Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik



Prolog:

Ich habe mich im Rahmen meiner Arbeiten über das burgenländische Judentum viel mit den jüdischen Zwangsarbeitern und den Todesmärschen beschäftigt, habe zahlreiche Oral History Interviews geführt. Aber ich habe niemals eine Zeile darüber publiziert.  Es war für mich ein Problem im doppelten Sinn, eines für das ich lange nach einer Lösung gesucht habe. Dieses Referat ist eine Art Erklärungsversuch, wie ich heute das Problem verstehe und wie ich mir die Lösung vorstelle. Es ist ein Referat über historische Wahrheit und Lüge. Und über die landläufige Meinung, daß man fremden Historikern und Journalisten besser keine Auskunft gibt.
 
 

"Sehen, Wissen, Sprechen!"

Zur historischen Erinnerung der burgenländischen Bevölkerung an die "Todesmärsche" 1945. 1

Gerhard Baumgartner2

 

Dies ist ein Experiment!

I.

Einerseits will ich versuchen, meine persönlichen Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit der burgenländischen Lokalgeschichte, insbesondere der Geschichte des burgenländischen Judentums, in einen Wissenschaft- und erkenntnistheoretischen Zusammenhang zu stellen: Ich will am Beispiel meiner Familie und Verwandtschaft zeigen, wie und bis zu welchem Grad geschichtliches Wissen und am eigenen Leib erfahrene und mitgetragene Geschichte in der Erinnerung selektiert, ausgeblendet und  überblendet wurde.

Gleichzeitig will ich versuchen zu demonstrieren, daß unser Verhältnis zu Vergangenem, auch und besonders zur eigenen "Geschichte" ein Prozeß ist, dessen Ablauf aufgespannt ist zwischen den Koordinaten der belegbaren, historischen Tatsachen und der in persönlichen, familiären, verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen ausgehandelten, konsensualen Übereinkünften darüber, was davon zu halten ist.

II.

Ich will Ihnen diese Prozesse anhand eigener Erfahrungen demonstrieren, will zeigen, wie ICH, der ich geglaubt hatte meine Familie zu kennen, im Laufe meiner historischen Arbeit erfahren habe, daß zahlreiche Mitglieder meiner Familie in der einen oder anderen Form mit den jüdischen Zwangsarbeitern und den Todesmärschen in Berührung gekommen waren. Sie darüber zum Sprechen zu bringen, war und ist nach wie vor schwierig und der Informationsgehalt ihrer Aussagen ist dürftig. Die Historikerdebatte um die methodischen Möglichkeiten der "Oral History" seit Mitte der achtziger Jahre, besonders in der Kritik der an der Position Lutz Niethammers, hat immer wieder ausdrücklich betont, daß das Verdienst und der methodologische Vorteil der "Oral History" eher darin liege, die Einstellung und persönliche Reflexion von historischen Abläufen durch Individuen zu dokumentieren, - also  konkret - wie geschichtliche Abläufe erlebt und reflektiert wurden.

Ich habe persönlich sehr lange mit der Methode der "Oral History" gearbeitet und ich habe diese ihre Unzulänglichkeiten - nicht nur einmal - am eigenen Leibe erfahren. Das Potential der "Oral History" liegt meiner Meinung nach eher in ihrer methodologischen Weiterführung wie sie Gabriele Rosenthal, Reinhard Sieder, Armin Nassehi und Gerhard Botz in der Gruppe rund um die Salzburger Quant-Qual Kurse vorgeführt haben3.

Zurückgeführt auf unser Thema heißt das: Ich habe erkennen müssen, daß das, was mir meine Familienangehörigen und Verwandten erzählen, und das, was wir aus der historischen Literatur und den Dokumenten rekonstruieren können, weit auseinanderklafft. Heißt das, daß Sie mich belogen haben? Ich glaube nein! Mit den Kritikern der "Oral History" habe ich erkennen müssen, daß mir meine Familienangehörigen und Verwandten die WAHRHEIT erzählen, nämlich ihre Wahrheit.

III.

