Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik


Michael Schreckeis lebt in Salzburg und arbeitet in der Sexualberatungsstelle. Dies ist die längere Fassung seines Vortrags im allgemeinen Seminar des Salzburger Arbeitskreises für Psychoanalyse vom Mai dieses Jahres. Der Krieg in Kroatien und Bosnien hat ihn auf Grund zahlreicher familiärer und freundschaftlicher Verbindungen mit diesen Ländern auf besondere Weise beschäftigt. Wir lesen deshalb die Gedanken eines Kenners der Situation.
 

Psychoanalytische Gedanken zum Krieg in Bosnien

Michael Schreckeis


In einer Podiumsdiskussion über das "Hexeneinmaleins des Faschismus" warnt P. Parin vor psychoanalytischen Deutungen in einem Kontext, wie es der Krieg in Bosnien darstellt: "Wir sind von Beruf - und viele von Berufung - gezwungen, uns mit unserem Instrument der Psychoanalyse um gesellschaftliche Prozesse, um geschichtliche und insbesondere jetzt um den Wiederbeginn oder der Fortsetzung faschistischer Dinge zu kümmern. Sobald wir aber mit psychoanalytischen Deutungen an die Öffentlichkeit kommen, ich wiederhole, seien sie richtig oder wahrscheinlich oder auch grundfalsch, erzeugen wir ein falsches Bewußtsein."1

Psychische Vorgänge spielen in Institutionen, Gruppen und Nationen bei gewalttätigen Konflikten zwar eine große Rolle, können allerdings nicht als die Ursachen des Konfliktes angesehen werden. Um diese zu benennen, muß man auch die historische, politische und ökonomische  Situation analysieren. Psychoanalytische Interpretationen verfälschen das Bild, wenn sie diesen Kontext zuwenig beachten. Gerade weil Affekte wie Haß, Ohnmacht, Angst oder Hoffnung den Blick auf historische Prozesse erschweren, kann eine isolierte Betrachtung psychischen Geschehens eine grobe Fehleinschätzung verursachen. Besonders gefährlich ist es, wenn kollektive historische Erfahrungen oder tradierte Mentalitäten einzelner Völker als Ursachen des Konfliktes angesehen werden. Westeuropäische Medien sind in der Berichterstattung über diesen Krieg allzu oft der Versuchung erlegen, einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge zu geben, indem sie Kroaten, Serben oder Moslems besondere Wesensarten zuschreiben. Das sind nichts anderes als psychologisch getarnte Vorurteile und Projektionen.

Trotz dieser Vorbehalte möchte ich mich - vor allem aus persönlichen Gründen - mit dem Krieg in Bosnien aus psychoanalytischer Sicht beschäftigen. Meine Familie stammt väterlicherseits aus Gebieten des ehemaligen Jugoslawien und ich verbinde mit diesen Landstrichen zahlreiche Erinnerungen. Deshalb studierte ich auch Slawistik, um Serbokroatisch - wie die Sprache damals genannt wurde - zu lernen. Ich konnte dadurch die kulturelle Vielfalt der sozialistischen föderativen Republiken Jugoslawiens kennenlernen, aber auch - während eines längeren Studienaufenthaltes - die andere Seite der "Brüderlichkeit und Einheit", die polizeistaatliche Seite Tito-Jugoslawiens.

Keinesfalls möchte ich die Verübung grausamer Taten durch psychologische Hypothesen relativieren und die Rollen von Opfern und Tätern zu verwischen. Auch möchte ich durch im Text notwendige Vereinfachungen und ethnischen Zuschreibungen nicht zur weiteren Vorurteilsbildung beitragen. Ein schwer zu verwirklichender Wunsch, da massenpsychologische Überlegungen vom Individuum abstrahieren müssen. Deshalb begebe ich mich auf das Glatteis von Verallgemeinerungen und Unschärfen, um Vermutungen und Hypothesen über die spezifischen Bedingungen in Ex-Jugoslawien anzustellen, zu überlegen, warum gerade in Bosnien der bisherige Höhepunkt erreicht wurde und einige psychoanalytische Gedanken mit den Ereignissen dort zu verknüpfen.

Gewaltanwendung ist ein häufig anzutreffendes Phänomen. Für kollektiven Haß anfällige Gruppen lassen sich derzeit in den meisten europäischen Ländern studieren. Für Autoritarismus anfällige Persönlichkeiten, wie sie Adorno und seine Mitarbeiter mit ihrer Faschismus-Skala untersuchten, gibt es überall zur Genüge. Worin liegt das Typische in Bosnien, sozusagen das "Balkan-spezifische"?

Aus analytischer Sicht interessant ist die Bedeutungsveränderung des Begriffes "Balkan". Sprachlich stammt er aus dem Türkischen und bedeutet einfach "Gebirge". Zunächst bezeichnete er den Gebirgszug im Norden des heutigen Bulgarien von der serbischen Grenze bis zum Schwarzen Meer. Später gab er der ganzen Halbinsel seinen Namen. Dort haben sich im Laufe der Jahrhunderte viele verschiedene Völker seßhaft gemacht, die nun miteinander untrennbar vermischt leben. Mittlerweile hat der Begriff bei uns jedoch andere Färbungen bekommen: Er ist vom geographischen Begriff zum Schimpfwort mutiert. Im übertragenen Sinn steht er für unklare Verhältnisse. Alles was chaotisch, rückständig, national unübersichtlich, politisch unberechenbar und triebhaft erscheint, wird zum "Balkan" erklärt.2

Die Bewohner des Balkan selbst haben die Verächtlichkeit übernommen, mit der von ihnen im übrigen Europa gesprochen wird. Wenn von "balkanischem Dreck" die Rede ist, ist damit gemeint, daß es sich um einen besonders dreckigen Dreck handelt. Mit "balkanizacija", der "Balkanisierung" wird alles bezeichnet, was einen Niedergang bedeutet, egal ob es sich um zunehmenden Gebrauch von Flüchen oder das Nichtfunktionieren der Stadtverwaltung handelt. Die Völker des Balkan wetteifern darum, nicht zum Balkan gerechnet zu werden, während ihrer Meinung nach die anderen eben dorthin gehören. Hier ist die Tendenz sichtbar, Teile der eigenen Identität abzuwerten, nach außen zu wenden um sie dort umso heftiger zu bekämpfen. Darauf werde ich später noch eingehen.

