Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik


schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen                  schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen

(Eugen Gomringer)
 

Unbewußte Zeitgeschichte in Österreich1

Psychoanalytische Betrachtungen über das Fortwirken des Nationalsozialismus

Karl Fallend2

 

"Alles um mich herum ist Spätfolge..."
(Grete Weil)

Mein Name ist Karl Fallend. Ich wußte lange nicht warum, bis ich erst vor kurzem erfuhr, daß noch jemand diesen Namen trug: Karl Fallend, mein Onkel, von dem ich nichts weiß, außer, daß er als 18-jähriger freiwillig eingerückt (mein Vater war damals 10 Jahre alt) in Rußland umkam. Durch mich konnte er ein Stück weiterleben.
Ein Student erfuhr während meines Seminars, warum in seiner Familie sämtliche Vornamen mit A beginnen. Anton, Alfred, Anna, Angelika usw. Es war eine Form des Gedenkens an den Führer.
Nicht nur Verwandte oder nahestehende Personen, auch das untergegangene Dritte Reich in Führer und Idee, konnten bis heute zumeist nicht durch Trauer bearbeitet werden. Es sind Formen mißglückter, weil unterdrückter Trauer, die in Österreich weitverbreitet sind. Die Psychologin Dina Wardi (1992) prägte den Ausdruck von den "Kindern als Gedenkkerzen".
Österreich ist ein 'unheimliches' Land. Im Wort unheimlich steckt einerseits 'heimlich' - also verborgen, vertraut - andererseits deutet die Vorsilbe 'un' das gleichzeitige Gegenteil an. Sigmund Freud brachte eine solche Stimmung auf den Punkt: "Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis betrifft, das im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist." (Freud, 1919, 236) Dieses ständige Hervortreten von Verborgenem ist seit Jahrzehnten österreichischer Alltag.
Der Titel meines Beitrages: 'Unbewußte Zeitgeschichte' nährt unbedacht ein Mißverständnis, weil er sich auf den deskriptiven Gehalt des Terminus zu beschränken scheint; d.h. auf alle im aktuellen Bewußtseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte, ohne Unterscheidung zwischen vorbewußt und unbewußt. Im topischen Sinne ist der adjektivisch gebrauchte Terminus, der alle verdrängten Inhalte bezeichnet, die dem System Vorbewußt-Bewußt verwehrt sind, in diesem Zusammenhang nicht zu verwenden. Die schon in die Umgangssprache eingedrungenen Formulierungen von 'den verdrängten Jahren' des Nationalsozialismus, einer 'verdrängten Geschichte' sind Bestandteil dieser Irreführung. In Österreich ist der Nationalsozialismus jedoch keine verdrängte Geschichte. Sie war und ist eine mit großem emotionalen Aufwand unterdrückte Geschichte, ständig latent und kontinuierlich präsent. Beobachtet man aufmerksam öffentlichen Diskurs und Berichterstattung, so bezeugt das Ergebnis keine Verdrängung: nach mehr als 50 Jahren vergeht buchstäblich kein Tag, an dem der Nationalsozialismus nicht in irgendeiner Form thematisiert wird. Diese alltägliche intellektuelle Konfrontation mit unserer Geschichte im Nationalsozialismus provoziert gleichzeitig eine Kultivierung von psychischen Abwehrmechanismen, um dieser Auseinandersetzung nicht ständig emotional begegnen zu müssen.
Es ist erstaunlich, wie sich in Österreich diese Abspaltung von den Affekten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wiederspiegelt. Mit der vermeintlich objektiven, historischen Bearbeitung und Darstellung des Nationalsozialismus lassen sich schon Bibliotheken füllen; zig Symposien, Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen stehen jährlich auf dem Programm der offiziellen "Vergangenheitsbewältigung". Die umfassende und beachtliche zeitgeschichtliche Forschung in Österreich belegt die Virulenz der Fragestellungen, wobei sie - im Zuge der Waldheim-Affäre - jedoch ihr Versagen in der öffentlichen Bewußtseinsbildung eingestehen mußte. (vgl. u.a. Ardelt, 1988, Botz, 1994,  Hanisch, 1994) Mit den Forschungsschwerpunkten über Widerstand und NS-Terror war die Normalerfahrung von Herrn und Frau Österreicher nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Räume emotionaler Aneignung blieben so verschlossen. "Die NS-Sümpfe gären hierzulande noch, sie sind noch lange nicht trockengelegt. Daher muß man die bisherige, wenig differenzierte Antifa-Linie weiterführen. Der Preis dafür ist jedoch offensichtlich: Die überwiegende Mehrheit der Österreicher folgt dieser Linie eben nicht, die wissenschaftliche Zeitgeschichte bewegt sich im Ghetto." (Hanisch, 1994, 154)
Ein solches Problembewußtsein muß anderen Zünften der professionellen Erinnerungsarbeit noch abverlangt werden. Die wissenschaftliche Seelenforschung in Österreich hat diesbezüglich einiges nachzuholen. Mit wenigen Ausnahmen scheint sich in dieser Forschungslücke jene "Opferthese" wiederzuspiegeln, die die Nachkriegsidentität Österreichs mitkonstruierte. Die inzwischen umfassenden Arbeiten der KollegInnen aus Deutschland scheinen dazu angetan, die spezifisch österreichischen, persönlich unterschiedlichen Erlebnisweisen in deren Ergebnissen bruchlos aufgehen zu lassen.
Versucht man nämlich in Österreich auf psychologische Fragen Antworten zu finden, ist die Anzahl der Publikationen bis Ende der 80er Jahre annähernd Null. Lediglich drei psychologische Dissertationen beschäftigen sich mit den Folgewirkungen des Nationalsozialismus; und die stammen bezeichnenderweise aus den Jahren 1948 und 1950.3 In den vergangenen Jahren waren es in Österreich v.a. vier PsychoanalytikerInnen, die schriftlich an die Öffentlichkeit traten; allesamt jüdische AnalytikerInnen aus Wien - Elisabeth Brainin, Vera Ligeti, Samy Teicher (1989; 1993) und Felix de Mendelssohn (1987; 1996) - die aus je eigenen Betroffenheiten das jahrzehntelange Schweigen durchbrachen.4
Ein beredtes Schweigen, wenn man bedenkt, daß von diesem historischen Einschnitt des Nationalsozialismus, von Unterdrückung, Krieg, Verfolgung und Massenmord, jede Österreicherin/jeder Österreicher in irgendeiner Form betroffen ist. Österreich, das Land von Hitler, Eichmann und Stangl, das Land in dem proportional mehr Nationalsozialisten organisiert waren als in Deutschland oder Österreicher einen großen Teil der KZ-Wachmannschaften stellte. Ein Land von Großeltern und Eltern, unserer Großeltern und Eltern, die in irgendeiner Form beteiligt waren, mitgejubelt, mitmarschiert, weggeschaut, in den seltensten Fällen Widerstand geleistet und zumeist Jahrzehnte darüber geschwiegen haben. Diese Diskrepanz zwischen alltäglicher Konfrontation und jahrzehntelanger Blockade ist in der Unfähigkeit - angesichts des Ausmaßes der Katastrophe oft auch Unmöglichkeit - zur emotionalen Begegnung begründet. Schon aus diesem Grund scheint es mir gerade in Österreich unumgänglich, die Auseinandersetzung - und eben auch die wissenschaftliche - mit dem Nationalsozialismus in erster Person - in 'Ich' - zu führen und die eigenen psychischen Barrieren als Wegweiser der Erkenntnis zu begreifen.

