Werkblatt
- Zeitschrift für Marina Leitner hat in Salzburg Psychologie studiert und über "Freud, Rank und die Folgen" ihre Diplomarbeit verfaßt. Mittlerweile schreibt sie an ihrer Dissertation über die Entwicklungsgeschichte der psychoanalytischen Technik. Ihr Beitrag gibt einen Überblick über die Person und das Werk von Otto Rank. Otto Rank - vergessener Pionier der PsychoanalyseMarina Leitner
"The melancholia that was to cloud his later years had already begun and he spent the rest of his life - in Paris and New York - alternating between feverish endeavors to find some short and efficient form of psychotherapy and moods of apathetic depression. It was a sad close to a fruitful career, one so full of further promise" (Jones 1940, S. 113). Erst allmählich wird diese Einschätzung widerlegt und überwunden, aber in weiten Kreisen ist Rank immer noch eine Person, dessen Schlüsselstellung für die Anfänge der Psychoanalyse unterschätzt und dessen Bedeutung für die Gegenwart der Psychoanalyse nicht gesehen wird. Wer war nun Otto Rank? Am 22. April 1884 als zweiter Sohn des jüdischen
Kunsthandwerkers Simon Rosenfeld und dessen Frau Karoline geboren, konnte
er wegen der schlechten finanziellen Verhältnisse nur eine Gewerbeschule
besuchen. Unter seinem Beruf als Schlosser litt er sehr. Er begann mit
15 Jahren, sich für Kultur zu interessieren und bildete sich autodidaktisch
fort. Wichtig wurde für ihn vor allem die Beschäftigung mit Ibsen,
Schopenhauer und Nietzsche. Mit 19 Jahren nahm er seinen neuen, nicht-jüdischen
Namen "Rank" an, den er 1909 formalisierte. Im Frühling 1905 traf
er Sigmund Freud, bei dem er von seinem Hausarzt Alfred Adler eingeführt
wurde. Rank zeigte ihm das Manuskript einer Arbeit, die 1907 als Der Künstler
publiziert wurde. Mit Freuds finanzieller Hilfe studierte er Philosophie
und Deutsch. 1912 schloß er das Studium mit der ersten Dissertation,
die die psychoanalytische Methode verwendete, ab (Die Lohengrinsage). Er
war bezahlter Sekretär der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft (ab
15.4.1908 der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung) und protokollierte
in dieser Funktion deren Sitzungen. Rank hatte von Anfang an eine Sonderstellung
unter den Mitgliedern der Wiener Vereinigung, über die sich Freud
öfter abschätzig äußerte (z.B. Freud an Ferenczi,
3.4.1910; Brabant et al. 1993a, 234). Ranks Einfluß in der psychoanalytischen
Bewegung wuchs. So war er - neben Karl Abraham, Max Eitingon, Sándor
Ferenczi, Ernest Jones und Hanns Sachs - eines der Gründungsmitglieder
des Geheimen Komitees. Von 1912 bis 1924 war er Redakteur der Periodika
Imago - Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften
und Internationale Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse.
Im Zuge des 1. Weltkrieges wurde Rank im Jänner 1916 nach Krakau versetzt,
wo er als Herausgeber der Krakauer Zeitung fungierte. Dort lernte er auch
seine zukünftige Frau Beata ("Tola") Mincer, eine Psychologiestudentin,
kennen. Von 1919 bis 1924 war er Leiter des Internationalen Psychoanalytischen
Verlages [= Verlag].
