Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik


Ludwig Janus arbeitet als niedergelassener Psychoanalytiker (DPG) in Heidelberg. 1981 - 1987 ist er Leiter des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim. Dozent und Lehranalytiker an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten in Heidelberg, Frankfurt und Saarbrücken. Präsident der 1971 von den Psychoanalytikern Caruso, Graber und Rascovsky gegründeten Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM). Seit 1986 jährliche Tagungen zur Pränatalen Psychologie und Psychohistorie in Heidelberg. Vom 1. - 2.11.1997 organisiert er in Heidelberg eine Tagung zum Thema "Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse".
 

Die Stellung Otto Ranks im Prozeß der psychoanalytischen Forschung

Ludwig Janus


Einleitung

Zur Bestimmung der Stellung Otto Ranks im Forschungsprozeß der Psychoanalyse liegen einige Vorarbeiten vor,* doch kann eine wirkliche Aufarbeitung der Bedeutung Ranks im Forschungsprozeß der Psychoanalyse und eine Würdigung seines Beitrages erst eine Aufgabe der Zukunft sein, insofern sie eine Aufhebung der zur Zeit noch voll bestehenden Verleugnung seines Werkes und die dadurch gegebene reale Unkenntnis seiner Schriften voraussetzt. Doch kann man einen gewissen Überblick versuchen, Entwicklungslinien feststellen und gewisse Rahmenvorstellungen entwickeln. Dies soll das Thema meines Beitrages sein. Dabei ergeben sich verschiedene Perspektiven, zum einen seine Funktion und Stellung in der Gruppe der frühen Psychoanalytiker, sein Einfluß auf einzelne Personen und theoretische Positionen und die manifeste oder latente Wirkung auf die Forschungsentwicklung in der Psychoanalyse.

Ranks Stellung in der frühen psychoanalytischen Gruppe und seine Beziehung zu Freud.

Für die Entwicklung Ranks ist es bedeutsam, daß er sich in seinem Tagebuch ein selbstständiges Denken soweit erarbeitet hatte, daß er in der Lage war, seine Rezeption Freuds in einer Arbeit zum psychoanalytischen Verständnis der Kreativität des Künstlers zu verarbeiten. Mit diesem Manuskript führte er sich bei Freud ein und gewann dessen Interesse. Veröffentlicht wurde es unter dem Titel "Der Künstler" (1907). In diesem Sinne konnte er im Vorwort seines Hauptwerkes "Art and Artist" (1932) feststellen, daß er mit diesem Buch wieder ein Thema aufgriff und fortsetzte, das sein Denken seit seiner Jugendzeit beschäftigt hatte. Ranks innere Entwicklung war nämlich wesentlich durch sein Interesse für Theater und Literatur bestimmt. Darum war die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften auch seine Domäne. Seine intellektuelle Begabung und Eigenständigkeit führten dazu, daß er sich neben seiner Tätigkeit als Sekretär Freuds und Protokollant der Mittwochsgesellschaft rasch vom Schüler zum Mitarbeiter und zum Mitherausgeber der Zeitschriften entwickelte. Darüberhinaus war er später noch Leiter des Psychoanalytischen Verlages. Durch seine enge Beziehung zu Freud und seine Beiträge zur Psychoanalyse war er ganz selbstverständlich auch Mitglied des nach dem Ausscheiden von Adler und Jung gegründeten Komitees. Auch die Rundbriefe dieses Komitees wurden von ihm verfaßt. Auf diesem Hintergrund der Doppelfunktion als Sekretär einerseits und Mitarbeiter und Mitherausgeber der Zeitschriften andererseits, befand er sich in beständigem Austausch mit Freud. So griffen die Arbeiten dieser Zeit Fragestellungen Freuds auf, waren einerseits ein ergänzendes Zuarbeiten, aber doch gleichzeitig auch Fortführung der mit der Zentrierung auf die Kreativität im Künstler gesetzten eigenen Linie. So entstand die Arbeit "Der Mythos von der Geburt des Helden" unmittelbar auf Anregung Freuds, war aber gleichzeitig sowohl in der souveränen analytischen Verarbeitung von mythologischem Material wie auch in der breiten Ausarbeitung des klinischen Materials der Geburtsträume eine eigenständige Leistung, was ganz besonders für die Konstruktion der "Durchschnittssage" des Helden gilt, die eine implizite Neubewertung des Ödipuskomplexes bedeutete, was jedoch damals nicht erkannt wurde. Ich komme später darauf zurück. Zunächst fühlte sich Rank noch in völliger Übereinstimmung mit Freud und lieferte mit dem Nachweis der ödipalen Konstellation und des Inzestmotivs in Dichtung und Sage (1912) gewissermaßen einen geisteswissenschaftlichen Beweis für die Richtigkeit von Freuds klinischen Beobachtungen. Auch hier dokumentiert der Untertitel "Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens" die Fortsetzung seines im Künstler artikulierten Interesses. Mit dem mit Hanns Sachs gemeinsam veröffentlichten Buch "Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften" (1913) dokumentierte Rank seine führende Position in der damaligen psychoanalytischen Gruppe in diesem Bereich. Daß seine Arbeiten in der späteren Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse dichterischen Schaffens und kulturpsychologischer Interpretation nicht in der seiner damaligen Bedeutung in der psychoanalytischen Gruppe angemessenen Weise gewürdigt werden und ein Bezugspunkt der Tradition sind, hängt mit der Verleugnung seines Werkes im Gefolge der Gruppenauseinandersetzung um "Das Trauma der Geburt" (1924) zusammen. Die theoretische und systematische Würdigung seines Beitrages scheint mir erst nach einer Aufarbeitung des genannten Konfliktes möglich. Es ist nämlich so, daß Rank sich mit dem Inhalt von Freuds mehr anekdotisch gemeinter Aussage über den Ursprung der Angst in der Geburtsangst immer weiter beschäftigt hat, wie es etwa in seiner Arbeit zur Lohengrinsage zum Ausdruck kommt, wo es auch um das Herkommen und die Geburt geht. Eine Untersuchungsebene, auf der das Geburtsthema in einer metaphorischen Ebene verhandelt werden konnte, war die Diskussion über die sogenannten "Rettungsphantasien", wo es offenbar einen sehr engen Austausch zwischen Freud und Rank gab. Freud hatte dieses Motiv als eine Art Wiedergutmachung für die Errettung aus der Geburtsnot aufgefaßt (Freud 1910, S. 75). Rank hatte dieses Thema dann in einem eigenen Aufsatz "Belege zur Rettungsphantasie" (1911) systematisiert und vertieft. Eine wichtige Funktion Ranks war die bibliographische Aktualisierung bei den Neuauflagen der Traumdeutung. Die Anerkennung seiner geisteswissenschaftlichen Kompetenz dokumentierte sich in den in "Die Traumdeutung" integrierten Beiträgen "Traum und Dichtung" und "Traum und Mythus". In einem "Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1914 - 1919" in einem Beiheft der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse übernahm Rank (1921) das Kapitel "Traumdeutung". Die bewußte Abkehr von Freuds Axiomen der ätiologischen Priorität der ödipalen Konstellation für die Neurosenentstehung und der Prädisposition der Kastrationsangst aus dem Mord am Urzeitvater vollzog sich aufgrund von Erfahrungen mit der Wiederholung von Geburtsphantasien am Ende von Behandlungen, wie er dies im Einleitungskapitel vom "Trauma der Geburt" schildert. Die starke innere Gebundenheit an Freud könnte die Ursache sein, daß Rank seine zunehmende innere Differenz zu Freud lange nicht wirklich bewußt geworden ist. Diese Bewußtwerdung geschieht gewissermaßen in dem kreativen Akt, in dem er in wenigen Wochen das Manuskript des Buches diktiert. Vorbereitend waren sicher die wenig vorher gemeinsam mit Ferenczi verfaßten "Entwicklungsziele der Psychoanalyse" (1924), in denen hervorgehoben wird, daß die Dynamik der analytischen Situation wesentlich durch primär unbewußt gebliebene Beziehungswünsche bestimmt ist, die faktisch aus der frühen "präödipalen" Eltern- und Mutterbeziehung stammen. Die kulturpsychologische Ablösung scheint sich mir in der Schrift "Die Don Juan Gestalt" (1922) anzubahnen, wo er sehr lange bei den maternalen Verschlingungs- und Zerstückelungsaspekten des "steinernen Gastes" verbleibt, und dann die alleinige Rückführung auf den Urzeitvater aus "Totem und Tabu" recht gezwungen erscheint. Die Veränderung seiner behandlungspraktischen Sicht bahnt sich in seiner Arbeit "Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang" (1923) an.