Ich komme aus einem kleinen Dorf im südlichen Burgenland, meine Familie und Verwandtschaft erstreckt sich auf mehrere Dörfer in Bezirk Oberwart mit einigen Ausläufern ins Komitat Vas, nach Wien, Graz, Budapest, Deutschland, England und Nordamerika. Die soziale Struktur meiner Familie ist prototypisch für die in dieser Gegend ansässigen Familien. Mitglieder meiner Familie haben am Leben und Schicksal der burgenländischen Juden und der ungarischen Juden der Todesmärsche Anteil gehabt, oder haben diese Ereignisse zum Teil selbst gesehen. Auch in ihrem Verhältnis zur Geschichte erscheint mir meine Familie prototypisch.

Die WAHRHEIT, die sie mir erzählt haben, ist ihre konsensual konstruierte und sanktionierte familien- und gruppensoziologisch ausverhandelte Wahrheit. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff der "memoire collective" oder "collectiv memory" in der Fachliteratur diskutiert worden. Dieses "kollektive Gedächtnis" ist "what a social group remembers of its past", aber entgegen der landläufigen und umgangssprachlichen Verwendung des Begriffes im politischen Diskurs kann diese "memoire collective" nicht auf ihren methaphorischen Charakter verkürzt werden. Es erscheint mir zur besseren Verständnis des folgenden äußerst wichtig, den realen Charakter und das Prozeßhafte dieses kollektiven Gedächtnisses zu betonen oder wie Alon Confino schreibt "a social reality transmitted and sustained through the conscious efforts of a social group"4.

Das heißt nicht mehr und nicht weniger als: "memoire collective" ist, was "wiedererzählt wird", diese wieder und wieder vorgenommenen Erzählung konstituiert das kollektive Gedächtnis und definiertes auch. Was nicht erzählt wird, ist nicht Geschichte und im Fluß von Rede und Gegenrede, der Wortwahl und der Darstellung wird das kollektive Gedächtnis immer neu formuliert - und revidiert. Maurice Halbwachs hat diesen Ansatz in seiner Arbeit aus dem Jahre 1925 "Les cadres sociaux et la memoire" skizziert, französische Historiker und Sozialwissenschafter wie Jaques Legoff, Philippe Joutard, Pierre Nora haben ihn in den achtziger Jahren weiterentwickelt5.

Dieser Prozeß der Gedächtnisrekonstruktion wirkt auf Erzähler und und Rezipienten gleichermaßen. In der Gedächtnisrekonstruktion wird der autobiographische Erzähler  - laut Pierre Bourdieu - volens nolens zum Ideologen seines eigenen Lebes6. Erst im rekonstuierenden Diskurs werden zwischen den selektierten Ereignissen sinnstiftende Beziehungen postuliert.

Autobiographie, Oral History, kollektives Gedächtnios, und lebesgeschichtliches Interview sind also per definitionem nicht Abbilder dessen "wie es wirklich gewesen". Denn wie es war, ist für immer vergangen, nicht wiederholbar, nicht rekonstruierbar. Mit den Worten Heinz von Försters " ist die einzige Methode, wie wir glauben können, wie es gewesen ist, es zu sagen! Es gilt daher "Es ist, wie du es sagst!"7

"Memoire collective" ist also notwendigerweise und per definitionem nicht nur ein Instrument des Erinnerns, sondern auch ein Instrument des Vergessenes. Schweigen, Umdeutung und Lüge im landläufigen Sinn sind integrale Teile des Erinnerungsprozesses. Mit einem Rückgriff auf die in der Arbeit "Memory and History" 1986 von Nathan Wachtel zusammengefaßten Grundzüge der "memoire collective" läßt sich sagen: "Die soziale Funktion des Gedächtnisses ist es, eine Vergangenheit zu konstruieren, und die Gegenwart zu legitimieren; Gedächtnis hat seinen Ursprung immer in der Gegenwart und geht durch die Zeit zurück, durch einen selektiven Prozeß der Manipulation, Aneignung und schließlich der Erfindung. Kollektives Gedächtnis ist daher nicht einfach eine Reflexion der Vergangenheit oder ein sich Halten an bewährte Überlieferung, sondern ein Versuch, mit Hilfe einer eklektischen und kreativen Rekonstruktion die Gegenwart zu verstehen." Ein Unterschied zwischen Gedächtnis und Geschichte ist daher nach Walter Benjamin, daß das Gedächtnis für eine soziale Gruppe " nicht ein Instrument zur Erforschung der Vergangenheit ist, sondern eine Bühne für Vergangenes"8.