Vor nicht langer Zeit las ich die Dankesrede eines international anerkannten österreichischen Zeithistorikers anläßlich der Verleihung eines Staatspreises. Ernst Hanisch (1997) war der Geehrte für sein Buch "Der lange Schatten des Staates", ein Schatten, der ihn schließlich selbst einholen sollte. Was war passiert? Von Ruth Beckermann und Walter Reiter (1996) eindringlich kritisiert, mußte sich Ernst Hanisch u.a. damit auseinandersetzen, in seinem Buch den berühmten österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter zum Juden gemacht zu haben, obwohl er keiner war, ja der sogar selbst durch antisemitische Aussprüche hervortrat. Tiefsitzende Vorurteile über Aussehen, Sozialstatus und Herkunft führten zu dieser Fehlleistung und schließlich auch zur Einsicht, daß der Philosemitismus tatsächlich häufig nur einen umgekehrten Antisemitismus darstellt. Was mich an Hanischs kurzen Rede beeindruckte, war, daß der als penibel und zeitweise als überkorrekt bekannte Wissenschaftler sich nicht nur der Kritik, sondern öffentlich auch der Selbstkritik stellte, daß Hanisch erkennen mußte - nein, er mußte nicht - er erkannte, daß nicht nur das Ich die schreibende Feder des Wissenschaftlers führt. Auf seiner Reise durch die Fachliteratur und Archivbestände, auf der Suche nach Daten- und Faktenmaterial waren die nationalsozialistisch gesinnte Familie, in der er aufwuchs, die katholische Kultur am Pfarrhof, die  - wie er schrieb - "in ihrer Tiefenstruktur, in der Wahl der Bilder, in ihrem Imaginären antijüdisch geformt" (ebenda, 145) war - seine ständigen Wegbegleiter, die die Fehlleistung zutage förderten. Eine Fehlleistung, die konstruktiv erst dann einen Sinn erhielt, als er sie zur Diskussion stellte.

Der französische Psychoanalytiker und Feldforscher Georges Devereux beschrieb in seinem Buch "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" (1976), daß in der Sozialforschung die inneren Vorgänge des Forschers das elementare Erkenntnismittel darstelle, die Gegenübertragung das entscheidende Datum der Forschung sei. Für Devereux ging es vorrangig um die Analyse der Ängste, "die durch eine von der Gegenübertragung inspirierte Pseudomethodologie abgewehrt werden." (ebenda, 18) Aus diesem Grund plädierte Devereux dafür, die Daten der Forschung unter drei Gesichtspunkten aufzuschlüsseln:
"1. Das Verhalten des Objekts.
2. Die 'Störungen', die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden.
3. Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine 'Entscheidungen' (d.h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt)" (ebenda, 20)
Es ist ein leichtes, sich Devereuxs Forschungsperspektive zur Prämisse zu machen. Bei der Durchführung stellt sich jedoch heraus, wie schwierig dieses Unterfangen ist, wie groß die Versuchung, wie zahlreich die Verlockungen sind, sich dieser Perspektive zu entziehen. Insbesondere wenn Ängste traumatische Intensität erreichen, sind die Grenzen der Erkenntnis eng gesteckt, die auch mit analytischem Beistand kaum, oder nur schwer zu erweitern sind. In der (deutschen und österreichischen) Erforschung des Nationalsozialismus werden in dieser Hinsicht Extremwerte erreicht. "Wer sich der Geschichte des Nationalsozialismus auf dem Wege der biographischen Recherche nähert, gerät, was immer er untersucht, in gleichsam familiäre Nähe zur Unmenschlichkeit." (Schneider u.a., 1996, 10) Wenn in der Phantasie libidinös ödipale Verstrickungen und das Grauen des industriellen Massenmords zu zwei Seiten einer Medaille verschmelzen, werden Grenzen der Erträglichkeit erreicht. Unter diesen Vorzeichen scheint es fast unmöglich, daß für den Forscher die Methode (auch die psychoanalytische) nicht zum Mittel der Angstabwehr degradiert und das Unbewußte sich vielfältigen Raum verschafft.

Auch 'gesellschaftlich produziertes Unbewußtes' (Erdheim) führte in Österreich zu Sprachlosigkeit. Das offizielle Geschichtsbild - Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus - war gerne angenommen. Die "Moskauer Deklaration" (1943) funktionierte wie eine Schere im Kopf. Sie erspart bis heute die Schuldeinsicht gegenüber den wahren Opfern. So ist bis heute die Entschädigungsmoral gegenüber den Juden und anderen Opfern des Nationalsozialismus gering. Inwieweit diese weitere Unterdrückung der NS-Opfer in Österreich einen spezifischen psychischen Niederschlag findet, kann ich nur erahnen. Zur Erhellung dieser Problematik ist von der akademischen Psychologie in Österreich nichts, den Psychotherapeuten bis jetzt noch wenig zu erwarten.
Nach 1945 versuchten die Angehörigen der "Kriegsgeneration" die fluchbeladene Vergangenheit durch Wiederherstellung der republikanischen Demokratie ungeschehen zu machen. Manche Täter wurden abgeurteilt, während viele andere erst nach Jahrzehnten halbherzig zur Rechenschaft gezogen wurden. In kürzester Zeit schien es, als ob es eine Idealisierung des Nationalsozialismus nicht gegeben hätte. Begründungsmuster von Befehl, Gehorsam und 'Pflichterfüllung' traten an die Stelle von innerem Einverständnis, bis hin zur 'Derealisierung' der Historie. (Dahmer, 1989) Und wenn die Kinder die lebenserhaltende, emotionale Zuwendung der Eltern nicht gefährden, die Eltern und sich selbst nicht überfordern wollten, mußten sie zum Schweigen der Eltern ebenfalls schweigen - oder rebellieren.
Die Studentenbewegung der späten 60er Jahre brach zwar auch in Österreich das Schweigen, verdeckte jedoch zumeist die eigenen familiären Verstrickungen. Es folgte bloß einfühlungslose Anklage. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung verriet nicht nur die schmerzhafte Aufhebung einer Blockade, sondern auch das unbegriffene Erbe. Ob sie wollten oder nicht, sie waren Kinder ihrer Eltern und mit ihnen identifiziert, und sei es in der Negation. Väter, Mütter, Lehrer wurden zur Rede gestellt ohne gleichzeitig die eigenen identifikatorischen Verknüpfungen mitzureflektieren. So geriet die Revolte zumeist zum Tribunal. Der Haß auf die Elterngeneration stabilisierte großteils das Gefühl anders zu sein als diese, und machte unfähig, die unbewußten Verbindungen und Ähnlichkeiten zu entdecken.
Obwohl jünger - ich bin Jahrgang 1956 - erinnere ich mich selbst dieses Verdrängungsvorgangs in meinem antifaschistischen Engagement. Die geworfenen braunen Farbbeutel auf den damaligen rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten Norbert Burger waren nicht nur lautstarker und notwendiger Protest, sondern auch der gelungene Versuch die eigenen braunen Farbanteile nicht erkennen zu müssen.
Der von Ligeti, Teicher und Brainin (1989/1993)5 geprägte Begriff der "Deckidentität" - die sie zurecht unter den deutschen und österreichischen Psychoanalytikern nach 1945 erkannten - darf erweiterte Verwendung finden. Der vergebliche wie selbstgefällige Versuch, im Opfer-Täter-Diskurs sich auf die andere Seite zu forschen, zu schreiben, zu reden oder auch zu lieben, dient oftmals nur der Abwehr, sich mit dem Verhältnis zu den eigenen Nazi-Großeltern und Nazi-Eltern auseinanderzusetzen. Er gehört auch zum Repertoire von Abwehrmechanismen im nachfaschistischen Österreich.