Exkurs zu C. G. Jung

Während der Austausch mit Freud kontinuierlich und intensiv war, erfolgte der Einfluß Ranks auf Jung über einen wesentlich größeren Abstand hin, war aber vielleicht tiefgreifender, insofern Rank mit dem "Mythos von der Geburt des Helden", der die Bedeutung der Mutter und der Geburt in der Geschichte des Helden thematisierte, zentrale Bereiche von Jungs Denken und Interesse berührte (z. B. Jung 1912, S. 223 u. 307). In ähnlichem Sinn wie Jung in den "Wandlungen und Symbole der Libido" (1912) hatte Rank im Künstler ein erweitertes Konzept der Libido im Sinne einer "Urlibido" vertreten. Jung nimmt in den "Wandlungen" auch mehrfach Bezug auf Rank. Mit Recht wohl wendet Rank in seiner literarischen Autobiographie (1930) ein, daß Jung zwar eine symbolische Konzeption der Psychodynamik des Helden und seiner Mutterablösung gegeben habe, aber "only from a collective ideology and not from the individual's own will (which I did later)" (Rank 1930, S. 2). Mein Eindruck ist auch, daß Jung die spätere Entwicklung Ranks, die mit dem "Trauma der Geburt" beginnt, nicht mehr nachvollzogen hat. Dafür spricht auch, daß er die von der pränatalen Beziehungsebene ausgehende Übertragungsdynamik nur auf der projektiven Folie der alchemistischen Bilderwelt beschreiben konnte. Überzeugend konnte später Fabricius (1989) zeigen, wie sich diese Bilderwelt der Alchemie aus der projektiven Gestaltung kreatürlicher pränataler Erfahrung aufbaut.