Jugoslawien mit seinen fünfzehn anerkannten Völkerschaften war der Inbegriff des Balkan. Und Bosnien wurde gern als "Jugoslawien in Jugoslawien" bezeichnet. Sarajevo, seine Hauptstadt kann deshalb als Symbol des Balkan gelten. Wenn man will, läßt sich auch der Startschuß für den Ersten Weltkrieg als historische Verdichtung an diesem geeigneten Ort interpretieren.3

Das spezifisch "Balkanische" besteht in der Dichtheit mehrerer religiöser und nationaler Traditionen. Die geschichtlichen Entwicklungen brachten es mit sich, daß sozusagen an der Nahtstelle zwischen Morgen- und Abendland auf engem geographischen Raum verschiedene Traditionen nebeneinander gepflegt werden. Das gilt in besonderer Weise für Bosnien. Konflikte einzelner Personen können auf diesem Hintergrund leichter als gesellschaftliche Konflikte agiert werden. Spannungen, die in geringerer Intensität überall existieren, sind dort konzentriert, lassen sich deshalb schwerer kontrollieren und gelangen leichter zum Ausbruch. Auch unser Unverständnis für diesen "fernen" Konflikt ließe sich leicht als Abwehr der eigenen Konflikte interpretieren, schließlich hätten gerade wir Österreicher genug Grund, unsere eigene geschichtliche Beteiligung in Bosnien anzuerkennen.4

Die Konzentration mehrerer religiöser und nationaler Traditionen ist nicht nur gefährlich, sie ist auch anziehend. Sarajevo - zumindest das Stadtzentrum - wirkt heute noch idyllisch multikulturell. Die Hauptmoschee, die Hauptkirche der Orthodoxen und die katholische Kathedrale liegen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, die Traditionen der verschiedenen Religionen werden nebeneinander gepflegt. Die Regierung der moslemisch-kroatischen Föderation betont das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker, Kulturen und Religionen. Und doch - meine ich - war die friedliche Koexistenz immer nur die eine Seite. Durch eine Politik der Vereinheitlichung in der Sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien wurden die nationalen Unterschiede heruntergespielt und verwischt. Die früheren nationalen Identitäten hatten vor allem folkloristische Bedeutung. Stattdessen wurde das "Jugoslawentum" als im Volksbefreiungskampf bewährte gemeinsame Identität gefördert. Wo dies nicht ausreichte, gab es einen nationalen Schlüssel, nach dem die verschiedenen Posten besetzt wurden, die Tageszeitung Oslobodenje erschien demonstrativ auf einer Seite in lateinischen, auf der anderen Seite in cyrillischen Buchstaben. Die Unterschiede der verschiedenen Identitäten wurden jedoch von wenigen als Bereicherung angesehen, als Möglichkeit für einen fruchtbaren Austausch. Die Pflege der Identitäten wurde gebremst, und wo dies nicht anders ging, Toleranz mit Hilfe des nationalen Schlüssels geübt und ansonsten die Einheit Jugoslawiens beschworen.

S. Freud machte sich bereits wenige Monate nach Beginn des ersten Weltkrieges in "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" Gedanken über die Grausamkeit, ein Phänomen, das so gut wie jeden Krieg begleitet und doch so schwer begreiflich ist. Er macht sich Gedanken über: " ...die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hat."5

Im zweiten Teil der Arbeit geht es ihm um das Verhältnis zum Tod: "Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt.... Das dunkle Schuldgefühl, unter dem die Menschheit seit Urzeiten steht, das sich in manchen Religionen zur Annehme einer Urschuld, einer Erbsünde, verdichtet hat, ist wahrscheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, mit welcher sich die urzeitliche Menschheit beladen hat"6 Mit Blick auf die christliche Theologie schließt er auf die Tötung des Urvaters, da diese zur Beseitigung der Erbsünde die Opferung von Gottes Sohn annehme. Der hier angedeutete Todestrieb als Konstante im Wesen des Menschen wird explizit von Freud erst 1920 in "Jenseits des Lustprinzips" ausgeführt. Die latente Bereitschaft zu töten, zeige sich auch in vielen alltäglichen Impulsen: "Das ´Hol ihn der Teufel´, das sich so häufig in scherzendem Unmute über unsere Lippen drängt, und das eigentlich sagen will: ´Hol´ ihn der Tod´, in unserem Unbewußten ist es ein ernsthafter kraftvoller Todeswunsch."7 - so Freud. Die Bedingungen eines Krieges läßt diese unbewußten Triebregungen zum Vorschein kommen. Der Tod und die Grausamkeit sind Begleiterscheinungen jeden Krieges. Die Unterschiede liegen im Detail und nicht selten in der Wahrnehmung.

Denken wir an die Gewaltorgien des Golfkrieges, so wurden uns diese als chirurgische Eingriffe, hochtechnisiert und zivilisiert ausgeführt, präsentiert. In Bosnien schienen dagegen unstrukturierte, fanatische Banden am Werk zu sein, die wenig Zielhemmung in Bezug auf ihre Affekte aufweisen. Liegt der Unterschied im primärprozeßhaften Blutrausch, der sich über das vermeintlich ethnisch andere ergoß, im Gegensatz zur fast zwänglerischen ethnischen Reinhaltung, die unsere Behörden beispielsweise etwa "Integrationspaket" nennen? Es ist gewagt, eine Hypothese aufzustellen, die sich lediglich auf familiäre Beobachtungen stützt und grob verallgemeinert ist. Ich habe mich oft über die Art der Kindererziehung in jugoslawischen Familien gewundert, die vom scheinbaren Widerspruch von totaler Verwöhnung und plötzlichen Schlägen geprägt war. Diese wenig gehemmten zärtlichen und aggressiven Regungen der Eltern führen später möglicherweise zur Fähigkeit von spontanen Sympathiebezeugungen, Gastfreundschaft u.ä. aber eben auch zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen. Darin sehe ich eine Erklärung für die geringe Affekthemmung als Teil des "Balkan-Spezifischen".

