.
Prof. Dr. Zvi Lothane
1435 Lexington Avenue
New York, N.J. 10128
USA
e-mail:
Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 36, 1/1996: 108-127.
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