In meiner Arbeit über den Konflikt zwischen Sigmund Freud und Otto Rank (Leitner 1995) habe ich versucht, diesen aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu erklären, darunter Ranks wissenschaftliche Entwicklung, die Konflikte im Geheimen Komitee und die Probleme zwischen Rank und Jones bezüglich des Internationalen Psychoanalytischen Verlags. Im Geheimen Komitee nahmen seit einigen Jahren die Spannungen ständig zu. Es ging sowohl um Machtkämpfe, als auch um ein Ringen um die Liebe und Anerkennung Freuds. Diese Konflikte traten besonders stark zwischen Jones, dem Hauptverantwortlichen für die International Psycho-Analytic Press, und Rank, dem Leiter des Verlags, hervor. Verschärft wurde die Lage noch durch die Entdeckung der Krebserkrankung Freuds im Jahre 1923, die die Frage der Nachfolge akut erscheinen ließ. In dieser explosiven Situation erschienen nun zwei Bücher, an denen sich der Konflikt entzündete. Das eine war eine Gemeinschaftsarbeit von Ferenczi und Rank, Entwicklungsziele der Psychoanalyse (1924), das andere war das Buch, das auch heute noch am ehesten mit Ranks Namen verbunden wird: Das Trauma der Geburt (1924). Rank hatte sich bis 1919 auf den Bereich der Anwendung der Psychoanalyse
auf die Literatur und den Mythos konzentriert und einige wichtige Werke
publiziert, von denen ich als Beispiele Der Mythus von der Geburt des Helden
(1909), Ein Beitrag zum Narcissismus (1911a), Die Lohengrinsage (1911b),
Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage (1912) und Psychoanalytische Beiträge
zur Mythenforschung (1919) erwähnen möchte. Besonders Das Inzest-Motiv
in Dichtung und Sage ist charakteristisch für diese Schaffensperiode
Ranks: Auf ca. 650 Seiten (kleingedruckt!) versuchte er, das Walten des
Ödipuskomplexes in einer nicht enden wollenden Fülle von Material
aus Mythologie, Märchen und Literatur nachzuweisen. Einen besseren
Schüler konnte sich Freud nicht wünschen!
Heute gehört das "Agieren zu den am meisten überfrachteten psychoanalytischen Konzepten", und es stellt sich die - schon von Rank aufgeworfene - Frage, "inwieweit es als Möglichkeit betrachtet werden kann, einen entwicklungsmäßig frühen Konflikt, der lediglich sensomotorisch codiert ist, zum Ausdruck zu bringen." (Mertens 1991, S. 161) Man ist sich einig, daß das Agieren zwar als Widerstand verwendet werden kann, aber auch der "Kommunikation von lebensgeschichtlichen Erfahrungen [dient], die vorerst nur im Handlungsdialog inszeniert werden können. Was noch nie ausreichend verbal repräsentiert war, kann auch nicht der Erinnerung zugänglich sein." (Mertens 1991, S. 173) Es ist wieder ein Zeichen der Verdrängung Ranks und Ferenczis,
wenn Mertens schreibt: "Seit Balint ... wird deshalb auch die kreative
und innovative Seite des Agierens gesehen" (ebd.).