1921 hatte Freud in "Massenpsychologie und Ich-Analyse" die Deformation des Über-Ichs in der Masse beschrieben. In ihr kommt es durch libidinöse Bindung der Individuen an einen Führer zu einer Regression. Die intellektuelle Leistung wird geschwächt, die Affektivität gesteigert sowie  Mäßigung und Triebaufschub erschwert. Die Einzelnen in der Masse neigen nun dazu, manche  Grenzen der Gefühlsäußerung zu überschreiten und sie in Handlungen umzusetzen. Das ist eine noch immer brauchbare Kurzbeschreibung der Bedingungen von Massenmord und Kriegsgreueln.8 Aber Freud gesteht Le Bon folgend der Masse auch wertvolle Eigenschaften zu, nämlich die "Sittlichkeit". In der Masse verschwinden zudem individuelle Eigenarten. Bezieht man das auf Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg, heißt das, daß hinter der Führerfigur Tito die nationalen Antagonismen leichter verdrängt werden konnten.

Josip Broz Tito - der in seinem Umkreis einfach der "Alte" genannt wurde - war eine charismatische Persönlichkeit. Für die Völker Jugoslawiens war er so etwas wie eine Art Vater. Durch seine einfache ländliche Herkunft, sein Vater war Kroate, seine Mutter Slowenin und  seine Jugend als Schlosser bot er sich als ideale Identifikationsfigur an. Er war sozusagen ein typischer "Jugoslawe": ethnisch gemischt, vom Lande stammend lebte und arbeitete er als Teil des städtischen Proletariats in verschiedenen Industriebetrieben Jugoslawiens. Auch als Staatsoberhaupt sagte man ihm bis ins hohe Alter ein sicheres Gefühl für die Nöte der einfachen Menschen nach. Offen zeigte er seine Vorlieben für schöne Frauen, schnelle Autos, teure Pferde und Hunde, ließ sich jede Menge Schlösser erbauen und pflegte als Hobby die Jagd. Wurde er im Ausland wegen diesem aristokratischem Gehabe kritisiert, verkörperte er für einfache BürgerInnen Jugoslawiens doch die Erfüllung ihrer Wünsche nach Befreiung vom Joch der Feudalherrschaft und dem Leben in Wohlstand.9

Als der geliebte und gefürchtete Führer starb, herrschte Trauer und Ratlosigkeit. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die alten Antagonismen wieder zum Vorschein kommen, das Land auseinanderbrechen und die Brüdervölker über einander herfallen würden. Diese archaische Reaktion, wie sie S. Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse beschrieben hat10, fand mit einiger Verspätung dann erst im Gefolge der Perestrojka statt. Sie wurde dadurch begünstigt, daß es wenig demokratische Traditionen gab, die den Übergang in die vaterlose Zeit erleichtern hätten können - sieht man einmal von Slowenien ab. Das Land war von der autoritären Vaterfigur mit Hilfe einer allgegenwärtigen, straff geführten Partei regiert. Die dadurch regressive Grundstimmung wurde noch zusätzlich durch ausgesprochen versorgende Züge des gesellschaftlichen Systems gefördert: Reisefreiheit, relativ hohe soziale Standards und einen beachtlichen Wohlstand in den meisten Gebieten, der jedoch vor allem durch Kredite finanziert wurde, deren Zinslast das Land vor Kriegsausbruch nahe an den wirtschaftlichen Zusammenbruch führten. Der wirtschaftliche Ruin führte bei ärmeren Gesellschaftsschichten zu erhöhter Aggression, bei der Nomenklatura zu Angst vor Privilegienverlust. Der Auflösungsprozeß der sozialistischen Strukturen und der allgemeine Werteverlust trugen das ihre zur regressiven Tendenz bei. Viele Menschen suchten nun einen Ort der Sicherheit oder wenigstens Symbole oder Symbolfiguren, an denen sie sich orientieren konnten. In dieser Situation gab es in allen Teilrepubliken Persönlichkeiten - außer Izetbegovic stammten alle aus den alten Kadern - die im Rückgriff auf nationale und religiöse Traditionen die regressiven Bedürfnisse der BürgerInnen auszunützen verstanden. Frühere ethnische und religiöse Zuordnungen, die im sozialistischen Jugoslawien fast aufgelöst schienen, konnten eine neue Bedeutung erlangen.

"Krajina ist einem blutgetränkten Fetzen gleich,
Blut ist unser Mittagsmahl, Blut auch unser Abendmahl,
Die Lippen schmecken Blut,
Und nie mehr gibt´s nen friedvollen Tag."
heißt es in einem serbischen Volkslied11

