Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik


ERINNERN, WIEDERHOLEN, DURCHARBEITEN

Am 12. April 1997 war das Sigmund Freud-Museum in der Berggasse Schauplatz einer gut besuchten Tagung anläßlich des 20-jährigen Bestehens des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft sowie einer Buch-Neuerscheinung: Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. (Karl Fallend/Bernd Nitzschke (Hg.), Suhrkamp Verlag). Die Autorinnen und Autoren stellten sich und ihre Arbeit vor und einer Diskussion. So auch Helmut Dahmer, der uns seinen Tagungsbeitrag zur Verfügung stellte.
 

WILHELM REICH IN DER GESCHICHTE DER PSYCHOANALYSE

HELMUT DAHMER

Die von Wilhelm Reich (vor allem in den Jahren 1927-1937) entwickelten Theorien, die ihn schließlich aus der "Psychologie" überhaupt hinausführten,1 habe ich im Hinblick auf die Freudsche Aufklärung diskutiert.2 Der revolutionäre Arzt ersann anstelle der "talking cure" mit ungewissem Ausgang eine " Technik" - die "Charakteranalyse" -, die es ihm ermöglichen sollte, Neurosepatienten in kurzer Frist zu der ("naturgegebenen") Endstufe ihrer libidinösen Entwicklung, zur "Genitalität" zu führen. Die von "prägenitalen Beimischungen" gereinigte Genitalität erschien ihm als eine wahre Panazee zur Heilung von Individuum und Gesellschaft, als Garant des individuellen Glücks und als Triebfeder der Sozialrevolution. Dies aber ist heute nicht mein Thema.
Zu dem hier vorgestellten Band, der der Aufklärung des "Falles" Reich dient,3 habe ich eine Kritik an einem ersten Versuch zu einer Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland - in den Jahren 1933-19514 - beigesteuert.5 Diese "Geschichte" erscheint mir als ein typisches Produkt des psychoanalytischen Psychologismus, der (unbeschadet der Kritik Otto Fenichels6) infolge der Abkapselung der mainstream-Psychoanalyse von den übrigen Sozialwissenschaften zur charakteristischen Ideologie der meisten psychoanalytischen Autoren geworden ist. Was die Autorin zu ihrer aufwendigen Rekonstruktion veranlaßt hat, ist die beunruhigende Frage, welche Folgen die Vertreibung der Mehrheit der deutschen und österreichischen Psychoanalytiker aus ihren Bildungszentren Berlin und Wien durch die Nationalsozialisten für die psychoanalytischen Organisationen, für das Selbstverständnis der Psychoanalytiker und für die Weiterentwicklung ihrer Theorien hatte. Die Antwort auf diese Frage stand freilich für die Verfasserin der "Geschichte", die über ein größeres Material verfügte als andere Autoren, die sich bisher mit den Schicksalen der Psychoanalyse in Deutschland beschäftigt haben, von vornherein fest: "Die Psychoanalyse habe (jedenfalls als Organisation) die Geschichte der dreißiger und vierziger Jahre überlebt, wenn auch von "Gravuren" (Lockot, S.9) gezeichnet.
Um zu dieser überaus schlichten Anwort auf eine überaus interessante Frage zu kommen und diese Antwort auch in der Konfrontation mit den "Quellen" durchzuhalten, bedurfte es eines bestimmten Interpretationsrahmens, dessen Konstituentien ich kurz charakterisieren möchte:

- Die Geschichte der psychoanalytischen Intellektuellen-Organisation wird nicht als eine besondere Konfiguration der Sozialgeschichte der dreißiger und vierziger Jahre verstanden - also als deren Mikrokosmos -, sondern "aus sich selbst", wobei die Zeitgeschichte nur mehr den unscharf gehaltenen Hintergrund der Vereinsgeschichte abgibt. In den bibliographischen Angaben zu dieser Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland sucht man daher vergeblich nach zeitgeschichtlichen Darstellungen.
- Jeder Vergleich mit den Schicksalen anderer, nicht-psychoanalytischer Intellektuellengruppierungen der dreißiger und vierziger Jahre unterbleibt.
- Das von den main-stream-Psychoanalytikern und Verbandsfunktionären entwickelte Selbstverständnis, ihre Rechtfertigungsideologien und ihre "Geschichtsschreibung" in eigener Sache werden im wesentlichen akzeptiert. "Heterodoxe" Quellen (ob Reich, ob Fenichel...) werden prinzipiell nicht berücksichtigt. Ebenso wenig aktuelle Kontroversen um die Geschichte der Psychoanalyse (S.12).
- Eine Auseinandersetzung mit der in den dreißiger und vierziger Jahren produzierten psychoanalytischen Literatur fehlt. Das heißt: Die Geschichte eines internationalen Intellektuellenvereins wird ohne Berücksichtigung der von ihnen entwickelten Theorien geschrieben. Die Frage nach der Prägung dieser Theorien durch die geschichtlichen Erfahrungen der Theoretiker kann darum nicht einmal aufgeworfen werden.
- Die Autorin ist ängstlich besorgt, ein eigenes Urteil über die von ihr geschilderten Personen und Handlungen zu vermeiden. Darum möchte sie die Dokumente - die freilich von ihr ausgewählt und in etwa 400 Zitate zerlegt worden sind, die sie dann wieder zu einer "Geschichte" montierte - für sich selbst sprechen lassen (S.11), die Psychoanalyse-Geschichte sich selber schreiben lassen (S.20), nach Möglichkeit hinter all' den Zitaten verschwinden...