"jede Äußerung des Analysierten vor allem als Reaktion auf die gegenwärtige analytische Situation (Abwehr oder Anerkennung von Aussagen des Analytikers, Gefühlsreaktionen auf dieselben usw.) verstehen und deuten ..., wobei es wichtig ist, aktuell Provoziertes vom infantil Wiederholtem in den Reaktionen zu unterscheiden" (Ferenczi & Rank 1924, S. 26f). Diese Auffassung ist eine Vorwegnahme der neopsychoanalytischen Auffassung der Therapie als einen Prozeß, der sich im Hier und Jetzt in einer konkreten Beziehung abspielt (vgl. Falzeder 1992, S. 14). Besonders wichtig wird diese Sichtweise der Therapie bei Sullivan (vgl. Chrzanowski 1977, S. 363). Wie modern diese Auffassung des "analytischen Settings" war und ist, zeigt sich in der Beschreibung der zeitgenössischen psychoanalytischen Therapie, in der die "forcierte Analyse der Übertragung" und die "Fokussierung auf das Hier und Jetzt der Beziehung" eine entscheidende Rolle spielen (Mertens 1991, S. 104). Die in diesem Buch vertretenen Ideen zählen heute großteils zum unbestrittenen Bestand psychoanalytischer Technik und Therapie, ja, sie sind "Bestandteil der tagtäglichen Arbeit der Psychoanalytiker geworden" (Roazen 1971, S. 387). Rank und Ferenczi verloren zwar im damaligen Konflikt gegen die "orthodoxere" Richtung von Abraham und Jones, jedoch in der Theorie und Praxis psychoanalytischer Therapie setzten sich Ranks und Ferenczis Ideen durch, ohne daß ihre Vorreiterrolle oder Urheberschaft erwähnt werden. So wird Rank in dem Standardwerk Einführung in die psychoanalytische Therapie III (Mertens 1991) nur einmal erwähnt. Im Vordergrund stand bei Rank zunächst die Auseinandersetzung mit und Modifikation der psychoanalytischen Technik. Als ein Ergebnis davon änderte sich seine Auffassung der psychoanalytischen Theorie. Ausgangspunkt war Ranks Einführung, dem Patienten in jedem Fall einen unverrückbaren Termin für die Beendigung der Analyse zu setzen, was dazu führte, daß "in der Endphase der Analyse der Heilungsvorgang vom Unbewußten ganz regelmäßig in der uns großenteils schon bekannten typischen Geburtssymbolik dargestellt wurde." (Rank 1924, S. 24) Rank begann, seine Theorie des Geburtstraumas zu entwickeln. Das Trauma der Geburt (1924) ist etwas verworren geschrieben und schwer
zu lesen. Man gewinnt den Eindruck, daß Rank im Bann seiner Theorie
stand, was sich negativ auf die Darstellung auswirkte. Der Anspruch des
Buches war übergroß: Rank erhob allen Ernstes den Anspruch,
nicht nur die Psychoanalyse "biologisch zu fundieren" (Rank 1924, S. 21),
sondern mit seiner Theorie auch alle neurotischen Symptome, alle kreativen
Leistungen und sogar die "Menschwerdung selbst" (ebd., S. 19) erklären
zu können.
Ausgehend von seinen therapeutischen Erfahrungen postulierte Rank, daß
die Analyse sich "letzten Endes als nachträgliche Erledigung des unvollkommen
bewältigten Geburtstraumas" erweise (Rank 1924, S. 26). Der Patient
solle in der Analyse die "seinerzeit unvollkommen gelungene Ablösung
von der Mutter ... mit besserem Erfolg wiederholen" (ebd.). Rank bemerkte,
daß die Patienten "die analytische Situation vom ersten Augenblick
mit der intrauterinen" identifizieren und den Analytiker mit der Mutter
(ebd., S. 27). Die Übertragungslibido sei somit die mütterliche
(vgl. ebd., S. 28). Hier nahm Rank theoretische Entwicklungen vorweg, wie
z.B. von Donald W. Winnicott, der wie Rank "not the father but the mother
as the prototype for later transference relationships" betont (Rudnytsky
1991, S. 109), oder von Melanie Klein und Phyllis Greenacre, die "in der
Mutter-Kind-Beziehung den Kern jeder Übertragung" sehen (Mertens 1991,
S. 194).
Rank rückte eindeutig die Mutter in den Mittelpunkt seiner Theoriebildung, was nach Lieberman seine wesentliche Leistung war: "Rank's early emancipation from the masculine dogmatism of psychoanalysis remains more significant today than his overly fanciful explanation of its cause and cure." (Lieberman 1985, S. 236) So betont auch Menaker: "He was the first to shift the emphasis in the psychoanalytic understanding of human development from the male-oriented, Oedipal situation of childhood, with its ensuing castration anxiety as the center of conflict, to the initial mother-child relationship." (Menaker 1982, S. 67) Zentral sei die Trennung des Neugeborenen von der Mutter als dem ersten
Lididoobjekt, die sich in der Analyse wiederhole (vgl. Rank 1924, S. 65).