Die Art des Generationendialogs hat sich auf Grund der unterschiedlichen Erlebniswelten verändert. War für die 68-er Generation der Nationalsozialismus - über die aktiven Eltern - noch gemeinsamer Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang, waren die Eltern der heute 30-40 jährigen die 'jungen Soldaten' von HJ und BDM, gehören die Eltern der heute 20-jährigen zu den 'Nachkriegskindern'. Doch jede chronologische Metrik bleibt willkürlich, um die sich das einzelne Seelenleben wenig kümmert. Traumatische Fixierungen, Phantasiewelten, Wunschvorstellungen haben je unterschiedliche temporäre Wertigkeit, die sich über Generationen ausbreiten. Das Unbewußte ist zeitlos.
Aus dieser individualpsychologischen Sichtweise erscheinen Sammel-Begriffe wie "Zeitzeugen", "Kriegsgeneration" etc. willkürlich gesetzt. Gerne wird das Jahr 1945 zur Grenzziehung herangezogen, um in der physischen Präsenz einer zeitgeschichtlichen Epoche die Generation 1 zu definieren; Menschen, die nach 1945 geboren sind als 2. Generation usw. Aber das sind statistische Größen, die mit den je individuellen psychischen Erlebnisweisen wenig zu tun haben. Oder Generationen werden in markante politische Zeiteinheiten zusammengefaßt6, um im Drei-Generationen-Ablauf - unterschieden ob sie als Erwachsene oder als Kind den Krieg erlebten - verallgemeinerte Aussagen treffen zu können. (vgl. Rosenthal, 1994, 491f.) Gabriele Rosenthal versucht diesen Kunstgriff, wobei ihr die Grobschlächtigkeit des Unterfangens bewußt ist. Die definierten Generationenabfolgen "sind idealtypisch; die empirisch vorfindbaren Generationenabfolgen weichen von diesen Idealtypen mehr oder minder ab. (...) Die Generationen lassen sich auch jahrgangsmäßig nicht klar voneinander abgrenzen, es handelt sich vielmehr um fließende Übergänge. Doch innerhalb einer Generation gibt es 'zentral' gelagerte Jahrgänge, die dem jeweiligen Idealtypus besonders nahekommen." (ebenda, 492) Die Frage ist wohl zulässig, inwieweit es sinnvoll ist, die Empirie dahingehend auszurichten, zusätzlich unabhängig sozialer und regionaler Variablen, Trefferquoten zu registrieren, wobei ein konstruierter Idealtypus als Zielscheibe fungiert. Die Beschränkung auf ein Schema der Großeltern-Eltern-Kind Generationenfolge birgt Schwierigkeiten in sich. Heinz Bude verweist auf diese Bedeutsamkeit, inwieweit 'die Folge der historischen Generationen und die Folge der genealogischen Generationen' nebeneinander verlaufen können, und so kommt es "manchmal zu signifikanten Überschneidungen, wenn sich der Generationskonflikt an der Verschiedenheit des historischen Geprägtseins entzündet." (Bude, 1992, 81) Allein der Krieg war in der Lage, generationsbildend zu wirken. "Es war die Zufälligkeit des Jahrgangs, die den einzelnen so oder so in das historische Geschehen verwickelte und ihn so oder so schuldig werden ließ. Für die 1924 Geborenen gelten andere Maßstäbe als für die 1927 Geborenen und noch andere für die 1930 Geborenen. Es ist ein Altersabstand von drei Jahren, der die ersten zur schuldigen Generation der jungen Soldaten, die zweiten zur 'skeptischen Generation' der Flakhelfer und die dritten zur 'unbefangenen Generation' der 'weißen Jahrgänge' schlägt." (ebenda, 80f.) Bude mahnt, darauf zu achten, daß ein Generationenkonzept beschränkt ist, weil es weder vertikal (soziale Klassen), horizontal (Regionen) noch linear (unterschiedliche Anhängergruppen) Differenzierungen inkludiert. (ebenda, 85) Als unbedingte Ergänzung ist die Kategorie "Geschlecht" anzugeben, die ganz andere historische Erfahrungsebenen sichtbar werden läßt. (vgl. Gravenhorst, 1997)

Der Berliner Professor für Geschichtsdidaktik Peter Schulz-Hageleit (1995) beschrieb, wie er als sechsjähriger Knabe das Jahr 1945 erlebte. Als Sohn eines SS-Mannes genoß er als kleiner Bub die bis ins Körperliche reichenden Reaktionen der Erwachsenenwelt, als er sie namentlich mit einem stolzen und zackigen "Heil Hitler!" konfrontierte. Als er diese Machtdemonstrationen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches fortsetzte, wurde ihm eingeschärft, dies nie mehr zu wiederholen und auch die Identität des Vaters als Geheimnis zu bewahren. Von einem Tag auf den anderen war das mit Stolz gelebte und demonstrierte Wertesystem abhanden gekommen: "Eine Welt stürzte für mich zusammen" schrieb er "oder vielleicht besser: Sie erstarrte innerlich zu Eis! Was eben noch bewundert und gepriesen wurde (das "Heil Hitler" war dafür ja nur ein Beispiel), sollte plötzlich nichts mehr wert und streng verboten sein? Warum? Für sich allein hätte der ideologische Umbruch wahrscheinlich keine traumatisierende Wirkung entfaltet. Doch eben das war ja das Problem, daß sich der gefühlsmäßige Absturz verband mit diffusen Schuldgefühlen, mit Todesängsten aufgrund der letzten Kriegsereignisse (Tieffliegerangriffe u.ä.) und mit der weitgehenden Unfähigkeit der Menschen, das Geschehen angemessen zu verarbeiten und mit den Kindern zu besprechen." (ebenda, 53)  Für den sechsjährigen Buben Schulz-Hageleit und für viele seiner Altersgruppe eine traumatische Erschütterung, die er erst spät psychoanalytisch bearbeiten konnte. Die aufgearbeiteten Erfahrungen fanden schließlich Eingang in seine berufliche Praxis. Aber das ist die Ausnahme. Oft verläuft es anders.