Die eigentümliche Konstruktion dieser ersten Geschichte der Psychoanalysen in Deutschland verdankt sich der Vereinsloyalität ihrer Autorin. Was immer die Dokumente "sagen" mögen: die apologetische Tendenz geht darüber hinweg. Der seltsame Titel des Buches (das Bruchstück eines Zitats aus einem Brief Freuds an Max Eitingon) verrät es: Hier ging es wirklich um eine Art "Reinigung" der Psychoanalyse, um den Versuch, sie vor der Geschichte zu retten, vor einer Geschichte, die auch eine Verfallsgeschichte der Freudschen Psychoanalyse ist.
Der (stillschweigende) Ausschluß Wilhelm Reichs aus der ("arisierten") DPG im Jahre 1933, der 1934, auf dem 13. Internationalen Kongreß der Psychoanalytiker in Luzern, von der IPV sanktioniert wurde, wirft ein Schlaglicht auf die Verfassung der psychoanalytischen Organisationen in den dreißiger Jahren und bietet einen Schlüssel zum Verständnis ihrer späteren Schicksale. Wir wissen heute, was Reich nicht wußte, daß nämlich Freud selbst seit Januar 1932 auf den Ausschluß dieses "bolschewistischen" Störenfrieds hinarbeitete, weil er fürchtete, sein Lebenswerk, die organisierte Psychoanalyse, werde, sofern sie als antifaschistische Bürgerkriegspartei aufträte, vernichtet werden, und weil er hoffte, sie könne, politisch neutralisiert ("fleischfarben"), eventuell überleben. Diese Weichenstellung hat die Psychoanalyse in Deutschland und Osterreich nicht vor "Arisierung" und "Gleichschaltung" bewahrt. Aber sie ist zu einem "essential" der psychoanalytischen Verbandstradition geworden. "Orthodoxie" schließt seither den antisoziologischen Psychologismus in der Theorie und das Jasagen zum politischen und kulturellen Status quo in der Praxis ein.
In der "Reinigung der Psychoanalyse" wird der Ausschluß Reichs einfach ausgespart. Die Autorin muß darum dazu auch nicht Stellung nehmen. Was für ihr Buch im ganzen gilt, bestätigt sich auch hier: Sie hat alle Materialien in der Hand, die es ihr ermöglichen würden, die Frage nach dem Hergang und der Bedeutung des Ausschlusses von Reich aus den Reihen der Freudianer zu beantworten. Und sie verzichtet darum auf die Reproduktion der immer wieder erneuerten, alten Verbandslegende, ein Ausschluß Reichs habe gar nicht stattgefunden, dieser sei vielmehr "freiwillig ausgetreten". Doch sie versagt sich ein eigenes Urteil, das sie mit ihrer Verbandsloyalität nicht in Einklang zu bringen wüßte.
Der erste Versuch, eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland (in den Jahren 1933-1951) zu schreiben, ist mißlungen; das Buch von Lockot ist nur ein "Steinbruch", eine problematische Materialsammlung. Wir brauchen aber eine Geschichte der Psychoanalyse in ihrem sozialen Kontext, eine Geschichte der Verbandstreuen und ihrer Opponenten der Orthodoxen und der Dissidenten dieser den Verfall der Freudschen Aufklärung, ihre Entpolitisierung, das heißt: ihre Reduktion auf eine Psychotechnik, verständlich macht.

Anmerkungen:

1 Reich, W. (1994): Jenseits der Psychologie; Briefe und Tagebücher 1934-1939, Köln 1996.
2 Libido und Gesellschaft, Frankfurt (Suhrkamp) 1973 (2. erw. Aufl. 1982).
3 Fallend, K. und B. Nitzschke (1997): Der 'Fall' Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt (Suhrkamp).
4 Lockot, R. (1994): Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933-1951). Tübingen (edition discord).
5  "Psychoanalytiker in Deutschland 1933-1951. Ein unglückseliger Verein und eine Geschichte, die sich nicht selber schreibt." In: Fallend und Nitzschke (Hg.): (1996} aaO. (vgl. Anm. 3), S 167-189.
6 Fenichel, 0. ( 1953/54): Aufsätze, Bd.1 und II, hg. von K. Laermann. Olten und Freiburg i. Br. 1979 und 1981.