Diese These ist eigentlich der Beginn der modernen prä- und perinatalen
Psychologie: wenn die perinatale Mutter tatsächlich das erste Libidoobjekt
ist, heißt das, daß das Kind pränatal die Mutter als getrennt
von sich, also als Objekt, wahrnimmt - denn sonst könnte es bei der
Geburt keine Trennung erleben. Freud erkannte diese Implikation, wies sie
aber in seinem Buch Hemmung, Symptom und Angst (1926d) entschieden zurück:
die Geburt könne "subjektiv nicht als Trennung von der Mutter erlebt
[werden], da diese als Objekt dem durchaus narzißtischen Fötus
völlig unbekannt ist." (Freud 1926d, S. 272) In diesem Sinne schrieb
Freud an Rank: "Ich glaube, Sie eröffnen das psychologische Konto
zu früh." (27.8.1924)
Rank stellte mit seinem Trauma der Geburt eine neue Angsttheorie auf. Die Angst sei nicht nur "der erste psychische Inhalt ..., dessen sich der Mensch bewußt wird" (ebd., S. 67), sondern auch der Kern jeder Neurose (vgl. ebd., S. 63). Ausgehend von Freud sah Rank in der Geburtsangst den Ursprung des Angstaffektes, wobei dessen Bewältigung die gesamte Kindheit beanspruche (vgl. ebd., S. 32). Dies zeige sich z.B. in der Angst von Kindern vor dunklen Räumen oder vor Tieren (vgl. ebd., S. 32f). Dieser Angstaffekt im Kind benütze jede sich bietende Gelegenheit, um den Affekt wieder abreagieren zu können: "jede Äußerung infantiler Angst [entspricht] einer partiellen Erledigung der Geburtsangst" (ebd., S. 37). Aber es gehe nicht nur jede Angst auf die Geburtsangst zurück, sondern auch "jede Lust [tendiere] letzten Endes zur Wiederherstellung der intrauterinen Urlust" (ebd., S. 38). In der Neurose wirkten "reproduzierte Reminiszenzen an die Geburt bzw. ihr lustvolles Vorstadium" (ebd., S. 63). Rank erklärte nun die Frage, wieso das Streben, diesen paradiesischen Urzustand wiederherzustellen, mit der Urangst verbunden ist, folgendermaßen: "Es scheint, daß der Urangstaffekt der Geburt ... von Anfang an nicht bloß Ausdruck physiologischer Beeinträchtigungen (Atemnot - Enge - Angst) des Neugeborenen ist, sondern infolge Verwandlung einer höchst lustvollen in eine äußert unlustvolle Situation sogleich einen «psychischen»Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. Gefühlscharakter bekommt. Diese empfundene Angst ist so der erste Inhalt der Wahrnehmung, sozusagen der erste psychische Akt, welcher der noch ganz intensiven Tendenz zur Wiederherstellung der eben verlassenen Lustsituation die erste Schranke entgegensetzt, in der wir die Urverdrängung zu erkennen haben." (Rank 1924, S. 193) Es löscht also die Wahrnehmung der Urangst die Erinnerung an den lustvollen Intrauterinzustand aus und verhindert somit "die Rückstrebung, die uns lebensunfähig machen würde" (ebd., S. 193). De facto kam durch Ranks Theorie - auch wenn er es in dieser Schärfe
negierte - der Ödipuskomplex der Freudschen Theorie ins Wanken. Rank
sah im Trauma der Geburt das Urtrauma, gefolgt vom Trauma der Entwöhnung:
"Erst an dritter Stelle tritt dann das in der Individualgeschichte regelmäßig
phantasierte, höchstens als Drohung erlebte Genitaltrauma der Kastration",
das "den größten Teil des natalen Angstaffektes als Schuldgefühl"
übernehme (ebd., S. 41). Der Vater werde zum "Repräsentanten
der an die Mutter (das mütterliche Genitale) geknüpften Angst"
(ebd., S. 59). Die "Urphantasien von der Kastration und der Ödipussituation"
könne auf das Geburtstrauma zurückgeführt werden, und die
"Belauschung des elterlichen Koitus auf ihr reales Substrat, die pränatale
Situation" (ebd., S. 197).