In Bosnien hört man oft den Satz: "Bei uns ist der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende." Der aus Sarajevo stammende Regisseur Emir Kusturica vertritt in seinem in Serbien produziertem Film "underground" eben diese These. Nach den Grauen des Zweiten Weltkrieges mit zahllosen Massenmorden der Ustasi an Serben, der  Cetniks an Kroaten und Moslems und am Ende des Krieges von Tito´s Partisanen, die Kollaborateure und alle, die sie dafür hielten, töteten, fand eine Aufarbeitung des Geschehenen in Jugoslawien weder publizistisch, politisch oder juristisch statt, sieht man von einigen spektakulären Kriegsverbrecherprozessen unmittelbar nach Ende des Krieges ab. Dies wurde wohl deshalb unterlassen, um den Aufbau einer sozialistischen Zukunft aller jugoslawischen Völker in "Brüderlichkeit und Einheit" nicht zu belasten. Alles was an nationale Differenzen erinnern könnte, mußte in Tito´s Jugoslawien entthematisiert werden. So durften die Grenzen zwischen den einzelnen Teilrepubliken nicht kenntlich gemacht werden, das kroatische Schachbrettwappen und das serbische Kreuz, die alten religiösen oder nationalen Symbole waren verboten. Die Erinnerung an die eigenen Massenmorde, begangen von Ustasi, Cetniks, der im vorletzten Kriegsjahr von Himmler aufgebotenen moslemischen Hanzar-Division und Tito-Partisanen, wurde durch die Heroisierung des nationalen Befreiungskampfes gegen den Feind von außen ersetzt. Wie der Volksmund der Verdrängung mißtraut, zeigt das Sprichwort "krv nije voda", "Blut ist kein Wasser" und deshalb nicht leicht zu vergessen.

Ein anderes Anzeichen, in denen man das Unbewußte ans Tageslicht drängen sah, waren die sexuellen Flüche im Serbo-kroatischen, die in diesem Krieg massenhaft verwirklicht wurden. Der geläufigste Fluch lautet: "Jebem ti" oder "pi...ku matre", was zusammengezogen "Ich fick´Dir das Fut deiner Mutter" heißt. Ein Satzteil genügt um verstanden zu werden. Die sexuelle Gewalt hat sich dabei so verselbständigt, daß sie zum Pausenfüller degradiert ist und gedankenlos ausgesprochen wird.

Der Autor des folgenden Gedichtes, Radovan Karadzic, ist uns besser als ehemaliger Präsident der republika srpska bekannt. Der aus Montenegro stammende Facharzt für Psychiatrie wird von seinen Anhängern jedoch auch als bedeutender serbischer Schriftsteller gefeiert. Noch vor Ausbruch des Krieges schrieb er folgendes Gedicht mit dem Titel "Sarajevo":

"Ich höre, wie das Unheil wirklich schreitet
in einen Käfer verwandelt wenn die Stunde kommt
wird man den Käfer zermalmen wie den morschen Sänger
die Stille zermalmt und ihn in die Stimme verwandelt.

Die Stadt verglüht wie ein Weihrauchklumpen
in diesem Rauch irrt auch unser Bewußtsein.
Leere Kleider gleiten durch die Stadt. Der rote
Stein stirbt, in die Häuser eingebaut. Die Pest!

Stille. Ein Trupp gepanzerter Pappeln
marschiert in sich hinauf. Der Aggressor
die Luft kreist durch unsere Seelen herum
und im Nu bist du ein Mensch und im Nu ein Luftwesen.

Ich weiß, daß all dies die Vorbereitung für den Aufschrei ist:
Was bereitet das schwarze Metall in der Garage vor?
Schau, wie die Angst, in eine Spinne verwandelt,
auf ihrem Computer nach einer Antwort sucht."12

Auch ohne Interpretation läßt das Gedicht zweifelsohne eine gewisse Beklemmung zurück. Die dichterische Vision von Radovan Karadzic scheint Wirklichkeit geworden zu sein. Auch wenn seine literarische Botschaft wenig rezipiert wurde, seine politische Botschaft ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Deshalb möchte ich einige Einfälle zu seinem Gedicht anführen:

Der rote Stein der Häuser Sarajevos erinnert mich an die sozialistischen Werte des gemeinsamen Hauses Jugoslawien. Es wird als von der Pest infiziert empfunden. Käfer, die sich unkontrolliert vermehren, bedrohen die Bewohner, so wie sich viele Serben von der "balija" bedroht fühlen. "balija" ist eine Ableitung von "bale", das Nasendreck, Rotz bedeutet und wird in abwertender Weise für die moslemische Bevölkerung gebraucht. Das Ungeziefer das vernichtet werden muß, läßt sich auch als Tötung der homosexuellen Brüder als Abwehr eigener homosexueller Anteile verstehen. Der morsche Sänger erinnert mich an die einst heroischen Lieder der Partisanen, die nun von einer gefährlichen, nämlich zermalmenden Stille abgelöst werden. Die Zerstörung der Stadt erscheint als eine religiöse Tat, die dem Verglühen von Weihrauchklumpen ähnelt, was ursprünglich der Unschädlichmachung von Ungeziefer diente. Diesem religiösen Auftrag hat sich das Bewußtsein verschrieben. Die Stadt ist in verschiedenen Literaturen als Symbol für Mutter oder Frau. Man könnte auch an die Wiedereroberung bzw. Reinigung der Mutter durch Weihrauch denken. Das, was früher Ansehen und Einfluß bedeutete, nämlich Kleider, ist heute bedeutungslos. Der bewaffnete Aggressor wird als Pappel beschrieben. Ein schnell hoch wachsendes, sich im Wind biegendes Gehölz, das phallisch Selbstbewußtsein suggeriert. Die Aufrüstung passiert in den Menschen. Sie bedroht und schützt, bzw. panzert blasse, luftige Seelen, wir würden sagen Ich-schwache Wesen, die sich schnell auflösen oder auflösen lassen. Im letzten Absatz wird die Angst als ursächliches Gefühl für die Antwortsuche genannt. Schwarzes Metall, eine Garage können als Mittel und Ort einer möglichen Gewalttat aufgefaßt werden, die mit Hilfe eines Computers abgewehrt werden. Vor allem der Begriff des Computers wirkt befremdlich am Ende des bilderreichen Textes. Vielleicht läßt sich das als Andeutung auffassen, daß archaische Ängste mittels moderner Technologie abgewehrt werden.