Vor etlichen Jahren wurde ich - gemeinsam mit meinem Freund Hermann - zum ersten Mal Zeuge einer Neo-Nazi-Demonstration am Hauptplatz unserer Heimatstadt Linz. Nachdem wir uns beide kurz in die kleine Gegendemonstration eingereiht hatten, besuchten wir unmittelbar danach, noch völlig empört und aufgeregt, die Eltern meines Freundes, der ihnen von dieser rechtsradikalen Veranstaltung erzählte. Die Mutter meines Freundes - ich nenne sie Frau Berger - ein herzensguter Mensch, die Frau eines Stahlarbeiters, die noch nie ein lautes Wort verlor und sich noch nie für Politik interessiert hatte, teilte spontan die Empörung ihres Sohnes mit den Worten: "Unterm Hitla hätts des net gebn!"
Vorerst waren wir verblüfft ob des politischen Widersinns, der doch lautete: "Unter Hitler hätte es keine Nazis gegeben." Doch bald wurde uns klar, daß die politisch-historische Realität vorerst wenig gemein hatte mit der sich artikulierten psychischen Realität.
Frau Berger ist Jahrgang 1930 - war also 8 Jahre alt beim Einmarsch der deutschen Truppen - Tochter eines ausgesteuerten, glühenden illegalen Nationalsozialisten in einem kleinen Dorf im Salzkammergut. Der Glaube an den Führer nahm in dieser Familie religiöse Formen an. Das Hitlerbild hing neben dem Kruzifix. Als der Krieg vorbei war, war Frau Berger 15 Jahre. Mit 20 bekam sie ihr erstes von fünf Kindern, wurde eine aufopfernde Mutter und Hausfrau. Eine politisch-historische, geschweige eine emotionale Aufarbeitung hatte nie stattgefunden; Wiederaufbau und Hochkonjunktur ließen Waschmaschine, Auto und Eigenheim Realität werden. Berichte über den Nationalsozialismus in den öffentlichen Medien provozierten eher psychische Abwehr als Aufarbeitung. Die emotionale Verbindung zur Geschichte blieb v.a. über die Identifikation mit dem geliebten und gefürchteten Vater aufrecht.
Das oft als kleines Mädchen gehörte "Unterm Hitla hätts des net gebn!" - sicher auch "Unterm Hitla wirds des net gebn!" - überlebte die Jahrzehnte, bar der politisch-historischen Dimension, kindlich konserviert, als Synonym für Ordnung, Ruhe und Sicherheit, die schon der führende und geführte Vater versprach. Mein Freund Hermann besprach mit mir das Gefühl der Scham, der Ent-Täuschung aber auch der Verwunderung, auf diesem Weg dem unbekannten Großvater näher gekommen zu sein, der schon gestorben war, als Hermann zur Welt kam. Nie war auch nur einmal in der Familie Berger die Zeit des Nationalsozialismus Gesprächsthema. Hermann wußte, er hatte nie die richtigen Fragen gestellt; aber er mußte auch einsehen, daß er Angst hatte, den Antworten offen zuzuhören. Im unbewußten Generationen-Dialog war zwischen Hermann und seiner Mutter ein Pakt des Schweigens geschlossen. Hermanns Familienroman blieb somit ungestört.
 

"Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten.
Es ist doch ein mächtiges Instrument,
es ist das Mittel, durch das wir
einander unsere Gefühle kundgeben,
der Weg, auf den anderen Einfluß zu nehmen."
(Freud, 1926)

Drei Jahre lang leitete ich am Institut für Psychologie der Universität Wien ein Seminar zum Thema: "Zur Psychologie der Folter". Die intensive Auseinandersetzung mit Fragen der Menschenrechtsverletzungen und Täterpsychologie führte uns zur Diskussion über die eigene persönliche Motivation sich solch schwierigen Themen zu stellen. Dabei fiel mir auf, daß der Nationalsozialismus als Teil der persönlichen Geschichten ausgespart blieb. Ich habe daher den Student/innen (die meisten Anfang/Mitte der 70er Jahre geboren) seither das Seminar - unter dem Titel "Unbewußte Zeitgeschichte" - dafür überlassen, (auch in anonymer Form) zu versuchen ihrem eigenen Familienroman nachzugehen. Gespräche mit Großeltern, Eltern, Verwandten, Nachbarn etc. zu führen, um im Kontext der biographischen Überschneidungen die subjektive Distanz von 50 Jahren gegenüber den Gesprächspartner/innen zu relativieren. Die StudentInnen sollten v.a. ihre Empfindungen, ihre Irritationen erkunden und in Form eines Forschungstagebuches schriftlich festhalten.7
Die erste Reaktion mancher Seminarteilnehmer/innen war bezeichnend, jedoch nur von kurzer Dauer: "Was hat das mit mir zu tun?" "Das ist die Angelegenheit der Großeltern-Generation" "Das ist mehr als fünfzig Jahre her" etc.
Bereits die Gesprächsvorbereitungen waren von einer eigentümlichen Nervosität geprägt. Unbewußte Ängste machten sich breit, als es daran ging, sich den Schattenseiten des Mikrokosmos Familie, als bevorzugten Ort der Abwehr und Scheinsicherheit, zu nähern. Im Versuch, der eigenen Familiengeschichte Worte zu verleihen, sahen sich die StudentInnen alsbald mit einer psychodynamischen Wucht konfrontiert, die - auch bei mir - bis zum Rande der Überforderung reichte. Allen kostete es große Überwindung, das Gespäch mit älteren Familienangehörigen aufzunehmen. Über Jahre eingeübte Gesprächsmuster galt es zu überdenken, und man erschrak oft vor der Labilität des Familiengleichgewichts. Dunkle Flecken der Familiengeschichte wurden erhellt, kollektive Biographien oft korrigiert, andere Beziehungen gefunden, mit schmerzhaften Erfahrungen und enormen Kraftaufwand sich den Ent-Idealisierungen zu stellen. Ein paradoxes Phänomen wurde deutlich: das Gefühl gleichzeitig Opfer und Täter bzw. Komplize zu sein. Eine Identifizierung mit Nicht-selbst-Getanem, das nicht zu orten und festzumachen, aber gleichzeitig als schattenhaftes Erbe vorhanden war. Die Unmöglichkeit, etwas zu bekennen oder wiedergutzumachen, was man nicht selbst getan hatte, erzeugte Hilflosigkeit und Verwirrung. Schließlich ging es um Aneignung von Geschichte, die über Generationen in Erinnerungsspuren in jedem Einzelnen zu Bewußtsein kam. Ansonsten bliebe die provozierte Gefühlslage Verführung - einem Krankheitsgewinn ähnlich - sich in Sentimentalität zu flüchten. "Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in der Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben 'erhebende Gefühle' und wird gern gesehen." (Arendt, 1987, 298) Wir waren uns einig in der Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit, die unbewußte Intergenerativität unseres Denkens, Fühlens und Handelns aufzuspüren, bis hin zur Aufdeckung unbewußter Derivate nationalsozialistischer Werthaltungen und Begrifflichkeiten in unserer Alltagssprache. So erschien es uns einmal wichtig von einer globalen zeitgeschichtlich-politischen Perspektive abzurücken und in den Mikrokosmos der persönlich-familialen Alltagssprache einzudringen. Die Sprache als emotionaler Container der Geschichte.