Rank führte die infantilen Geburtstheorien, alle neurotischen Störungen des Sexuallebens und die Perversionen auf die "unlustvolle Fixierung an diese Funktion des weiblichen Genitales als Gebärorgan" zurück, das mit dem "dort erlebten Geburtstrauma" zusammenhängt (ebd., S. 51); alle Neurosen seien eine "Regression von der Stufe der Sexualanpassung in den pränatalen Urzustand, bzw. in die Geburtssituation, die ja dabei überwunden werden muß" (ebd., S. 215). Aber nicht nur pathologische Reaktionen führte Rank auf das Geburtstrauma zurück. Die ganze Menschwerdung könne damit erklärt werden, da der Mensch versuche, diesen "wirklichen Urzustand auf alle mögliche Weise, sozusagen schöpferisch wieder herzustellen ..., was ihm in den sozial angepaßten Phantasieprodukten der Kunst, Religion, Mythologie bis zu einem hohen Grade von Lustgewinnung gelingt, während es in der Neurose kläglich scheitert." (Ebd., S. 47) In normalpsychologischen Phänomenen wie im Schlaf sah er ebenfalls ein Zeichen, daß das Geburtstrauma nie ganz überwunden werden kann (vgl. ebd., S. 89). Ähnliches gilt für die Träume: Im Wunschtraum werde die Intrauterinsituation dargestellt, im Angsttraum das Geburtstrauma, die "Vertreibung aus dem Paradies" (ebd., S. 90). Ebenso zeigte Rank an allen anderen typischen Träumen (z.B. Prüfungstraum) die Verbindung zum Geburtstrauma auf. Soweit der grobe Inhalt dieser zwei Bücher, auf die Freud zunächst positiv reagierte. Nachdem ihm Rank zu seinem Geburtstag am 6.5.1923 das Manuskript vom Trauma der Geburt überreicht hatte, nahm Freud die Widmung ausdrücklich an und schrieb: "Ich selbst jetzt gelähmt, freue mich ungemein Ihrer schönen Produktivität. Das heißt doch für mich auch: Non omnis moriar" (Freud an Rank, 1.12.1923; Wittenberger 1995, S. 2543). Aber allmählich, auch unter dem Einfluß der anderen Komiteemitglieder, vor allem Abraham und Jones, rückte Freud zuerst von der Theorie, dann auch von der Person Ranks ab. Nach dem 8. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Salzburg vom 21. - 23. April 1924 reiste Rank nach Amerika ab. Im Gegensatz zu seinen dortigen Erfolgen entwickelte sich die Lage in Europa gegen ihn; selbst Ferenczi wandte sich zunehmend von ihm ab. Die Trennung Ranks von Freud und der psychoanalytischen Bewegung schien unvermeidbar. Doch dann kam die überraschende Wende. Man kann sagen, Rank brach zusammen. Er führte "analytische" Gespräche mit Freud, und am 20.12.1924 verfaßte Rank einen Rundbrief an die Mitglieder des Geheimen Komitees, in dem er sich entschuldigte und die Verantwortung für den Konflikt auf sich nahm. So meinte er: "Ich bin plötzlich aus einem Zustand, den ich jetzt als neurotisch erkennen kann, wieder zu mir selbst gekommen ... Ich habe so realerweise Konflikte erledigen müssen, die mir wahrscheinlich durch eine rechtzeitige Analyse erspart geblieben wären" (Wittenberger 1995, S. 329). Wie schon im Vorfeld des eigentlichen Konfliktes waren die Mitglieder des Geheimen Komitees gefangen in einem Diskurs des Psychologisierens und Pathologisierens. Rank fand - zum Teil sehr gönnerhafte - Verzeihung, allerdings mit dem Vorbehalt, daß er seine Theorien widerrufe. Die Lage, in der Rank sich befand, stellte sich als äußerst schwierig dar. Er hatte inzwischen alle wichtigen Positionen in der psychoanalytischen Bewegung verloren, er sollte seine Theorien zurücknehmen, und zudem stellten sich Probleme in seiner Ehe mit Beata ein. Bis Anfang