Der Beginn der Auseinandersetzungen wurde eingeleitet, indem die Grauen des vergangenen Krieges selektiv von den Führungseliten propagandistisch eingesetzt wurden. An vielen Straßenecken Zagrebs konnte man Publikationen über den sogenannten "Kreuzweg" der Reste der Ustasa-Armee lesen. Zehntausende ihrer Angehörigen waren in Kärnten von britischen Besatzungsmächten interniert worden, bevor sie den Tito-Partisanen ausgeliefert wurden, die sie bei Bleiburg exekutierten. Franjo Tudman, damals Tito´s jüngster General, war später Leiter des Instituts zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung. Er scheint die Zeit unter anderem dafür genützt zu haben, um über die Anzahl der vorwiegend serbischen Opfer im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac in geschmackloser Weise zu raissonieren. Die Angaben schwanken zwischen einer Million und 50.000 laut Tudman. Die am Save-Ufer liegende Gedächtnisstätte wurde letztes Jahr bei der Krajina-Rückeroberung verwüstet und mit Ustasa-Symbolen verunziert.

Auf serbischer Seite wurden vor allem an in der bosnischen und kroatischen Krajina begangenen Massaker erinnert, Reste der Opfer aus Karsthöhlen geborgen, von serbischen Popen gesegnet und feierlich beigesetzt. Fernsehbilder suggerierten allen Serben, daß sie von kroatischen Faschisten erneut mit Völkermord bedroht seien.

Vom Kosovo - der zu 90% von Albanern bewohnt wird - wurde häufig von angeblichen Greueltaten an unschuldigen serbischen Zivilisten berichtet, von Vergewaltigungen orthodoxer Klosterschwestern durch moslemische Albaner, Vertreibungen serbischer Bauern usw.

Die kroatische Regierung tat viel, um die Ängste der serbischen Bevölkerung weiter zu schüren: die wirtschaftlichen und administrativen Spitzenpositionen, die auch in Kroatien mehrheitlich von Serben besetzt waren, wurden bald nach den ersten freien Wahlen mit Kroaten besetzt. Die neue Verfassung stufte die Serben von einem Staatsvolk zu einer Minderheit herab, für Gebiete selbst mit serbischer Mehrheit wurde weder politische noch kulturelle Autonomie vorgesehen. Auf jedem Autokennzeichen muß - nicht wie bei uns ein regionales Wappen - sondern das Schachbrett, das Staatswappen des kroatischen Zentralstaates angebracht sein, ein Wappen, das auch der Ustasa-Staat benutzt hatte. Selten habe ich so viele Wappen und Fahnen gesehen, wie in Kroatien nach der Unabhängigkeitserklärung - ein Hinweis auf die Notwendigkeit, ein schwache Identität durch Symbole zu stärken.

Jede nationalistische Propaganda stützt sich auf Projektionen. Wir sind die guten, schutzlosen, ohnmächtigen, in Geschichte und Gegenwart bedrängten Opfer, die anderen die bösen, barbarischen Aggressoren. Eigene gefährliche Wünsche und Gefühle werden im Anderen untergebracht, die Aufmerksamkeit wird vom eigenen Unbewußten auf das des anderen verlagert und im Anderen bekämpft. Dies geschieht um den Preis von Realitätsverkennung, die Projektion kann nicht als eine irrige Wahrnehmung erkannt werden. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man daran denkt, daß in Bosnien jede dritte Ehe ethnisch gemischt ist. (In diesem Zusammenhang fällt auf, wie schnell man ethnisch zu denken beginnt, denn der Begriff der Mischehe erinnert an den Nationalsozialismus, der Menschen als Halb-, Vierteljude oder reine Arier klassifizierte.) Vertreter einer anderen Realität, Kritiker der Nationalismen werden heute von allen drei Kriegsparteien in Bosnien als "jugonostalgi...ari" als naive, weltfremde Menschen diffamiert, die auch heute noch ein Zusammenleben der verschiedenen Völker für möglich halten.

Eine besondere Rolle bei der Produktion von Angst und Rachegelüsten spielt das Fernsehen. Die grauenhafte Darstellung von manchmal denselben Greueltaten, die jeweils der anderen Seite zugeschrieben wurden, erzeugte eine neue, schreckliche Realität, die in den gleichgeschalteten Medien durch keinerlei Gegendarstellung korrigiert werden konnte. Das verfälschte Bild bekam Realitätswert. Es ist ein universelles Phänomen, daß Aggression meist projektiv verarbeitet und abgewehrt wird. Die eigene Aggression wird als gleichsam berechtigte Reaktion auf das Verhalten anderer empfunden.

Dazu ein typisches Beispiel: Der Anlaß für den Ausbruch der offenen Gewalt erfolgte in Ostkroatien um Vukovar, in einem kleinen serbischen Dorf außerhalb der von Kroaten dominierten Stadt. Borovo-Dorf, wie es genannt wird, hatte sich schon vor Jahrzehnten gegen die Eingemeindung mit Borovo, der unmittelbar danebenliegenden Arbeitersiedlung des Vukovarer Borovo-Unternehmens gewehrt, um nicht die serbische Gemeinderatsmehrheit zu verlieren. Nach der Machtübernahme durch Kroaten in Vukovar und Borovo wollten zwei kroatische Polizisten ihren Kollegen ihren Mut dadurch beweisen, indem sie in der Nacht im benachbarten Borovo-Dorf die kroatische Schachbrett-Fahne mitten am Dorfplatz hissen würden. Die beiden wurden von erbosten Dorfbewohnern festgenommen. Ein Befreiungsversuch der restlichen Zechbrüder mißlang, auch diese wurden gefangengenommen, ermordet und nach kroatischen Angaben verstümmelt. Auf beiden Seiten war damit das alte Feindbild mobilisiert worden, was nicht schwerfallen konnte, war es ja für beide Seiten durch Realerfahrungen bestätigt worden. Die erste vollständige Zerstörung einer ganzen Stadt - mit etwa 45.000 Einwohnern - konnte beginnen. Dieses Beispiel zeigt, wie jede Seite sich geradezu gezwungen fühlen muß, auf die paranoiden Ängste der anderen Seite tatsächlich mit dem zu reagieren, wovor diese sich fürchtet.