Die sensiblen Beobachtungen und Analysen von Viktor Klemperer waren uns hilfreich und wegweisend. Mit psychologischem Feingespür untersuchte Klemperer über Jahre dieses Eindringen, Festsetzen und Fortwirken nationalsozialistischer Ideologie in den Sprachgebrauch. Er beschrieb seine Erkenntnisse in Tagebüchern und daraus resultierend in seinem 1947 erstmals erschienenen Buch "LTI". 'Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen'.
Es geht dabei nicht um eigene aus der nationalsozialistischen Zeit stammende Wortkreationen - "Das Dritte Reich hat die wenigsten Worte seiner Sprache selbstschöpferisch geprägt, vielleicht, wahrscheinlich sogar überhaupt keines." (Klemperer, 1969, 23) - sondern um die individuell-soziale emotionale Besetzung dieser beschlagnahmten Begrifflichkeiten, Wortgruppen und Satzformen.8 Denn: "der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. (...) Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse." (ebenda, 1969, 23) Wie ein roter Faden zieht sich Klemperers Hinweis auf das Historie und Verdrängtes konservierende Eigenleben von Sprache und er vergleicht dies mit der Gefährlichkeit und vermeintlichen Spurlosigkeit eines Giftes. "Sprache, die für dich dichtet und denkt... Gift, das du unbewußt eintrinkst, und das seine Wirkung tut." (ebenda, 65f.) Niemand bleibt davon verschont. Durch massenpsychologische Intensität und den Faktor Zeit beugt sich auch der aufgeklärte Geist. So schreibt Klemperer, "daß mir all meine kritische Aufmerksamkeit im gegebenen Augenblick gar nichts hilft: irgendwann überwältigt mich die gedruckte Lüge, wenn sie von allen Seiten auf mich eindringt, wenn ihr rings um mich her nur von wenigen, von immer wenigern und schließlich von keinem mehr Zweifel entgegengebracht werden." (ebenda, 226)
Mit dem 'Prinzip Genauigkeit' (Martin Walser) spürt Klemperer noch in Nuancen die Wirkung des LTI-Giftes auf und führt uns in seiner Studie überzeugend vor Augen, wie sehr sich die Sprache des Dritten Reiches in manchen charakteristischen Ausdrücken am Leben erhält und im dauernden Besitz der deutschen Sprache blieb. Oft bleibt nur Staunen, wie sehr man sich an dieses Gift schon gewöhnt hat.
Manche mögen folgendes Beispiel zurückweisen, aber es sollten jene gehört werden, die es erzählen. Bis heute ist es weit verbreitet, kleinen Kindern, die tollpatschig etwas fallen lassen, nicht mit 'Hoppala', sondern mit einem zärtlichen 'Bumstinazi' den Schrecken zu lindern. Einmal nachgefragt, erfuhr ich, daß dieses liebliche 'Bumstinazi' aus den dreißiger Jahren in Erinnerung ist, als man auf diese Weise Sprengstoffattentate der illegalen Nationalsozialisten, leicht verschlüsselt, zustimmend kommentierte. Eine Zustimmung, die sich in kindlicher Sprache konserviert und entfremdet erhalten konnte.