IV.

Ich werde daher nicht so sehr über das sprechen, was ich erfahren habe, sondern WIE, WARUM, WANN und in WELCHER FORM ich es erfahren habe.

Durch drei Beispiele möchte ich die eingangs erwähnten - und nicht zufällig aus der Spräche des Filmschnittes entlehnten - Begriffe des SELEKTIERENS, AUSBLENDENS und ÜBERBLENDENS  als Instrumente bei der Konstruktion der "memoire collective" illustrieren.

"ILLUSTRATION 1"

Als Kind spielte ich im Hause meiner Großmutter in Großpetersdorf oft in einer hinteren Kammer, in der eine Reihe von Holzbänken stand. Da dieser Raum umgebaut wurde, als ich noch sehr klein war, vielleicht drei - vier Jahre alt, hatte ich ihn schon ganz vergessen. Als Geschichtestudent organisierte ich 1980 eine lokalhistorische Ausstellung über Widerstand und Verfolgung im Südburgenland und kam im Zuge der Recherchen darauf, daß es in Großpetersdorf einen jüdischen Friedhof gegeben hatte und einen Betraum. Als ich meine Großmutter fragte, wo der Friedhof gewesen sei, zeigte sie mir ein wohlbekanntes, total verwildertes Grundstück, wo wir Kinder in der Schulzeit jeden Sommer Indianer gespielt hatten. Mir fielen plötzlich auch die an einem Rand aufgestapelten und bemoosten Steine wieder ein. Niemand hatte uns Kindern je gesagt, daß dies ein Friedhof sei, ein jüdischer Friedhof sei. Als ich meine Großmutter fragte, wo denn der Betsaal gewesen sei, erklärte sie, dies sei die Hintere Kammer in ihrem Haus gewesen, die mit den Holzbänken, wo früher einmal die Kunstschmiedewerkstatt meines Urgroßvaters gestanden sei, was später das Schlafzimmer meiner Großeltern wurde und heute das Büro einer Elektrofirma ist. Und sie schilderte mir den Raum in dem ich als Kind immer gespielt hätte und ich sehe ihn deutlich vor mir. Das SELEKTIEREN des Materials im kollektiven Gedächtnis ist also reversibel, ebenso ist es unzuverlässig.

Meine Mutter behauptet nämlich felsenfest, daß das Haus meiner Großmutter schon zwei Jahre früher umgebaut worden sei, ich also den Raum gar nicht gesehen haben kann! Aufzeichnungen existieren keine, der Umbau zog sich wegen baurechtlicher Schwierigkeiten über Jahre und es ist bis heute nicht geklärt, ob ich im ehemaligen jüdischen Betsaal der Gemeinde Großpetersdorf als Kind gespielt habe. Oder ob ich durch die eindrucksvollen Schilderungen meiner Großmutter ein anderes, ebenfalls im Gedächtnis gespeichertes aber längst verschollenes Bild aktiviert habe und es jetzt als Betsaal in mein diskursiv rekonstruiertes Gedächtnis inskribiert habe. Eben LÜGE als integraler Teil des kollektiven Gedächtnisses.

V.

ILLUSTRATION 2

Anders als die ehemalige jüdische Gemeinde Großpetersdorf oder der jüdische Friedhof war der Südostwall seit meiner frühesten Kindheit Bestandteil der Familiengeschichte. Mein Vater war als Hitlerjunge zu Schanzarbeiten nach Slovenien geschickt worden, "nach Cilli", wie es bei uns hieß, und er schilderte immer wieder, wie die damals 13- und 14-jährigen Buben auf dem Hauptplatz von Cilli ankamen und von ihrem Gruppenführer über den Platz geführt wurden. Da krachte plötzlich ein Schuß und der Gruppenführer, den mein Vater sehr verehrt und bewundert haben muß, brach tot zusammen. Slovenische Partisanen hatten ihn erschossen.