Aber es ist nicht nur Projektion allein, beteiligt ist auch etwas Manipulatives. Der Andere, auf den projiziert wird, verhält sich tatsächlich entsprechend. Mit jeder wirklich erfolgten oder durch Nachrichten verbreiteten Greueltat werden Vorurteile verfestigt. Der Gegner und nicht nur er, auch die ehemals befreundeten oder sogar verwandten Angehörigen des anderen Volkes werden paranoisch mit den wirklichen Verfolgern gleichgesetzt. Sich selbst bzw. der eigenen Gruppe werden magische Kräfte zugeschrieben. Nur so läßt sich verstehen, wie beispielsweise die internationale Isolierung, der wirtschaftliche Ruin in Kauf genommen wurde. "Das hoch besetzte, illusionäre innere Bild eines grandios überhöhten eigenen Selbst schützt das kollektive narzißtische Selbst."13 schreibt Paul Parin. So werden die Serben eben wieder hoch zu Roß reiten, wenn das Benzin ausgeht, hieß es nach Verhängung des Wirtschaftsembargos. Omnipotenzphantasien helfen, die Ohnmacht und Furcht abzuwehren. Die drohende Niederlage wird stattdessen derealisiert. Auf Seiten der bosnischen Föderation zeigten sich diese Größenphantasien ohne Realitätsbezug in der Hoffnung nach Rettung durch eine von außen kommende Macht, durch mächtige Freunde wie die USA, EU oder die UNO.

Stavros Mentzos begreift in seinem Buch "Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen" Gewalt als ein reaktives Verhaltensmuster auf meist narzißtische Kränkung. Die Massivität der dem Krieg vorausgehenden und ihn begleitenden Propaganda sowie die Tatsache, daß erst viele prosoziale Tendenzen überwunden werden mußten, spricht für seine Sicht der Dinge. In Bosnien gab es die größte Friedensbewegung Jugoslawiens. Noch im April 92 - als im Stadtgebiet Sarajewos bereits geschossen wurde - demonstrierten in Sarajevo Zehntausende mit Bildern Tito´s für Frieden und Völkerverständigung. Die Lektüre des Buches von Mentzos machte mir die Bedeutung narzißtischer Kränkungen für Auftreten, Anlaß und Vehemenz der Gewalt klar.

Von vielen Kroaten wird die Erinnerung an den SHS - Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (von 1918 - 1941), das seit 1929 erstmals Jugoslawien, Südslawien genannt wurde, als solche "narzißtische Wunde" empfunden, die geradezu nach Vergeltung ruft. Symbolisiert durch den Namen, war es als gemeinsamer Staat verschiedener Völker konzipiert. Bald entpuppte er sich als ein vom serbischen Königshaus brutal dominiertes Südslawien.

Auch wenn die mit den Serben lebenden Völker Angst vor deren Hegemonie haben, empfinden viele Serben eben diese Bestrebungen als notwendigen Schutz vor deren eigenen narzißtischen Kränkungen. Mladic und Karadzic bezeichneten die demographischen Verschiebungen - um den Vorgang beschönigend zu beschreiben - als notwendige Korrektur der menschlichen Verluste, die die Serben in Bosnien während des zweiten Weltkrieges erlitten hatten. Zusätzlich hatte sich tatsächlich das Zahlenverhältnis in den letzten Jahrzehnten vor allem aufgrund der höheren Geburtenrate zugunsten der Muslime verändert. In beiden Jugoslawien wurden die Serben von den anderen als Herren empfunden, im zweiten, sozialistischen fühlten sich diese aber durch die von Tito in einem komplizierten Mechanismus austariertem Gleichgewicht konstruierte Verfassung benachteiligt.

Sechs gleichberechtigte Republiken und zwei autonome (in Serbien gelegene) Gebiete sicherten den Serben lediglich zwei von acht Stimmen im kollektiven Staatspräsidium. Deshalb mußte die gerade in Serbien tief verehrte charismatische Persönlichkeit, von den jetzigen Machthabern als nationale Schmach umgedeutet werden. Einzig von den bosnischen Muslimen wird Tito auch heute noch hoch geschätzt, die Hauptstraßen zahlreicher Orte heißen dort immer noch "Marsala Tita". In der Tat entzündete sich die Krise Jugoslawiens an der Korrektur dieser für viele Serben untragbaren Schmach: gemeint sind die Massendemonstrationen der Anhänger Milosevic´s, durch die der Reihe nach die Macht im Kosovo, der Vojvodina und in Montenegro von Serben zurückgezwungen wurde. Diese Korrektur des Stimmverhältnisses im kollektiven Staatspräsidium auf vier zu acht statt zwei zu acht verschaffte Serbien zumindest eine Sperrminorität, die aber die Abspaltung Sloweniens und Kroatiens beschleunigte. Bosnien und Mazedonien konnten gar nicht anders, als unter diesen Bedingungen auch ihre Unabhängigkeit zu erklären, wollten sie nicht von einer vermeintlichen serbischen Dominanz in eine tatsächliche geraten.

Auch wenn von Kroaten und Muslimen Serbien als Aggressor empfunden wird, viele Serben selbst meinen, zwei Drittel "ihres" Jugoslawien verloren zu haben und fürchten, noch mehr zu verlieren, leben doch in Serbien in den AVNOJ-Grenzen nur knapp mehr als 60% Serben. AVNOJ, der antifaschistische Rat der Volksorganisationen hatte am 29. November 1943 das neue föderative Jugoslawien im bosnischen Städtchen Jaice gegründet. Eben dieses Städtchen mußte als Symbol für die Gründung des föderativen, sozialistischen Jugoslawiens vernichtet werden, und zwar bis auf die Grundmauern.