Der über Generationen reichende emotionale Transport findet in Österreich vor allem im infantil verwurzelten, heimelig-vertrauten Dialekt statt, der sich mörderisch zu gebärden vermag. In der intimen Privatsphäre der Alltagssprache, in der Regression auf infantile Sprachmuster, schlägt sich das Unbewußte Bahn. In den verschiedensten Alltagssituationen scheint die Dynamik von Schuld, Rechtfertigung, Verteidigung entledigt und es kommt zur bruchlosen Reaktivierung vergangener Erlebniswelten und verdrängter Werthaltungen vergangener Tage.
"Judn aufhänga" nannte sich ein Kinderspiel, das aus dem Weinviertel berichtet wird. Dabei wurden von den Kindern mit Hilfe einer Zündholzschachtel, Zündhölzer zu einer Pyramide aufgebaut, wonach eines angezündet, sich dieses verbrennend nach oben krümmt. Eine symbolhafte Fortsetzung des Holocaust im Kinderspiel getarnt. Man mag grübeln, wann und wo dieser mörderische Antisemitismus sich historisch im Spiel manifestierte; entscheidender scheint es mir zu erkennen, wo er sich unbewußt Bahn bricht, sich psychisch festsetzt und Nachahmung finden kann.
Es ist nicht verwunderlich, daß sich gerade im Rahmen von Spielsituationen, im regressiven Prozeß der Aufhebung von Vernunft und Kritik, öffentlich tabuisierte Einstellungen besonders leicht und daher oft zum Durchbruch kommen.
Eine Studentin aus Oberösterreich erzählte, daß ihre Großmutter sie mit einem "du spüst jüdisch" zurechtwies, als sie beim Rommé-Spiel die Karten in falscher Reihenfolge auflegte. Beim Tarockspiel kommt vielerorts die niedrigste Karte zur zweifelhaften Ehre "a Jud" genannt zu werden, wenn es ihr gelingt den letzten Stich zu machen. Auch ist es weit verbreitet beim Fußballspiel, wenn der Ball nicht fachgemäß mit dem Rist, sondern mit der Fußspitze befördert wird, das Ergebnis als "an Jud" zu bezeichnen. Ganz allgemein ist es nicht schwierig auf den Fußballspielplätzen den Bogen zur neonazistischen Wiederbetätigung zu registrieren.
 Adolf Hitler
 war ein Rapidler!
Nicht ganz sicher war ich mir einmal auf dem Weg ins Hanappi-Stadion, als dort das x. klassische Derby - Rapid gegen Austria Wien - zur Austragung kam. In der U-Bahn Linie 4 nach Wien-Hütteldorf standen mir zwei 14/15-jährige Burschen gegenüber, die sich unauffällig unterhielten. Kleine grün-weiße Utensilien verrieten nicht nur dasselbe Reiseziel, sondern auch die eindeutige Parteischaft. Die beiden unterhielten sich über Belangloses, als mit gleicher Belanglosigkeit einer den anderen fragte: "Gehst du in den Judensektor?" - womit er den 'gegnerischen' abgegrenzten Zuschauerraum der Austria meinte. Kleidung, Aussehen, sonstiger Gesprächsverlauf und Wortwahl ließen nicht auf Neo-Nazis schließen. Es schien mehr, daß im traditionellen Antisemitismus ein bewährtes Mittel gegeben war, den 'Gegner' zu stereotypisieren und ein tradiertes Feindbild zu konservieren. Es ist kaum anzunehmen, daß die beiden Jugendlichen davon Kenntnis besaßen, daß bis zum Jahre 1938 die Austria als der Verein der Wiener assimilierten Juden galt.9 So bleibt historisch gewachsene Animosität, die sich intergenerativ am Leben erhielt.
Antisemitismus in allen Lebenslagen, der oft - v.a. bei den jüngeren Generationen - unbewußt gelagert und gedankenlos geäußert, in Österreich eine Atmosphäre mitgestaltet, die öffentlichen und politischen Tabubrechern Rückendeckung bietet. Und vice versa sind es jene, die, im kontinuierlichen Rückgriff auf ein NS-Vokabular sukzessiv die Grenzen dieser Tabubereiche aufweichen. Der Vorhang zwischen 'Vorderbühne' und 'Hinterbühne' - eine Metapher nach Erving Goffman, die Christian Fleck und Albert Müller in ihrem (methoden-)kritischen Beitrag (1992) wählen - ist eben leicht verschiebbar, insbesondere wenn die Autoren konstatieren, "daß die Österreicher zwar ungern Antisemiten sind, in ihren Augen der Antisemitismus aber erst auf einem vergleichsweise sehr hohen Niveau anfängt, als solcher wahrgenommen zu werden." (494)
Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zogen zwar Konsequenzen nach sich, der ungewohnt laute Applaus war aber auch nicht zu überhören. Sei es die Antwort des damaligen ÖVP-Generalsekretärs Michael Graff, auf die Frage wann der Rücktritt Waldheims nicht mehr zu verhindern sei: "wenn er eigenhändig sechs Juden erwürgt hat", oder der Ausspruch Jörg Haiders über "die ordentliche Beschäftigungspolitik im Dritten Reich". Und kürzlich entnehme ich der Presse die Beschimpfung ("Stadtschädling", "Volksschädling") des Regisseurs Andreas Gruber (u.a. "Hasenjagd") im Welser Gemeinderat durch den FP-Abgeordneten Helmuth Josseck, der den nationalsozialistischen Bezug seiner Wortwahl damit bestritt, daß es "Typen" wie Gruber "damals" gar nicht gegeben hätte.10 Der öffentliche Protest war kurz und leise. Es gilt nach wie vor, "daß sich zwischen der Benutzung einer des Antisemitismus verdächtigen Redewendung und der kollektiv gebilligten Verurteilung solcher Redepraxis eine breite Kluft auftut." (Fleck/Müller, 1992, 514)
In der sorgfältigen Kritik und notwendigen Problematisierung sozialwissenschaftlicher Messung von Antisemitismus11 erkennen Fleck und Müller den Widerspruch zwischen dem "nahezu zeitgleichen Auftreten eines deutlichen Antisemitismus in der Öffentlichkeit (Waldheim-Affäre 1986) und des Rückgangs demoskopisch vermessenen Antisemitismus (Umfrage 1987)", daß der Antisemitismus eben nicht "operationalisiert als 'Einstellung' in den Individuen 'sitzt'", sondern eine "Ressource darstellt, die im kulturellen Universum der Symbole, Alltagsurteile, Bedeutungen institutionell verankert ist." (ebenda, 512f.) Jedoch greifen die Autoren zu kurz, wenn sie dagegen auf einen 'kollektiven Wissensbestand' - bestehend aus einem 'Kern sicheren Wissens, der durch 'diffusere Wissenbestände getönt wird' - verweisen. Die Bedeutung des Unbewußten, der unbewußte Anteil antisemitischer Tradierung bleibt außer acht, und gerade die Spitze des Eisbergs steht frei zur wissenschaftlichen Verhandlung. Auf die kognitive Ebene beschränkt, gerät somit der Antisemitismus wiederum bloß zur Randständigkeit einer Subkultur.12 Für die Beleuchtung der 'Hinterbühne' der sozialen Alltags-Kommunikation ist jedoch eine psychoanalytische Perspektive vonnöten. In der emotionalen Intensität ödipaler Beziehungsmuster, in der regressiven Tendenz verschiedener sozialer Kommunikationsmuster entfalten sich jene unbewußten Tradierungen, die die Ausgestaltung der österreichischen 'Hinterbühnen' mitverantworten.

'Jüdische Hast', 'handeln wie ein Jud', 'es geht zu wie in einer Judenschule', 'bis zur Vergasung' oder 'durch den Rost fallen', sind in Österreich derart verbreitete Ausdrücke, daß sie zum allgemeinen, zumindest passiven, Wortschatz zu zählen sind. Nicht minder weit verbreitet, obwohl es kaum das Gehör der Öffentlichkeit erreicht, ist unter vielen anderen folgende Formulierung: "do is a Jud drin", als Kommentar für eine - durch ein größeres Tabakstück verhindert - schlecht angezündete Zigarette.
Aus Kärnten wurde der Ausspruch "wie ein Buckeljud" berichtet, der beim Anblick von Menschen, die unter schwerer Last zu gehen haben, Verwendung findet. Der weitverbreitete Brauch, einen Bierkrug vor (bzw. nach) dem Anstoßen auf den Tisch zu stoßen wurde in Niederösterreich mit dem Spruch assoziiert: "Der Tisch ist judenrein!" Ein Kommilitone aus derselben Gegend bestätigte diesen Brauch mit der zusätzlichen Bedeutung des Tischanstoßens: "...die Juden lassen wir nicht mehr hochkommen!" Warum kleine Knallkörper, die zumindest in Oberösterreich "Mäusepiepse" genannt, in Vorarlberg "Judenfürze" heißen, konnten wir nicht eruieren. Und wenn man schließlich stolpert "liegt do a Jud begrobn", sowie "jetzt a Jud gstorbn is", wenn zwei zur gleichen Zeit dasselbe Wort aussprechen.
Aus dem Berufszweig der Maler und Anstreicher hat sich im alltagsgebräuchlichen Fachjargon ein Ausdruck etabliert, der von Deutschland nach Österreich ein Stereotyp schließlich beim Namen nennt. Mir wurde berichtet, daß in (Nord-) Deutschland eine technisch fehlerhaft gestrichene Stelle als "Nase" bezeichnet wird, während in Österreich (ich hörte es in meiner Linzer Ferialpraxis, sowie aus Salzburg und Wien) dasselbe Malheur "Jud" genannt wird. "Du host an Judn lossn", so der Meister zum Lehrling, und das seit Generationen der 'Ausbildung'. Nun habe ich eine Freundin, die dieses Handwerk erlernt und - für eine Frau wohl noch außergewöhnlich - bis zu Meisterehren gebracht hat. Auch ihr Bildungsweg ist für diesen Berufszweig atypisch. Sie besuchte das Gymnasium, wo sie im Fach Geschichte durch fortschrittliche Lehrer und ZeitzeugInnen-Besuche über die Zeit des Nationalsozialismus viel erfahren hatte. In der Familie hingegen war das Thema tabuisiert. Sie hörte den besagten antisemitischen Ausdruck zum ersten Mal als 19-jährige, während ihrer Lehrzeit auf einer Baustelle. Sie war geschockt und empört über diese selbstverständliche Ausdrucksweise, fand aber nicht die Courage, im hierarchischen Verhältnis Geselle-Lehrling dagegen zu opponieren. Noch dazu - so tief hat sich der Antisemitismus in die Sprache eingegraben - ist dieser Ausdruck 'du host an Jud lossn' im berufspraktischen Alltag scheinbar nicht adäquat zu ersetzen. Ihr kam zwar diese Fehlermeldung noch nie über die Lippen; ihre Ersetzungen bleiben aber Umschreibungen, die beim Empfänger nicht exakt jenes gewünschte Vorstellungsbild zu provozieren vermögen. 'Du host an Fehla gmocht', oder 'a freie Stelle lossn' bleiben Artefakt. Wie das 'scherngln' - wenn an einer Stelle die Farbe nicht gut genug deckt und der Grundton durchschimmert - geriet der 'Jud' zur einzig umgangssprachlichen Kennzeichnung einer fehlerhaft freigelassenen Malstelle und zig-mal in täglicher Verwendung. Mörderischer Antisemitismus überlebt somit - gar unersetzbar - im beruflichen Sprachalltag und geht leicht von der Hand. 'Du host an Jud lossn' - so der Meister zum Lehrling - fachgerecht drübergepinselt und er - 'der Jud' - ist weg.