Unter den von mir geborgenen Schriftstücken meiner Familie fand ich auch einen handschriftlichen Zettel, datiert im Frühjahr 1945, auf welchem ein Kommandant nicht leserlichen Namens meiner Großmutter die Krankenstation in Schachendorf übergibt. Als ich meine Großmutter fragte, worum es sich dabei handelt, erzählte sie mir, damals seien ungarische Juden als Bauarbeiter eingesetzt gewesen und sie sei als Rotkreuzschwester mit der Führung der in der Schule von Schachendorf gelegenen Krankenstation betraut gewesen. Weil sie sehr gut ungarisch gesprochen habe, hätte sie sich mit den Juden auch gut verständigen können. Diese hätten sie oft um Hilfe gebeten, um Essen um Kleidung, etc. Meine Großmutter erzählte von diesen Gesprächen anfangs immer sehr offen. Als ich sie Jahre später auf den Zusammenhang zwischen den Schachendorfer Juden und dem Massengrab in Rechnitz ansprach, sagte sie nur, sie wisse nicht, wo die Juden hingekommen seien.

Über Rechnitz und die Erschießungen habe man nichts gehört, hieß es in der Familie. Mein Vater war Gerichtsbeamter und als solchen befragte ich ihn zu den vom Bezirksgericht nach dem Krieg durchgeführten Exhumierungen in Rechnitz. Mein Vater aber sagt, da sei nichts herausgekommen, wo die Akten sind wüßte er nicht, das sei nicht seine Abteilung gewesen. In der familiären Diskussion aber  nahm nun die Debatte eine interessante Wendung. Kam das Gespräch auf Rechnitz, wurde das Thema Südostwall immer häufiger mit dem Mord in Cilli kombiniert.

ÜBERBLENDEN nennt man in der Sprache des Filmschnittes, wenn ein Bild mit einem zweiten kombiniert wird. Wenn man sich zwei Diaprojektoren vorstellt, so sieht man zuerst ein projiziertes Bild, langsam wird der zweite Diaprojektor dazugeschaltet und das zweite Bild wird neben dem ersten immer stärker erkennbar. Entweder verschwindet das alte Bild langsam ganz zugunsten des neuen Bildes, oder aber beide bleiben - ineinander verschwommen, eben überblendet - nebeneinander stehen

ILLUSTRATION 3

Nicht lange nach dem Todesmarsch der Juden Richtung Westen durchquerte eine Marschkolonne deutscher Kriegsgefangener unter russischem Kommando das Dorf Richtung Osten. Ein aus Großpetersdorf stammender Soldat sprang in einem unbeobachteten Moment in die Toreinfahrt seines an der Hauptstraße gelegenen Elternhauses und konnte sich verstecken. Seine Schilderungen von der Behandlung der Kriegsgefangenen durch die Russen haben Eingang in den lokalen Kanon über die Greuel des Zweiten Weltkriegs gefunden.

Während der russischen Besatzungszeit war ein Mann auf der russischen Kommandantur mit einem Offizier in Streit geraten. Als er die Kommandantur verließ und über den Hauptplatz davonging, wurde er von dem betrunkenen Offizier von hinten erschossen.

Ein weitschichtiger Verwandter aus dem Bezirk Güssing erzählt, daß als die Juden auf ihrem Todesmarsch unterhalb des Dorfes im Tal auf der Bachwiese lagerten und es den kroatischsprachigen Dorfbewohnern verboten war hinunterzugehen, die Frauen und Kinder am Abend und in der Nacht sich mit Brotlaiben zu  den Gartenzäunen schlichen und diese über die Wiesen zu den Juden hinunterrollen ließen.

Alle Fragen zu Schachendorf und Rechnitz werden sofort mit der Perfidie des Mordes in Cilli, dem Leider der Kriegsgefangenen, dem Mord am Hauptplatz und den Brotlaiben relativiert. Das Herumhacken auf Rechnitz und den Todesmärschen ist und bleibt ein störerischer Akt von Feinden und Wirrköpfen.

VI.