Von Serben hört man häufig, daß sie im Frieden stets das verlieren, was sie im Krieg gewonnen haben. Serbien gehörte in beiden Weltkriegen zur Siegerseite. Trotzdem fühlen sie sich stets auf der Verliererseite. Feiern andere eine Befreiung oder einen Sieg als größtes nationales Ereignis, für die Serben ist es die verlorene Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld (Kosovo), die zum Mythos hochstilisiert wird und in dem sich eine kollektive Grundstimmung verdichtet. Die serbische nationale Identität baut auf dem Mythos einer Niederlage auf, der im Mythos vom großserbischen Reich seinen Ausgleich findet.

Diese Idee eines großserbischen Reich verstehe ich als selbstaufwertende Darstellung der eigenen Nation zur Verarbeitung von erfahrener Kränkung. Auf individueller Ebene werden Mangelerfahrungen und das eigene Minderwertigkeitsgefühl durch die Teilnahme an selbstüberschätzenden nationalen Identitäten kompensiert. Je schwankender und unsicherer die Selbstbesetzung, desto wichtiger wird die Identität als Mitglied einer Gruppe. "Kud svi turci, tud i mali Mujo," "Wohin alle Türken, dorthin wendet sich auch der kleine Mujo," Mujo ist eine bosnische Verkleinerungsform von Mohammed, gemeint ist also der kleine, typische Bosnier. Dieses Sprichwort belegt selbstironisch die Tendenz des kleinen Bosniers, sich an eine Sicherheit bietende Identität anzulehnen.

Das soziologische Umfeld ist der materielle Niedergang, die Auflösung von traditionellen Netzen wie der slawischen Großfamilie (zadruga) und Nachbarschaft sowie das Versagen der politischen Strukturen. "Daraus entsteht eine Verwirrung der Orientierung. Ich-Fragmente bestimmen das Verhalten und die Entscheidungen des einzelnen Menschen. Verschiedene in sich widersprüchliche Einstellungen existieren in ihm nebeneinander. Die Widersprüchlichkeiten schwächen die Kritikfähigkeit gegenüber fremden Interesseneinflüssen und machen ihn anfällig für jede Ich-Krüke von außen."14

Die Katholiken konnten sich als Ich-Krücke an Kroatien orientieren, die Orthodoxen an Serbien, für die Muslime war es am schwierigsten, eine eigene Identität zu bewahren bzw. zu entwickeln. Bei der ersten Volkszählung nach dem Krieg 1948 hatten sich die Moslems in Jugoslawien nur als "moslemische Serben", "moslemische Kroaten" oder "national nicht erklärte Moslems" eintragen können. Neunzig Prozent der islamischen Bosnier wählten die letzte Kategorie - ein Zeichen dafür, daß sie sich trotz aller Repressionen als eigene Volksgruppe fühlten. Erst 1961 wurde die Kategorie "ethnischer Moslem" eingeführt, 1968 wurden die Moslems (serbokroatischer Sprache) zur eigenen Nation erklärt. Sprachlich oder besser gesagt schriftlich wurden ethnische und religiöse Moslems durch großes oder kleines M/m voneinander unterschieden. Erst seit wenigen Jahren also waren sie, wie Kroaten, Mazedonier, Montenegriner, Serben und Slowenen als "Staatsvolk" der Jugoslawischen Föderation anerkannt. Zum Unterschied von den anderen Staatsnationen aber blieb Bosnien-Herzegowina, obwohl die Moslems dort bereits mehr als 40% der Bevölkerung ausmachten und durch die höhere Geburtenrate Aussicht auf baldige Gewinnung der absoluten Mehrheit hatten, eine Republik dreier Volksgruppen. Die öffentlichen und Partei-Ämter blieben im Verhältnis 1:1:1 aufgeteilt. Von vielen Kroaten und Serben werden die "Moslems mit großem M" bis heute nicht als eigenständige Nationalität anerkannt. Sie sind für sie nur "islamisierte Serben bzw. Kroaten". Nicht nachvollziehbar ist für mich, warum dann ethnisch gesäubert werden müsse, wenn es gar keine ethnische Verunreinigung gibt. War eine ethnische Zuordnung selbst vielen Moslems in Bosnien bis vor wenigen Jahren unklar, besser gesagt unwichtig, so hat sich dies durch diesen Krieg radikal verändert: Kroaten und Serben haben durch den Zweiteilungsversuch Bosnien eine Dreiteilung erreicht. Stritt man sich Jahrzehntelang, ob die Sprache kroatisch oder serbisch, kroatoserbisch oder serbokroatisch, mit oder ohne Bindestrich von einander getrennt geschrieben wird, gibt es nun offiziell drei, eben auch eine bosnische Sprache, auch wenn sie sich sprachlich so gut wie nicht voneinander unterscheiden. Als Nationalitätenname wird seit kurzem versucht, das etwas antiquierte Wort "bosnjak" wiederzubeleben, als Unterscheidung zum "bosanac", der auch die Bosnier katholischer und orthodoxer Religionszugehörigkeit umfaßt.15

Es geht um die kleinen Unterschiede, die aus einer gewissen Distanz kaum wahrnehmbar sind, und doch zum trennenden Merkmal stilisiert werden. Einen für dieses Phänomen brauchbaren Hinweis meine ich im von Freud beschriebenen "Narzißmus der kleinen Differenzen" gefunden zu haben.  Freud bezieht das auf den Antisemitismus. Juden seien nicht grundverschieden, aber doch anders, oft in undefinierbarer Art anders. "...die Intoleranz der Massen äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen."16 Er erklärt damit die Tatsache, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten. Im Verspotten zeigt sich eine relativ harmlose Aggressionsneigung. Wir harmlos sich eine solche Aggressionsneigung entladen kann, zeigt der Krieg in Bosnien, diejenige Republik Jugoslawiens, der man nachsagte, daß dort der Witz über und auf Kosten der verschiedenen bosnischen Volksgruppen zuhause war. Nur Montenegro konnte in dieser Hinsicht Bosnien einigermaßen das Wasser reichen.