Die Entwicklungsziele der Psychoanalyse

Diese Schrift wurde 1922 von Ferenczi und Rank gemeinsam verfaßt und auch im einzelnen mit Freud besprochen. Das entscheidende zweite Kapitel "Die analytische Situation" stammt ganz von Rank und betont den Erlebnisaspekt in der analytischen Situation. Im wesentlichen gehe es in der Behandlung um Aktualisierung von vorsprachlichen, letztlich aus der Mutterbeziehung stammenden Inhalten. Es gehe also primär nicht um ein Erinnern, sondern um ein Wiederholen und zu Ende erleben. Diese Schrift wurde mit einer gewissen Reserve aufgenommen, weil man eine Einseitigkeit befürchtete. Damals dominierte noch ganz das Primat des Deutens, wie es sich auch noch in den technischen Schriften von Rangell und Greenson oder von Argelander und Thomä niederschlägt. Schrittweise wurde diese Einstellung durch das Wiederaufnehmen des Gegenübertragungsaspektes und des Objektbeziehungsaspektes relativiert. Darum gewinnt die lange vergessene Schrift auch wieder erneutes Interesse und wurde in englisch und in deutsch auch kürzlich wieder neu aufgelegt.

Der Durchbruch mit dem "Trauma der Geburt"

Die "Entwicklungsziele" artikulierten die Behandlungsprobleme wesentlich noch am ödipalen Konflikt und die Differenzen zum klassischen Konzept schienen begrenzt zu sein. Mit dem "Trauma der Geburt" vollzieht Rank einen systematischen Wechsel von der ödipalen- und Vaterebene zum Thema der Psychodynamik der Geburtserfahrung und der vorsprachlichen Mutterbeziehung. Hatte Freud dieses Buch zunächst begrüßt, so mußte er sich wegen seiner Ausblendung der negativen Mutter zwangsläufig auf die Dauer distanzieren. Die einzelnen Stadien dieses Auseinandersetzungsprozesses sind von Lieberman (1997) eingehend geschildert worden. War Freuds Reaktion moderat und um einen Kompromiß bemüht, so bewirkte das Buch Ranks in der weiteren analytischen Gruppe eine Erschütterung und Verunsicherung, die mit der Abwehrdynamik der Ausgrenzung und Verleugnung bewältigt wurde.  Für Männer der damaligen Zeit war eine Thematisierung der Mutterbeziehung in der vorsprachlichen Dimension, wie Rank sie vollzog, eine unverarbeitbare Infragestellung der Abwehr. Aufgrund des damals oft uneinfühlsamen Umgangs mit Schwangerschaft und Geburt und Säuglingszeit waren die Menschen weithin in ihren frühen Erfahrungen entfremdet. Dirigistisches Nahrungsregime, Isolierung von Mutter und Kind nach der Geburt oder Durchschreienlassen, waren selbstverständliche Maxime. Neugeborene galten als blind, taub und schmerzunempfindlich. Sogar ein Mann wie René Spitz ging noch von einem absoluten Reizschutz in den ersten Tagen aus. Erst in den letzten 20 Jahren gibt es die moderne Schwangerschafts- und Geburtsbewegung und erst in den allerletzten Jahren eine durch die sogenannte Säuglingsforschung legitimierte breite Zuwendung zum vorsprachlichen Kind auf einem wissenschaftlichen Niveau. Rank konnte durch die jahrelange Zusammenarbeit mit Freud und die Diskussionen in der psychoanalytischen Gruppe Tiefenschichten des Erlebens formulieren, die erst Jahrzehnte später dissoziiert in den verschiedenen Narzißmustheorien einerseits und in den diversen Erlebnistherapien andererseits zugänglich gemacht wurden. Aufgrund seiner souveränen psychoanalytischen Kompetenz war es ihm möglich, trotz der Anfeindungen und Widerstände in systematischer Weise seine Vorstellungen in den drei Bänden seiner "Technik der Psychoanalyse" (1926, 1929 a, 1931) zu entwickeln, wie ebenso mit seiner "Genetischen Psychologie" (1927) eine Entwicklungs- und Objektbeziehungspsychologie als einer Voraussetzung einer neuen Praxis analytischer Psychotherapie vorzulegen. Parallel erschloß er mit "Seelenglaube und Psychologie" (1930) den kulturpsychologischen Hintergrund des heutigen Identitätsgefühls und konkretisierte dies in einer Theorie der Technik in "Wahrheit und Wirklichkeit" (1929 b). Dieses umfängliche Werk war in den 30iger Jahren den deutschsprachigen Analytikern zugänglich, erschien im vertrauten Verlag Deuticke in Leipzig und Wien, und war, wie ich annehme, den Interessierteren auch bekannt. Dies gilt auch für England, wo eine erste Übersetzung vom Trauma der Geburt 1929 erschien und eine zweite direkt vom Londoner Psychoanalytischen Institut, wie Anna Freud in den Freud-Klein Controverseries erwähnt (King 1991, S. 100). Die Kenntnis Ranks in der Londoner Gruppe wird auch aus Winnicotts Artikel "Birth Memories, Birth Trauma and Anxiety" (1949) deutlich. In den USA war eine Reihe der frühen Schriften und der Behandlungstechnik in Übersetzungen zugänglich (Rank 1935, 1959). Rank wurde wegen seines Konfliktes mit Freud nicht mehr zitiert, was aber nicht heißen muß, daß er nicht gelesen wurde. Die damaligen Gruppen waren jedoch so abhängig von ihren Leitfiguren, daß es jenseits der Gruppenloyalität keine Diskussion gab. Ein Beispiel für die Ambivalenz der Aufnahme von Ranks Positionen sei Marie Bonaparte in ihrer Studie über Poe. Mit großer Zustimmung verwendet sie Gedanken der frühen Schriften Ranks an vielen Stellen, aber auch aus dem Trauma der Geburt, z. B. zur Interpretation von "Wassergrube und Pendel" um jedoch gleich auf der nächsten Seite, um Übereinstimmung mit Freud herzustellen, wie dieser, Ranks Theorie als "kühn, aber allzu einfach" auszugrenzen (Bonaparte 1934 a, S. 254 f.). Aus der gleichen Kalamität zitiert sie an anderer Stelle zu einer Deutungsfigur, die eigentlich Rank folgt, isolierte bestätigende Stellen aus Freuds "Hemmung, Symptom und Angst" (Bonaparte 1934 b, S. 413). Diese Ambivalenz und nicht wirkliche Nutzung der Einsichten Ranks hatte bei Marie Bonaparte vielleicht sogar die tragische Konsequenz, daß sie in der endlosen Analyse bei Freud, der mit geradezu hellseherischem Spürsinn sexuelle Traumatisierungen erkannte, offenbar an dem eigentlichen Trauma der schweren Geburt, bei der die Mutter starb, vorbeiging und, wie Roudinesco (1994, S. 314) schreibt, ihr "totales Grauen vor der Weiblichkeit" nie überwand. Ihr Lebensthema der toten Mutter handelte sie m. E. projektiv an Poes Geschichten unter dem Terminus der "todlebenden Mutter" ab.  