des Jahres 1926 zog sich diese schwierige Phase hin. Aus seinen Publikationen aus den folgenden Jahren, die er zum Teil damals schon vorbereitet hatte, wird jedoch ersichtlich, daß er seine Theorien nicht nur nicht widerrufen, sondern sogar weiterentwickelt hatte (s. u.). Das Werk, das wie kein anderes sein Schaffen als Schüler Freuds charakterisierte, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage, erschien 1926 in der 2. Auflage - versehen mit einem neuen Motto, das den Bruch mit Freud widerspiegelte: "Und wenn Dir einst von Sohnespflicht,
Freuds erste literarische Reaktion auf Das Trauma der Geburt, "Der Untergang
des Ödipuskomplexes" (Freud 1924d), war noch sehr zurückhaltend.
Er kam in diesem Artikel zu dem Ergebnis, daß der Ödipuskomplex
- "das zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode" (Freud
1924d, S. 245) - dem Prozeß der Verdrängung unterliege, oder
exakter ausgedrückt: "der beschriebene Prozeß ist mehr als eine
Verdrängung, er kommt, wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung
und Aufhebung des Komplexes gleich." (Ebd., S. 248) Der Ödipuskomplex
des Jungen gehe "an der Kastrationsdrohung zugrunde" (ebd., S. 251). Freud
verwies insofern auf Rank, als er betonte, daß dieses Ergebnis seiner
Untersuchung durch das Erscheinen des Buches Das Trauma der Geburt nicht
ohne Diskussion hingenommen werden könne - wobei eine solche Diskussion
zu diesem Zeitpunkt jedoch "vorzeitig" sei (ebd.).
"Die Ranksche Mahnung, der Angstaffekt sei, wie ich selbst zuerst behauptete, eine Folge des Geburtsvorganges und eine Wiederholung der damals durchlebten Situation, nötigte zu einer neuerlichen Prüfung des Angstproblems." (Freud 1926d, S. 299) Vielleicht liegt in dem Umstand, daß es als eine Kritik der Rankschen Theorie konzipiert (vgl. Freud an Eitingon, 7.8.1925) und gewiß mit affektiven Schwierigkeiten verbunden war, eine Erklärungmöglichkeit für die (für Freud völlig untypische) schwere Lesbarkeit dieses Werkes, das "nach Art eines Zeitungsromans" verfaßt wurde, "wobei der Autor sich selbst von jeder Fortsetzung überraschen läßt." (Freud an Ferenczi, 14.8.1925) Bis dahin, also 30 Jahre lang, hatte Freud an der Auffassung festgehalten, daß die Angst "eine von ihrer (normalen) Verwendung abgelenkte Libido" sei (Freud 1898a, S. 20; vgl. auch Freud 1895b, S. 43). Diese Angstkonzeption wies Freud nun zurück und betonte, daß "das Ich die eigentliche Angststätte ist." (Freud 1926d, S. 238) Es war eine vollständige Umwertung seiner Theorien: "Hier macht die Angst die Verdrängung, nicht, wie ich früher gemeint habe, die Verdrängung die Angst. ... Immer ist dabei die Angsteinstellung des Ichs das Primäre und der Antrieb zur Verdrängung. Niemals geht die Angst aus der verdrängten Libido hervor." (Freud 1926d, S. 253) Der Unterschied zwischen neurotischer Angst und Realangst verschwindet
bzw. beschränkt sich darauf, daß bei der neurotischen Angst
"der Inhalt der Angst unbewußt bleibt" - nämlich die Kastration
(ebd., S. 269). Die Angst ist die "Reaktion auf die Gefahrsituation", und
die Symptome dienen dazu, die "Gefahrsituation zu vermeiden, die durch
die Angstentwicklung signalisiert wird." (Ebd., S. 271) Der Abwehrvorgang
sei eine Flucht vor einer Triebgefahr, vergleichbar mit der Flucht vor
einer äußeren Gefahr (vgl. ebd., S. 285). Entscheidend für
seine neue Theorie sei, daß er "von der Angstreaktion auf die Gefahrsituation
hinter ihr" zurückgehe (ebd., S. 299).