Für mich trägt dieser Gedanke Freud´s zum Verständnis der unvorstellbaren Grausamkeit bei, die eben nicht gegen anonyme, entfernte Feinde, sondern gegen die eigenen Nachbarn gerichtet ist. Die Gewalt ist nicht so brutal, obwohl sie sich gegen ehemalige Freunde und Nachbarn richtet, sondern gerade weil sie sich gegen diese richtet. Nach all dem, was zwischen diesen Nachbarn geschehen ist, ist es tatsächlich schwer vorstellbar, wie eine Aufarbeitung der kollektiven Traumen gelingen kann. Die psychischen Wunden sind nicht weniger schwerwiegend als die Verwüstung ganzer Landstriche, der innere Wiederaufbau aber mühsamer als die Reparatur zerstörter Häuser. Psychoanalytisches Verstehen von historischen Vorgängen könnte in diesem Kontext einen Beitrag leisten.

Fußnoten:

1 Werkblatt 36/1996, S. 35.
2 Siehe: Karl-Markus Gauß, Das Europäische Alphabet. Paul Zsolnay Verlag Wien 1997, 17ff.
3 Der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan erklärt Sarajevo in einem Essay pathetisch zum Zentrum der Welt, Sarajevo sei Teil des Ganzen, in dem das Ganze enthalten sei: "Rund hundert Jahre nach ihrer Gründung versammelte die Stadt in sich Menschen aller monotheistischen Religionen und sich von diesen Religionen ableitenden Kulturen, sowie eine Unzahl verschiedener Sprachen und in diesen Sprachen und in diesen Sprachen enthaltenen Lebensformen. Sie wurde zu einem Mikrokosmos, zu einem Zentrum der Welt, das, wie jedes Zentrum nach der Lehre der Esoteriker, die ganze Welt in sich einschließt. Deshalb ist Sarajevo zweifellos eine innere Stadt in eben der Bedeutung, die die Esoteriker diesem Wort geben: alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo, in verkleinerter Form zwar, reduziert auf seinen Kern, aber es existiert, weil Sarajevo das Innenzentrum der Welt ist." (Dzevad Karahasan, Sarajevo - Portrait der inneren Stadt. In Literatur und Kritik, 6/1993, 275/276, S.: 54.)
4 S. Karl Mätzler, Der Krieg am Balkan als Inszenierung unbewältigter österreichischer und europäischer Vergangenheit. In: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 31 Nr.: 2/1993 S. 29-44.
5 S. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), s. Studienausgabe, Bd. 9, S. 40.
6 ebda. S. 52f.
7 ebda. S. 57.
8 S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), s. Studienausgabe,Bd.9, S. 65ff.
9 Vgl. Paul Parin, Das Bluten aufgerissener Wunden. In: Ethnopsychoanalyse 3, Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 1993.
10 S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), s. Studienausgabe, Bd. 9, S. 90ff.
11 S. Vladimir Dedijer, Die Zeitbombe. Wien: 1967, S.: 43.
12 S. Milo Dor, Kulturbrief aus Pale - Wien, In: Literatur und Kritik, Wien 6/1995, 295/296, S.:12.
13 S. Paul Parin, Das Bluten aufgerissener Wunden. In: Ethnopsychoanalyse 3, Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 1993, S.: 31.
14 S. Alexander  Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München 1973, S.: 371f.
15 Die Bedeutung der Entwicklung eigener Sprachen für die Entwicklung der nationalen Identität läßt sich nicht hoch genug einschätzen. Mitte des letzten Jahrhunderts waren die Sprachen der südosteuropäischen Völker fast auf die ländlichen Bereiche zurückgedrängt gewesen. S.: Zoran Konstantinovic, Literatur als Weg zur nationalen Selbsterkenntnis. In: Literatur und Kritik 3/1991, Nr.: 251/252, S.: 56.
16 S. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), s. Studienausgabe Bd. 9, S.: 538 und: Ders., Das Unbehagen in der Kultur (1930), s. Studienausgabe Bd. 9, S.: 243.
 

Literatur:

Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: 1973.
Smail Balic: Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt. Köln: 1992.
Bogdan Bogdanovic: Die Stadt und der Tod. Klagenfurt: 1993.
Vladimir Dedijer, Die Zeitbombe. Wien: 1967
Milo Dor, Kulturbrief aus Pale - Wien, In: Literatur und Kritik, Wien 6/1995, 295/296.
Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), s. Studienausgabe, Bd. 9.
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920), s. Studienausgabe, Bd. 3.
Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), s. Studienausgabe, Bd. 9.
Karl-Markus Gauß: Das europäische Alphabet. Salzburg: 1997.
Michael Ignatieff: Reisen in den Nationalismus. Frankfurt/M.: 1996.
Drago Jancar, Kurzer Bericht über eine lange belagerte Stadt. Gerechtigkeit für Sarajevo. Klagenfurt: 1996.
Zoran Konstantinovic, Literatur als Weg zur nationalen Selbsterkenntnis. In: Literatur und Kritik 3/1991, Nr.: 251/252.
Stavros Mentzos, Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Frankfurt a. M.: 1993.
Alexander Mitscherlich: Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität. Frankfurt: 1969.
Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München: 1973.
Paul Parin: Das Bluten aufgerissener Wunden. Überlegungen zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. In: Ethnopsychoanalyse 3: Körper, Krankheit und Kultur. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 1993.
Peter Passet u. Emilio Modena (Hrsg.), Krieg und Frieden aus psychoanalytischer Sicht. München: 1987.
Irina Slosar (Hrsg.), Verschwiegenes Serbien. Klagenfurt: 1997.

Mag. Michael Schreckeis
Lambergasse 31
A-5020 Salzburg

veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 38, 1/1997: 45-62.