Wirksam wurden aber solche Ausgrenzungen erst in der Schülergeneration, die die ungelösten Konflikte der Elterngeneration in ihren Gruppenidentitäten verewigte. Nur Außenseiter wie Clara Thompson (1952) setzten sich über solche Verdikte hinweg. Auch so eigenständige Autoren wie Melanie Klein zitierten Rank nur bis zum Erscheinen vom "Trauma der Geburt". Ihre Thesen über die präödipalen Wurzeln des Überich entwickelt sie "without any reference to me", wie Rank (1930 b, S. 40) lakonisch bemerkt. Meine Vermutung ist also, daß eine implizite Übernahme von Teilen aus dem Werk Ranks stattgefunden hat, aber nur von Teilen, weil der Gesamthorizont der von ihm vorgeschlagenen neuen Sicht damals und auch heute noch nicht in den begrenzteren Zeitkonsens integrierbar ist. Eine solche stückhafte Übernahme von Konzepten Ranks hat Menaker (1982, S. 128) für Kohut meines Erachtens überzeugend nachgewiesen und Leitner (1995) für die Ich-Psychologie.  Das Problem solch stückhafter Übernahmen scheint mir weniger die Prioritätenfrage zu sein, sondern das Zerreißen der Traditionslinien und die Verewigung von historischen Abwehrkonflikten. Daß eine kreative Persönlichkeit wie Kohut Anleihen macht und diese in einem eigenen Konzept einschmilzt, kann produktiv sein. Das Problem sehe ich darin, daß die Kohutsche Narzißmustheorie gerade durch die Dissoziation von ihren Wurzeln in der Tradition die ideologische Abwehr der frühesten Mutterdimension zementiert. Der absolute Erklärungsanspruch der Narzißmustheorie verdeckt ihre Begrenztheit, im Falle Kohuts die Abwehr der frühen Schichten im ersten Lebensjahr, der Geburt und der vorgeburtlichen Zeit, die Rank eben gerade erschlossen hatte. Wenn Kohut sich explizit auf Rank bezogen hätte, wäre die Begrenztheit seines theoretischen Erklärungsmusters sofort evident gewesen. Irreführend ist auch die Reduktion des Konzepts von Rank auf eine weitere Narzißmustheorie, wie Stolorow und Atwood (1976) es durchführen. Damit wird der weitläufigere Erklärungsanspruch von Rank, der weit ins kulturpsychologische hineingeht, in verzerrender Weise verkürzt. Meine Vermutung geht also dahin, daß es mehr implizite Rankrezeption und Tradition gegeben hat, als offengelegt wurde. So ist unbestritten der Ausdruck und das Konzept des Präödipalen von Rank in die Diskussion eingeführt worden, wird aber heute nicht mehr mit seinem Namen verbunden, wie ebenso das Abwehrkonzept der Verleugnung. Rank hat als erster nach Freuds Grundlegungen die analytische Situation als Angelpunkt des analytischen Prozesses in einer systematischen Weise in seinem gleichnamigen Buch beschrieben (Rank 1926). In seiner "Genetischen Psychologie" (1927) hat er eine detaillierte Objektbeziehungstheorie gegeben (Janus 1997). Hierzu nur ein erläuterndes Zitat: "Die eigentliche Ich-Bildung erfolgt aber unter dem Einfluß der Mutter in der Präödipusphase und was wir psychologisch "Ich" nennen, ist nur ein sekundärer Niederschlag der ursprünglichen Beziehung zur Mutter, die ihrerseits von Anfang an als Teil des Ich genommen wird. Das Ich, mit dem wir in der Psychoanalyse arbeiten, ist eine Abstraktion. In Wirklichkeit kann es sich nur im (positiven oder negativen) Verhältnis zum Objekt manifestieren. Erst unter der Berücksichtigung der von mir betonten Mutter-Kind-Beziehung ist eine Genese der Ich-Struktur aus der Objekt- (Libido) Beziehung (Mutter) möglich geworden" (Rank 1927, S. 45). Die Parallelen zu Formulierungen in der Objektbeziehungstheorie und bei Melanie Klein sind bemerkenswert. Möglicherweise führte die Einsicht in die Sache selbst zu so ähnlichen Formulierungen. Doch ist die Aussage von Großkurth, die auch die Ähnlichkeiten zwischen Rank und Melanie Klein betont, Rank habe den Prozeß der Mutterbeziehung nie durch die Entwicklungsphasen des Säuglingsalters verfolgt, wie Melanie Klein es getan habe (Großkurth 1993, S. 161), schlicht falsch. Sie beruht wahrscheinlich darauf, daß Großkurth die "Genetische Psychologie" Ranks nicht kannte, denn dort finden sich ausführliche Passagen zur Beziehungsdynamik zur mütterlichen Brust und zur weiteren Entwicklung. Hier haben die deutschen Psychoanalytiker m. E. eine besondere Verantwortung für die Wahrnehmung der Kontinuität in der Forschungsgeschichte der Psychoanalyse (Janus 1995 c). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß Adler als erster die frühe Mutter in der Psychoanalyse thematisiert hat (Janus 1995 d, 1996).  Es scheint mir nicht sinnvoll, hier die Konzepte Ranks noch einmal zu referieren. Zum einen sind jetzt die Kopien wichtiger Texte über die Otto-Rank-Gesellschaft oder mich zugänglich, zum anderen liegen die Zusammenfassungen von Zottl (1980, 1982) vor, und ebenso von mir zur Behandlungstechnik und zur Kulturpsychologie Ranks (Janus 1995 a, 1995 b). Einzelne Werke Ranks sind im Wiener Verlag Turia und Kant erschienen. Auch H.-J. Wirth vom Gießener Psychosozial Verlag plant die Wiederauflage von Büchern von Rank, im besonderen auch der nach 1924. Wichtig erscheint mir, auf eine andere implizite Folgewirkung von Rank hinzuweisen, und zwar die Revision der Angsttheorie durch Freud in "Hemmung, Symptom und Angst" (1926).