Der unmittelbare Anlaß für Ranks Übersiedelung nach
Paris im Jahre 1926 ist nicht bekannt. Nach Jahren des Pendelns zwischen
Paris und den USA ließ er sich 1935 endgültig in den Vereinigten
Staaten nieder. Er war als Therapeut tätig und hielt an verschiedenen
Orten Vorlesungen. Außerdem war er Lehrer an der University of Pennsylvania
School of Social Work. Ab ca. 1928/29 entwickelte er seine sogenannte "Willenspsychologie"
und "Willenstherapie", eine Kurztherapie, die den Willen und die Entscheidungsfähigkeit
des Menschen betont. Seine Werke vor 1924 gelten zum Teil als Klassiker
der Psychoanalyse, die Werke ab ca. 1928 gelten für die "Rankianer"
als seine entscheidenden. Diejenigen aus den Jahren dazwischen, als von
1924 bis 1927, wurden von beiden Seiten nicht oder nur geringfügig
berücksichtigt - dabei sind das die Jahre, die ich nach Rudnytsky
als Ranks "anni mirabiles" (Rudnytsky 1991, S. 47) bezeichnen möchte.
Hier entwickelte er Konzepte, die noch heute in der Psychoanalyse eine
große Rolle spielen. Einige davon möchte ich kurz anführen.
"Die Projektion des eigenen Narzißmus schafft das Bild der «guten Mutter»Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden., die einen so liebt, wie man sich selbst; die Projektion des eigenen Sadismus schafft das Bild der «schlechten Mutter», die einem so wehtut (straft, quält, haßt), wie man es selbst tun möchte." (Rank 1927, S. 163) Nach Rank erfolgt die "eigentliche Ichbildung ... unter dem Einfluß
der Mutter in der Präödipusphase", die "Genese der Ichstruktur"
sei nur erklärbar aus den Objektbeziehungen (ebd., S. 45).
Die Werke nach 1928 enthalten zum Teil auch noch Konzepte, die später
in der Psychoanalyse wichtig wurden, wie z.B. das des "wahre[n] Selbst"
(1928, S. 31). Jedoch ab diesem Zeitpunkt entfernte sich seine Theoriebildung
schon deutlich von der Psychoanalyse.
Fußnoten: 1 Wenn nicht anders angegeben, H. i. Or.