Einem der von außen kommt, kann man diese Dinge nicht erzählen, denn er "versteht" sie nicht. Er weiß nicht - ja kann nicht wissen - um ihren Stellenwert, ihre Position und Bedeutung in der "memoire collective". Das Hauptargument zur Abwehr von Gesprächen gegenüber Fremden illustriert dies ganz deutlich: "Die verstehen das alles nicht, die glauben dann gleich ganz was anderes!" Das Schweigen der Bewohner des Burgenlandes zu zeitgeschichtlichen Themen ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Immer wieder mußte man erkennen, daß die sozial abgesicherten Versionen der "memoire collective" auf Unverständnis stoßen. Und über Jahrzehnte hinweg gerieten die wissenschaftlichen, intellektuellen und journalistischen Diskurse der Nachkriegszeit mit den lokalen Formen kollektiven Gedächtnisses nicht in Widerspruch : a) weil diese bis zum Vordringen der Alltagsgeschichte und der Oral History in den siebziger und achtziger Jahren nicht beachtet wurden, und b) weil es einen nationalen Grundkonsens gab, im kollektiven Gedächtnis etwas  AUSZUBLENDEN, nämlich die Frage nach der Verstrickung einzelner Österreicher in die Vorgänge des Dritten Reiches, ja das Thema des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus als solches.

Mit AUSBLENDEN bezeichnet man einen Vorgang im Filmschnitt, bei dem ein Bild verschwinden läßt, möglichst unmerklich.

Der Konsens über die Praktik des AUSBLENDENS war allumfassend, weil er Teil der Sozialisation der Nachkriegszeit war. Faschismus zu sagen war, wie "in der Kirche zu pfeifen", peinlich, peinlich, lieber von etwas anderem reden

ILLUSTRATION 4

Die Feldpostbriefe des Bruders meiner Großmutter sind mit "SS-Totenkopfdivision" abgestempelt, Ort: Kulmhof. Auf einem Stück Agfa-Film in Familienbesitz sieht man einige kahlgeschorenen Personen an der Kamera vorbeilaufen/Schnitt/Exerzieren auf einem Hof einer Kaserne in SS- Uniformen. Der Cousin meiner Mutter war als Hitlerjunge Aufsichtsperson am Südostwall. Er stammt aus den ungarischsprachigen Dorf Sziget in der Wart. Mehrere  ehemalige Hitlerjungen unseres Dorfes, ein angesehener Kleinunternehmer, wird in den Vernehmungsprotokollen zu den Todesmärschen aus der Nachkriegszeit genannt. Mein Vater sagt am Telephon zum Cousin meiner Mutter " Heast, der Gerhard möcht mit dir über Schachendorf reden, wast eh, damals beim Schanzen! Kannst du di überhaupt an was reinern. Aha, na, na hab i ma eh gedacht!"

Die Technik des AUSBLENDENS ist einfach. Ein unangenehmes Thema wird nicht widersprochen oder bestritten. Nein, vielmehr wird es in seiner oberflächlichsten und verallgemeinerndsten Variante kommentarlos stehengelassen und man geht zu etwas ähnlichem über. Die sechs Millionen Opfer des Holocaust. Sieben Zeilen im Geschichtsheft der 8. Klasse Mittelschule Oberschützen. Punkt. Thema abgehakt.

Dies wird heute zum Teil als "der antifaschistische Grundkonsens  der Zweiten Republik" mißgedeutet und mißverstanden.

VII.