Die Abwehrdynamik in "Hemmung, Symptom und Angst"

Diese Schrift ist eine Auseinandersetzung mit Ranks neuen Ideen im "Trauma der Geburt" und eine Antwort in dem Sinne, daß die Fragen der frühesten Muttererfahrung und der primären Kinderwünsche und Kinderängste zur Zeit noch nicht entscheidbar seien und man sich deshalb produktiver auf die im Ich stattfindenden Abwehrprozesse konzentrieren solle. Damit ist zwar einerseits die Bedeutung der frühen Angstdynamik anerkannt, andererseits aber durch die Beschränkung auf die Analyse der Abwehrdynamik im Ich und das Absehen von der frühen Beziehungsdynamik eine Abwehrkonstruktion gegenüber der von Rank eröffneten frühesten Mutterebene der Beziehung errichtet, die in der Folgezeit bis heute Bestand hatte und dazu führte, daß einerseits die Narzißmustheorien dissoziiert vom Insgesamt der frühen Mutterbeziehung konzeptualisiert wurden und die Objektbeziehungstheorien dissoziiert vom Kontext der klassischen Psychoanalyse. Die Unvereinbarkeit von Objektbeziehungspsychologie und klassischer Triebtheorie wird in der angelsächsischen Literatur geradezu als Paradigma behandelt (z. B. Greenberg 1993).  Rank hat auf "Hemmung, Symptom und Angst" ausführlich geantwortet (Rank 1927). Die Nichtrezeption dieser Antwort ist ein ungutes Beispiel für den exegetischen Umgang mit Freuds Schriften. In einem Reprint habe ich diesen Text wieder zugänglich gemacht (Rank 1994). Durch die Weichenstellung von "Hemmung, Symptom und Angst" kam es indirekt zur Blockierung einer genuinen Erweiterung der Psychoanalyse um eine Objektbeziehungspsychologie, wie sie in den 20iger Jahren bereits möglich war und von Rank auch mit seiner "Genetischen Psychologie" vorgelegt wurde. Danach sind Objektbeziehungspsychologien von anderer Seite eingeführt worden, ohne jede Erwähnung der Darstellung Ranks. Wenn man sich aber mit der Abwehr gegen die "schlechte Mutter" bei Freud in einer integrierteren Weise auseinandersetzen würde, könnten diese Objektbeziehungstheorien in einer viel größeren Kontinuität zum Kontext der klassischen Psychoanalyse stehen. Diese Dissoziation von Selbstpsychologie, Objektbeziehungspsychologie und klassischer Psychoanalyse bringe ich, wie gesagt, damit zusammen, daß diese Dissoziation gerade dazu dient, die basalen Schichten des Unbewußten aus der vorgeburtlichen Zeit und der Geburtserfahrung und der Neugeborenenperiode abzuwehren oder auszugrenzen. Darum sehe ich in der Pränatalen Psychologie auch eine kreative Möglichkeit, die psychoanalytischen Theoriestücke in einer integrierteren Weise zu konzeptualisieren. Die geschilderte Abwehrdynamik in "Hemmung, Symptom und Angst" hat dazu geführt, daß sich die Beschäftigung mit der vorgeburtlichen und geburtlichen Lebenszeit außerhalb der etablierten Psychoanalyse entwickelte (Janus 1989), was nach Initiativen von einzelnen 1971 zu der Gründung der Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) führte. In diesem Rahmen war die Lebenswirklichkeit frühester Mutterbeziehung in einer interdisziplinären Weise untersuchbar. Daraus ergab sich ein Wissens- und Beobachtungsfundus, der auf die psychoanalytische Behandlungspraxis, insbesondere die Kinderpsychotherapie, bereits zurückzuwirken beginnt (z. B. Biermann 1994). Von hier aus könnte es zu einem Ansatz zu einer Neubewertung des Werks von Otto Rank kommen.