Nichts, rein gar nichts, scheint ausgelassen, an dem Juden nicht schuldig gewesen wären und noch immer sind. Alltäglich werden die Opfer zu Tätern, die Verfolgten zu Verfolgern - alltägliche Schuldumkehr sprachlich manifestiert. Die Nazi-Propaganda vom 'Sündenbock' Jude tut nach mehr als einem halben Jahrhundert noch ihre Wirkung. Vox populi - in lingua veritas (Victor Klemperer).
Nach Semestern der (auto-)biographischen Beschäftigung, Sammlung und Besprechung antisemitischer, pronazistischer Derivate in der österreichischen Alltagssprache machte mich nichts mehr Erstaunen. Mit einer Ausnahme, als das Seminar von der Lingua Tertii Imperii (LTI) gewissermaßen hausintern 'heimgeholt' wurde: Mein Seminar "Unbewußte Zeitgeschichte" am Institut für Psychologie der Universität Wien gehörte stets zu den 'exotischen' Lehrveranstaltungen, die am Rande des Lehrbetriebs gerade geduldet waren. Als externer Lektor kam mir auch nach Jahren des Unterrichts ein extrem randständiger Status in der sozialen Instituts-Ordnung zu. Im Zeichen des "Sparpakets" fand diese Randständigkeit Worte, die österreichweit zu hören waren. In einer Live-Radiosendung "Von Tag zu Tag" im Frühjahr 1996 sprach sie der Vorstand des Instituts für Psychologie - quasi mein Chef - Univ.Prof.Dr. Gerhard Fischer, als er meinte, daß die externen LektorInnen eine "Überfremdung der Lehre" darstellen würden.
Karl-Heinz Brackmann und Renate Birkenhauer wissen in ihrem Buch über 'selbstverständliche' Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus folgende Aufklärung zu liefern: "Überfremdung: zu starkes Eindringen von Nichtdeutschen oder 'Artfremden' in das deutsche Volk; Goebbels 1933: 'die Überfremdung des deutschen Geisteslebens durch das internationale Judentum.'" (1988, 185f.) Wenige Monate später kam die Nachricht von der Streichung meines nicht-remunerierten Lehrauftrags aus dem nächsten Semesterprogramm.13

Vielleicht trifft ein Kinderreim ins Schwarze: ein Kinderreim, mit dem auf Land-Schulwoche nächtliche Ruhestörer in Gelächter und bar inhaltlichen Bewußtseins bedacht wurden:

'Wos is do los, wos wird do gspüt,
im gaunzen Haus ka Hitler-Büd?
des is jo gor net woa,
im Kölla hängan zwoa.'

Ein Kinderreim (woher kommt er?) als treffende Metapher für eine gesellschaftliche Befindlichkeit. Die Hitlerbilder im eigenen Keller hängen tief; oft tiefer als man annehmen möchte.

"Wir wissen nicht, worüber wir lachen."
(Sigmund Freud, 1905)

In der Psychoanalyse gilt der Traum als der Königsweg zum Unbewußten. Er hat aber anderen nichts mitzuteilen und ist einem selbst nur sehr schwer verständlich. Er ist wie die Fehlleistung eigentlich ein 'asozial seelisches Produkt'. Der Witz hingegen ist die sozialste - wie Freud im Superlativ schrieb - aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen. (Freud, 1905, 204) Der gewählte Superlativ macht schwer verständlich, warum sich Freud bloß zweimal (1905, 1927) ausführlicher mit diesem Thema auseinandersetzte und bis heute äußerst wenige PsychoanalytikerInnen den Witz zur Erforschung des unbewußten Seelenlebens als Primäradresse anerkennen.14 Dieses kleine Produkt ('in der Kürze liegt die Würze') bedarf der Sozietät, ist mit dem Drang auf Mitteilung und somit auf andere Personen angewiesen. Der Witz als ein fundamentales Stück Sozialpsychologie.

Es war vor etwa 25 Jahren als einige 15/16-jährige Burschen in einem Jugendzentrum im Arbeiterviertel Bindermichl in Linz zusammenstanden und sich mit Witzen erheiterten.