ILLUSTRATION 5

In Großpetersdorf lebten vor dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Juden, aber auch Personen die man später zu Halbjuden stempeln würde. Zwei Frauen, Mitglieder christlicher Familien, völlig integriert, waren nach den Nürnberger Rassegesetzen Halbjuden. Auf lokaler Ebene, wo der Ortsbauernführer, der Polizist und der Vorsitzende der lokalen Parteiorganisation alles Einheimische waren, konnte man solche Dinge im Wege der Kulanz regeln. Die lokalen Führer der NSDAP traten an die Familien heran und erklärten, man würde von sich aus nichts unternehmen, wenn die Familien die volle Verantwortung übernähmen. Also kein Antrag auf Krankengeld, Spital, Pension etc. Eine Familie stimmte zu. die andere nicht, dort war es ja nur eine Tante. Sie wurde in der Folge auch deportiert und kam ins KZ - und sie überlebte das KZ und verbrachte ihr Leben als hysterische Frau schreiend vor dem Gemeindehaus, die ehemaligen Parteimitglieder als Mörder und Schweine beschimpfend. Das haben mir mehrere Personen aus Großpetersdorf berichtet. Ich kann mich ebenfalls an eine hagere Frau erinnern, die am Mittwoch, wenn am Gemeindeamt das Stempelgeld abgeholt wurde und lange Schlagen von Menschen dort anstanden, laut schreiend auf und ab ging. War das die Überlebende aus dem KZ. Ich bin mir sicher. Meine Eltern glauben das nicht so recht: "Die Frau Palanki konnte doch zu dieser Zeit kaum mehr richtig gehn, die ist nie mehr aus dem Haus gegangen!" Ich aber sehe sie vor mir. Zu den "Oral History" Erzählungen meiner Verwandtschaft habe ich mir ein Bild geholt aus dem "BILDSPEICHER" meiner Kindheitseindrücke.

VIII.

Ich wiederhole mit Walter Benjamin : Das kollektive Gedächtnis ist ein Instrument zur Legitimierung der Gegenwart, die Bühne der Vergangenheit.

Heute weiß ich, daß der Holocaust auch in meiner engeren Heimat, in meinem Ort stattfand, daß viele Mitglieder meiner Verwandtschaft dabei Zeugen waren, vielleicht sogar eine Rolle spielten.

Trotzdem sagen meine Verwandten und Familienmitglieder die Wahrheit. Ich habe versucht zu erklären, wie das möglich ist. Und um das zu erreichen, mußte ich sie leider belügen.

Fußnoten:

1 Referat zum 3. Österreichischen Zeitgeschichtetag 1997.
2 Gerhard Baumgartner. Dr.phil. ist Historiker und Journalist. Er ist Mitherausgeber der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG). Schwerpunkte: Osteuropa, Minderheiten, Habsburgermonarchie. Letzte Publikationen: Sechs x Österreich. Geschichte und aktuelle Situation der Volksgruppen in Österreich. (Drava)
3 Gabriele Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, Frankfurt am Main 1995.; Gerhard Botz u.a. (Hg.), Qualität und Quantität, Zur Praxis der methoden der historischen Sozialwissenschaft, Frankfurt am main und New York 1988; Christian Gerbel u. Reinhard Sieder, Erzählungen sind nicht nur "wahr". Abstraktionen, Typisierungen und Geltungsansprüche in Interviewtexten, in: Gerhard Botz u.a. (Hg.), Qualität und Quantität, wie oben, 189-210; Armin Nassehi, Die Form der Biographie, In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1994/1, 46-63. Siehe dazu auch ÖZG- Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1994/4 "Biographie und Geschichte".
4 Alon Confino, The Nation as Local Methaphor : Heimat, National Memory and the german Empire 1871 - 1918, The Wiener Seminar Papers, Tel Aviv Univerity 1992/93, Manus., 6; ders., "Collective Memory" in: Peter Stearns (Hg.), Encyclopedia of Social History, Cambridge 1993.
5 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la memoire, Paris 1925; ders., La memoire collective, Paris 1950;  Nathan Wachtel, Memory and History: An Introduction, in: History and Anthropology 1986/2, 207-224; Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques revel (Hg.), La nouvelle histoire, Paris 1978; Pierre Nora (Hg.) Les lieux de la memoire, Paris 1984; Patrick Hutton, Collective memory and Collective Mentalities: The Halbwachs-Ariès Connection, in: Historica Reflections 1988/15, 311-322.
6 Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 1990/1, 75-81.
7 Heinz von Förster, Albert Müller u. Karl H. Müller, Im Goldenen hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte, in: ÖZG - Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1997/1, 129 - 142, hier 130.
8 Walter Benjamin, A Berlin Chronicle, 314, in: ders., One Way Street and Other Writings, London 1979.

Dr. Gerhard Baumgartner
Paulinengasse 28/17
A-1180 Wien
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Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 39 (2/1997), S. 33-43.