Exkurs zu Ferenczi

Rank und Ferenczi haben Anfang der 20iger Jahre in einem sehr engen Austausch gestanden, was in der gemeinsamen Buchveröffentlichung der "Entwicklungsziele der Psychoanalyse" seinen Ausdruck fand. Ferenczi schloß sich auch zunächst den Grundannahmen aus Ranks "Trauma der Geburt" weitgehend an, wie seine Ausführungen in "Versuch einer Genitaltheorie" (1924) und in Briefen belegen. Meine Vermutung geht dahin, daß das große Bedürfnis bei Ferenczi nach weitgehender Übereinstimmung mit Freud ihn veranlaßte, sich später von Rank kritisch zu distanzieren (Ferenczi 1927). Dazu trug auch bei, daß Ferenczi mehr an der Durcharbeitung regressiver Phänomene in analytischen Situationen interessiert war, während Rank mehr auf den Individuations- und Ablösungsprozeß in der Analyse zentrierte und hier in seiner psychohistorischen Theorie der Ich-Entwicklung in "Seelenglaube und Psychologie" (1930) ein theoretisches Widerlager und einen Ansatzpunkt für seine Art von "aktiver Behandlungstechnik" fand. Diese kulturpsychologische Dimension und die dadurch gegebene Möglichkeit einer zusätzlichen Perspektive auf die Behandlungssituation war nach meinem Eindruck Ferenczi fremd, der seine Stärken als Kliniker hatte. Folgende Bemerkung Ferenczis zeigt, wie Rank die Anwendung der Übertragungsdeutung erweiterte: "... ich kann hier nur wiederholen, daß es für mich und meine Analysen eine wesentliche Förderung bedeutete, als ich auf Ranks Anregung das Verhältnis des Kranken zum Angelpunkte des Analysematerials nahm und jeden Traum, jede Geste, jede Fehlhandlung, jede Verschlimmerung oder Besserung im Zustand des Patientin vor allem als Ausdruck des Übertragungs- und Widerstandsverhältnisses auffaßte" (Ferenczi 1926, S. 109). Diese Sicht gewinnt ihre Tiefe durch die Einbeziehung der vorsprachlichen Beziehungsebene und ihrer szenischen Kraft. Wie die Beschreibung Margret Littles (1994) von ihrer Analyse bei Winnicott zeigt, hat Winnicott dieser Dimension der vorsprachlichen Inszenierung in seiner Gestaltung des Settings sehr viel Raum gegeben. Dies wäre aber alles theoretisch auf viel festeren Boden gegründet, wenn er sich auf Rank beziehen würde. So hängt alles von der individuellen Intuition des großen Klinikers in seiner tiefen Menschlichkeit ab.