Literatur: BRABANT, Eva; FALZEDER, Ernst; GIAMPIERI-DEUTSCH, Patrizia (Hrsg.) (unter der wissenschaftlichen Leitung von HAYNAL, André) (1993a). Sigmund Freud - Sándor Ferenczi - Briefwechsel. Band I/1, 1908 bis 1911. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. CHRZANOWSKI, Gerard (1977). Das psychoanalytische Werk von Karen Horney, Harry Stack Sullivan und Erich Fromm. In: Dieter Eicke (Hrsg.), Tiefenpsychologie. Band 3: Die Nachfolger Freuds. Weinheim und Basel: Beltz, 1982, S. 346-380. EAGLE, Morris N. (1984). Neuere Entwicklungen in der Psychoanalyse. Eine kritische Würdigung. München, Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse, 1988. FALZEDER, Ernst (1992). Interpersonelle Psychoanalyse (Neo-Psychoanalyse). Unveröffentlichtes Manuskript. FERENCZI, Sándor & RANK, Otto (1924). Entwicklungsziele der Psychoanalyse: Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. (Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, hg. von Prof. Dr. Sigmund Freud, Heft 1) FREUD, Sigmund (1895b [1894]. Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bstimmten Symptomkomplex als "Angstneurose" abzutrennen. In: Studienausgabe VI. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 25-49. FREUD, Sigmund (1898a). Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. In: Studienausgabe V. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 11-35. FREUD, Sigmund (1914g). Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse: II. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Studienausgabe, Ergänzungsband. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 205-215. FREUD, Sigmund (1918b [1914]). Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Studienausgabe VIII. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 125-232. FREUD, Sigmund (1924d). Der Untergang des Ödipuskomplexes. In: Studienausgabe V. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 243-251. FREUD, Sigmund (1926d [1925]). Hemmung, Symptom und Angst. In: Studienausgabe VI. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1982, S. 227-310. JONES, Ernest (1940). Otto Rank. International Journal of Psychoanalysis, Vol 21, S. 112-113. JONES, Ernest (1953). Sigmund Freud: Leben und Werk. Band 1. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984. JONES, Ernest (1955). Sigmund Freud: Leben und Werk. Band 2. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984. JONES, Ernest (1957). Sigmund Freud: Leben und Werk. Band 3. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984. LEITNER, Marina (1995). Der Konflikt zwischen Sigmund Freud und Otto Rank. Ein Schlüsselkonflikt für die Entwicklung der Psychotherapie des 20. Jahrhunderts. Diplomarbeit, Universität Salzburg. LIEBERMAN, James E. (1985). Acts of Will: The Life and Work of Otto Rank. New York: The Free Press. MENAKER, Esther (1982). Otto Rank. A Rediscovered Legacy. New York: Columbia University Press. MERTENS, Wolfgang (1991). Einführung in die psychoanalytische Therapie. Band 3. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer. RANK, Otto (1907). Der Künstler. Ansätze zu einer Sexual-Psychologie. Erw. 2. & 3. Aufl. Wien und Leipzig: Heller, 1918. RANK, Otto (1909). Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung. Leipzig und Wien. (Schriften zur angewandeten Seelenkunde, Heft 5) RANK, Otto (1911a). Ein Beitrag zum Narcissismus. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, 1911, Vol 3, S. 401-426. RANK, Otto (1911b). Die Lohengrinsage. Ein Beitrag zur ihrer Motivgestaltung und Deutung. Leipzig und Wien. (Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 13) RANK, Otto (1912). Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. 2., verb. Aufl. Leipzig und Wien: Deuticke, 1926. RANK, Otto (1919). Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Leipzig und Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Vol 4) RANK, Otto (1924). Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Fischer, 1988. RANK, Otto (1926). Technik der Psychoanalyse. I. Die Analytische Situation. Leipzig und Wien: Deuticke. RANK, Otto (1927). Grundzüge einer Genetischen Psychologie auf Grund der Psychoanalyse der Ichstruktur. I. Genetische Psychologie. Leipzig und Wien: Deuticke. RANK, Otto (1928). Grundzüge einer Genetischen Psychologie auf Grund der Psychoanalyse der Ichstruktur. II. Gestaltung und Ausdruck der Persönlichkeit. Leipzig und Wien: Deuticke. ROAZEN, Paul (1971). Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse. Bergisch Gladbach: Lübbe, 1976. RUDNYTSKY, Peter L. (1991). The Psychoanalytic Vocation. Rank, Winnicott, and the Legacy of Freud. New Haven, London: Yale University Press. WITTENBERGER, Gerhard (1995). Das "Geheime Komitee" Sigmund Freuds. Institutionalisierungsprozesse in der "Psychoanalytischen Bewegung" zwischen 1912 und 1927. Tübingen: edition diskord. Mag. Marina Leitner
Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 38, 1/1997: 107-121.
|