Exkurs zu Paula Heimann

Eine besonders verwinkelte und nur über vermutende Ableitungen nachweisbare Tradition erfolgt meines Erachtens über Paula Heimann. Doch scheinen mir meine Überlegungen hierzu bei aller Vorsicht doch so überzeugend, daß ich sie trotz ihres spekulativen Charakters hier mitteilen möchte. Mir war seit langem aufgefallen, daß die Formulierungen Paula Heimanns (1957, 1964) eine merkwürdige Parallele zu den Formulierungen Ranks haben. Eine Vermutung war, daß es hier einen verborgenen Traditionsweg über die Lehranalyse bei Reik geben könnte, der wesentliche Funktionen von Rank übernommen hatte und sein Werk bestens kannte. Zudem war nach den Briefen Alix Stracheys "Rank in der Berliner Vereinigung ständiger Gesprächsgegenstand" (Großkurth 1993, S. 160) und müßte Heimann von daher bekannt gewesen sein. Nun stieß ich in den "Collected Papers" von Heimann (1989) auf eine Arbeit von 1958 "Notes on Early Development", in der Heimann in einem Kapitel "The Birthtrauma" eine verdichtete Zusammenfassung der wesentlichen Thesen von Ranks Ausführungen zum Geburtstrauma und eigene weitere Überlegungen gibt. Sie schreibt da: "There is a common consent in the appreciation of birth as a trauma and the new-born's repudiatory reaction" (Heimann 1958, S. 143). Merkwürdigerweise bezieht sie sich in diesem Kapitel über das Geburtstrauma aber nicht auf Rank, sondern auf Freuds "Hemmung, Symptom und Angst", also auf seine Auseinandersetzung mit Rank. In dem Kapitel wird dann immer wieder Freud zitiert, um gewissermaßen mit ihm auf einer Linie zu bleiben, die es, weil sie eben Rank in einer verdeckten Weise folgt, so nicht geben kann. Zu dieser inneren Ambivalenz paßt es dann auch, daß sie zu dem pränatalpsychologisch orientierten Beitrag von Rascovsky sagt: "Perhaps, Dr. Rascovsky has shot a Sputnic into the inter-stellar space of the embryonic existence, but so far, I do not want zu be the dog in it!" (Heimann 1958, S. 147). Entsprechend dieser Reserve und im Gegensatz zu ihren Ausführungen über die emotionale Nachwirkung von traumatischen Erfahrungen bei der Geburt, die in Veränderungssituationen aktualisiert werden, reduziert sie dann in einem eigenen Kapitel die frühe Erfahrung ganz auf die Körperempfindungen, die "somatic memories", wobei sie meint, daß die körperlichen Erfahrungen am Lebensanfang dem Lust-Unlustprinzip folgen und durch die großen biologischen Faktoren der Lebens- und Todestriebe bestimmt sind, womit sie wieder Nähe zu Freud herstellt. In dem Konzept der "Todestriebe" sehe ich aber gerade eine Mythologisierung von negativen perinatalen oder anderen frühen Erfahrungen, wie ja auch schon Melanie Klein vom Geburtstrauma als dem "Aktivator des Todestriebes" spricht. In diesem Zusammenhang ist mir vor allem wichtig, daß die Ausführungen über das Geburtstrauma von Paula Heimanns meines Erachtens unabweisbar zeigen, daß sie Rank kannte. Darum wandte ich mich noch einmal den Parallelen in den Formulierungen zu Übertragung und Gegenübertragung zu. Hier schreibt sie etwa über "die primitiven und infantilen Inhalte, die zum Teil niemals in verbaler Form erlebt wurden" (Heimann 1957, S. 408). Rank hatte davon gesprochen, daß "es sich bei der Bewußtmachung der in der Übertragung wirksamen Libidotendenzen immer um die Reproduktion von Situationen handelt, die meist gar nie bewußt gewesen waren ...". Ähnlich wie Rank sieht sie im Erlebenlassen und Verbalisieren dieser urtümlichen präverbalen Phantasien ein entscheidendes therapeutisches Agens. Ganz wie Rank in seiner Behandlungstechnik formuliert, sieht sie die "Arzt-Patient-Beziehung" als Bühne der Wiederholung der frühen Objektbeziehungen. Es ist dem Kundigen auch unstrittig, daß Rank den Beziehungsbegriff in die Psychoanalyse eingeführt hat und hierin das tragende Element der analytischen Situation sah, in der der Patient die Rolle eines Hilfs-Ichs hat. Paula Heimann spricht vom Analytiker als "Ergänzungs-Ich". Einleuchtend ist auch die Aussage von Heimann, daß "der Therapeut selbst zum therapeutischen Mittel" wird, was wörtlich identisch ist mit Formulierungen Ranks (z. B. Rank 1929 a, S. 3, 1931, S. 3). Ebenfalls gleichsinnig ist die Betonung des Erlebens im Hier und Jetzt und das Verstehen dessen, was unmittelbar vorgeht. Was Heimann als oberstes Ziel formuliert, "das Ich des Patienten dahin zu bringen, daß es die intrapsychischen und interpersonellen Vorgänge, so wie sie in der unmittelbaren Situation auftreten, wahrnimmt" (Heimann 1957, S. 409) ist gedanklich völlig gleichsinnig mit entsprechenden Äußerungen von Rank in seiner Behandlungstechnik.  Trotz dieser m. E. eindeutigen Bezüge zu Rank und damit Differenzen zu Freud, stellt Paula Heimann in einer theoretisierenden Weise immer wieder ihre völlige Übereinstimmung mit Freud fest, und zwar in dem Sinne, daß er das gemeint habe, was sie ausdrückt. Das ist aber nun offenkundig unstimmig. Sonst hätte es nicht all die Mißverständnisse um Freuds Spiegelgleichnis und seine Bemerkung zur "Überwindung der Gegenübertragung" gegeben und die Artikel von Heimann wären auch überflüssig gewesen. Ganz in diesem Sinne wurden die Artikel von Heimann auch als eine Art "Offenbarung" genommen, die von Freud autorisiert war. Das Problematische der, wie ich es sehe, verleugnenden Verdichtung von Paula Heimann besteht darin, daß ihre Thesen nun wieder, weil sie nicht richtig abgeleitet waren, nur wieder geglaubt und entsprechend "orthodox" behauptet werden konnten. Hierzu paßt auch der Stil apodiktischer Feststellung, was die richtige Psychoanalyse sei, in den Beiträgen von Paula Heimann. Das historische Verdienst von Paula Heimann könnte man so sehen, daß sie in einer manifesten Weise durch Melanie Klein und in einer latenten Weise durch Rank in der Wahrnehmung der frühen Beziehungsdimension in der analytischen Situation so geschult und sicher war, daß sie zu klareren Beschreibungen der therapeutischen Wirklichkeit kommen konnte. Der Preis jedoch für die Ausblendung der in ihrer Sichtweise verborgenen Konflikte war jedoch, wie beschrieben, eine ausschließende Apodiktik.  Ich meine, wir sind heute durch breite Erfahrung und auch durch die Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse so weit, daß wir uns der Brisanz der Tiefendynamik, die in der Diskussion in den 20iger Jahren im elitären Kreis einiger weniger Analytiker verhandelt wurde, in einen breiteren Rahmen stellen können.

Die unentdeckte Revision der Ödipustheorie

Ein eindrückliches Beispiel für die Tranceaspekte in der psychoanalytischen Tradition ist die Tatsache, daß weder Freud noch Rank bemerkten, daß die von Rank konstruierte Durchschnittssage des Helden eine Revision der üblichen Interpretation des Ödipusmythos bedeutete, worauf Borkenau (1957) aufmerksam gemacht hat. Freud führt in "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" aus: "Und nun führt vielleicht der neue Gesichtspunkt (Ranks) zur Klärung, daß die erste Familie, die, aus der das Kind ausgesetzt wird, in allen Fällen, die sich verwerten lassen, die erfundene ist, die spätere aber, die in der es aufgenommen wird und aufwächst, die wirkliche" (Freud 1937, S. 111). Die Konsequenz dieses Schlusses ist die, daß Ödipus keineswegs seinen wirklichen Vater erschlagen hat und auch nicht seine wirkliche Mutter geheiratet hat. Zweck der Sage scheint wohl mehr die Legitimation einer Usurpation zu sein. Wie dem auch im einzelnen sei, bedeuten die Schlußfolgerungen Freuds jedenfalls eine tiefgreifende Revision seiner früheren Ansichten mit komplexen Konsequenzen für die Theorie. Das merkwürdige ist, daß dies in der psychoanalytischen Tradition nicht wirklich bemerkt worden ist und darum auch nicht weiter diskutiert werden konnte. Die einzige Ausnahme ist Schmid-Noerr (1982, S. 592), der das Thema aber auch nicht weiter verfolgte.

Abschließende Bemerkungen

Meine wesentliche Aussage ist die, daß Rank die Bedeutung der vorsprachlichen Mutter- und Elternerfahrung aufgrund seiner fast 20jährigen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Freuds in einem ein/heitlichen Konzept in einer Zeit erfassen konnte, als die lebensgeschichtliche Bedeutung der frühesten Mutterbeziehung in einem patriarchal bestimmten gesellschaftlichen Raum noch nicht thematisierbar war. Darum beeinflußte Rank die Entwicklung der Psychoanalyse auf der manifesten Ebene durch die Notwendigkeit einer Revision der Angsttheorie und einer abwehrbestimmten Zentrierung auf Ich-psychologische Probleme. Gleichzeitig förderte das Beispiel seiner Ausgrenzung Tendenzen zur durchorganisierten Schulenbildung und zur Orientierung an einem bestimmten klassischen Kanon. Implizit gingen von Rank vielerlei Anregungen aus, die sich nach meiner Vermutung in einer verdeckten Weise in verschiedenen Narzißmustheorien und Objektbeziehungstheorien niederschlugen.  Ein weiterer Aspekt in der Wirkungsgeschichte Ranks ist die Hintergrundstradition der Psychoanalyse der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt, die in den letzten Jahren über den Austausch in der Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) so lebendig wird, daß sie auch wieder auf die psychoanalytischen Fachgesellschaften zurückzuwirken beginnt. Eine andere Einflußlinie ist die, daß die Bedeutung Ranks in den sogenannten Erlebnistherapien, wie Primärtherapie, Körpertherapie, LSD-Selbsterfahrung usw. als eines Entdeckers der Erlebniswirksamkeit frühester Erfahrung ganz unbestritten ist. Da heutzutage eine nicht geringe Zahl von Psychoanalytikern auch Selbsterfahrung in diesen "Erlebnistherapien" hat, gibt es hier eine indirekte Rückwirkung auf das psychoanalytische Feld hin. Am wenigsten erschlossen ist, wenn man von dem Buch von Ernest Becker (1976) und den mehr kursorischen Bemerkungen von Sloterdijk (1993) absieht, die Kulturpsychologie Ranks, die aber, wie schon im "Trauma der Geburt" angelegt, eine notwendige Folge seiner neuen Sichtweise und auch ein integrierendes Element seiner Theorie ist. Indem der Mensch in kreativer Weise die Sicherheiten seines pränatalen Mikrokosmos in den kulturellen Gestaltungen des gesellschaftlichen Makrokosmos wiedererschafft, sucht er in zeitgebundener neuer Weise das Leiden an dem Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit zu überwinden. Die abwehrbedingte Ausblendung der Kulturpsychologie Ranks ist meines Erachtens ein wichtiger Grund für die Stagnation der psychoanalytischen Kulturtheorie, wie ich an anderer Stelle im einzelnen erläutert habe (Janus 1992). Darum liegen hier auch besondere Chancen und Möglichkeiten einer künftigen Rank-Rezeption.

* Lieberman (1985, 1994, 1997), Rudnytzky (1991), Leitner (1995), Kramer (1996); wichtige Informationen finden sich bei Jones (1962), Roazen (1976), Menaker (1982, 1996), Zottl (1980, 1982) und verstreut in den verschiedenen Freud-Biographien; ich selbst habe einzelne Aspekte von Ranks Werk darzustellen versucht: Janus 1987, 1989, 1994, 1995a, 1995b, 1997.

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Dr. med. Ludwig Janus
Köpfelweg 52
D-69118 Heidelberg
e-mail an Karl Mätzler
www.isppm.de
www.psychohistorie.de

Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 38, 1/1997: 83-100.