"Weißt du, wie man 30 Juden in einen VW hineinbringt?
Im Aschenbecher!"15

Ich lachte mit. Aber warum?
Eine generell offene antisemitische Grundeinstellung der Gruppe anzunehmen, ginge an der Realität vorbei. Im genannten Arbeiterviertel war der Nationalsozialismus im bewußten Diskurs meiner Erinnerung nach nie Thema, in politischen Kategorien schon gar nicht. Persönlichen Kontakt mit Juden gab es nicht. Jüdische Kultur und Tradition waren so fremd wie gleichgültig, weil nirgends präsent. Die gemeinsame Lebenswelt war eher geprägt von 68er-Nachwehen, die sich an Woodstock- und Easy-Rider-Klischees orientierten, einer vermeintlich befreiten Jugendkultur, die sich - apolitisch aber antiautoritär - im Möchte-Gern-Probieren von sex, drugs and rock'n roll ausließ. Die selbsternannten und selbstgewählten Identifikationsfiguren konnotierten eine politisch linke Orientierung. So weit ich sehe, gilt das uneingeschränkt bis heute. Durch diesen fehlenden politischen (rechten) Hintergrund, der eine politische Erklärung für die Wirkung des Witzes nahelegen würde, bekommen Freuds Einsichten Gewicht, wenn er meint, daß die volle Wirkung des Witzes vor allem in der Neuigkeit, der Überraschung oder Überrumpelung begründet liegt. Der Witz holt etwas Verborgenes hervor. Sowie die Erkenntnis, daß wir beim Witz fast niemals wissen, worüber wir lachen. "Dieses Lachen ist eben das Ergebnis eines automatischen Vorganges, der erst durch die Fernhaltung unserer bewußten Aufmerksamkeit ermöglicht wurde." (Freud, 1905, 172)
Wie gesagt: innerhalb der jugendlichen Gemeinschaft gab es keine offene Auseinandersetzung über Nationalsozialismus oder Holocaust. Und trotzdem gab es über diesen historischen Zusammenhang eine Menge von Gemeinsamkeiten als Erfahrungshintergrund. Alle wohnten wir in den sogenannten 'Hitler-Bauten', die von den 'Alten' so oft ob ihrer Funktionalität gelobt wurden, gestandene Nazi-Lehrer waren oft gemeinsames Leid, Hitler-Briefmarken besaßen unhinterfragt und unbeanstandet hohen Tauschwert und alle unsere Väter hatten in jenem Stahlwerk ihren zukunftsträchtigen Platz gefunden, der noch wenige Jahre zuvor Hermann-Göring-Werk hieß. Der Geschichtsunterricht war generell von jener typischen Lücke gekennzeichnet, die sich nach 1918 aufzutun pflegte und uns nicht sonderlich interessierte. All das und vieles mehr waren gemeinsamer und selbstverständlicher Bezugsrahmen, der nie hinterfragt wurde bzw. nie im historischen Zusammenhang ein gemeinsames Gesprächsthema bildete. Aber das ist kein Grund zum Lachen.
Über die Technik dieses mörderischen Witzes sind nicht viele Worte vonnöten. Schnell ist er auf den ursprünglichen Sinn reduziert. Durch die Herstellung eines ungeahnten Zusammenhangs - nach Freud: einer Unifizierung - wird der Holocaust thematisiert und dabei eine nationalsozialistische Realität aktualisiert. Die Entmenschlichung der Juden, die massenhaft getötet und verbrannt wurden. Zu Asche wurden.
Auch die Gattung des tendenziösen, als aggressiver, feindseliger Witz ist unzweideutig. Von Interesse ist, daß Freud das Vergnügen, das uns der tendenziöse Witz bereitet, als die Vorlust benennt, die auf tiefere Lustquellen zurückgreift, nämlich auf Themen, die sich im Zustand der Verdrängung befinden. (ebenda, 153f.) Gerade hier kommt das soziale Moment zum Tragen. Ist der Witz schon an sich 'das sozialste aller auf Lustgewinn seelischen Leistungen', er nur im Dialog bestehen kann, bedarf der feindselige Witz die Existenz dreier Personen. Der Witz dient der Anwerbung ('Die Lacher auf seine Seite ziehen'), um, in der Verhöhnung und Erniedrigung, gegen den Feind Bündnispartner zu sichern. "Bei der der aggressiven Tendenz verwandelt er den anfänglich indifferenten Zuhörer durch das nämliche Mittel in einen Mithasser oder Mitverächter und schafft dem Feind ein Heer von Gegnern, wo erst nur ein einziger war." (ebenda, 149)
Beim gewählten Beispiel scheint aufs erste dieser Bezug zu fehlen. In Unkenntnis realer Personen, Kultur und Geschichte tritt ein Wertekatalog in Kraft, der erst im Rückgriff auf andere Erlebniswelten - nämlich die der Eltern und Großeltern - transparent wird, und eine solche Beziehung herzustellen vermag. Das Drei-Generationen-Szenario der Witzgemeinschaft war homogen. Die Großeltern lebten gewöhnlich zig Kilometer entfernt und verkörperten eine Welt von gestern, die vordergründig wenig gemein hatte mit der ihrer Söhne und Töchter. Diese waren durchwegs zwischen zehn und zwanzig Jahre alt, als der Krieg vorbei war und nutzten ihre volle Kraft, um im Zeichen der Hochkonjunktur sich all jene Wünsche zu erfüllen, die sie wenige Jahre zuvor noch gar nicht geträumt hatten. Waschmaschine, Fernsehgerät und Automobil ließen für sie das Jahr 1945 zur Stunde Null werden und im eigenen Grundstück und Hausbau war die ehemalige gemeinschaftliche Sozialisation in HJ, BDM, Napola, Flakhilfe, Wehrmacht und SS eingemauert. Aber die Mauer war löchrig.
Denn wo das Wort versagte, hatten individuelle Phantasien alle Möglichkeiten der historischen (Re-)Konstruktion. Auch wenn kein offenes Wort gewechselt, nie eine Erzählkultur entstand, war in unserer Erziehung - wie ein uniformer basso continuo - jenes Wertesystem erkennbar und spürbar, durch das die Elterngeneration zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen geworden waren. Sei es gelebte Lebensform, Sexualität, Arbeit, Gesundheit, Familie, Ernährung, Kultur usw. in allen Bereichen sind unschwer jene historischen Wurzeln auszumachen, die in der Erde des Dritten Reiches vergraben liegen. Oft waren es nur Floskeln, die die Richtung wiesen: 'Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!', 'Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter!', ad infinitum.
Mit Ausnahmen ohne Drill und Indoktrination, nur in der unbewußten Sehnsucht auch hierin den primären Liebesobjekten nahe zu kommen, haben wir uns über den Witz als Antisemiten ohne Juden dargestellt. In der kollektiven Identifikation mit diesem verschwiegenen und doch stets durchdringenden Bezugssystems war dem Erzähler das Publikum gesichert, das den Witz durch Lachen anerkannte, und damit den Beweis psychischer Übereinstimmung lieferte.
Der Witzerzähler hatte es geschafft, jene sozialen und familiären Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um darin ein Kollektiv zu formen und dies mit dem geringsten Aufwand ermöglicht: "Den psychischen Vorgang beim Hörer, bei der dritten Person des Witzes, kann man kaum treffender charakterisieren, als wenn man hervorhebt, daß er die Lust des Witzes mit sehr geringem eigenem Aufwand erkauft. Sie wird ihm sozusagen geschenkt. Die Worte des Witzes, die er hört, lassen ihm notwendig jene Vorstellung oder Gedankenverbindung entstehen, deren Bildung auch bei ihm so große innere Hindernisse entgegenstanden. Er hätte eigene Bemühung anwenden müssen, um sie spontan als erste Person zustande zu bringen, mindestens soviel psychischen Aufwand daransetzen müssen, als der Stärke der Hemmung, Unterdrückung oder Verdrängung derselben entspricht. Diesen psychischen Aufwand hat er sich erspart. ... seine Lust entspreche dieser Ersparung." (ebenda, 166)
Auch wenn das hier beleuchtete Beispiel schon mehr als zwanzig Jahre zurück liegt, ist es weder Einzelfall noch Vergangenheit. Aktuell konnten meine StudentInnen noch weitere Beispiele in Erfahrung bringen, die in Österreich verbreitet für Heiterkeit sorgen.
Die Beispiele werden so bald kein Ende finden. Im harmonischen Einklang mit der erwachsenen Umwelt, findet das (Wort-)Spiel - als Vorstufe für den Witz - keine Einschränkung. Der Rückgriff auf Stimmungslagen, die über Identifikationsreihen in die frühe Kindheit zurückreichen, scheint deutlich, nämlich zeitgeschichtlich disponiert. Die Stimmung einer Lebenszeit nämlich, "in welcher wir unsere psychische Arbeit überhaupt mit geringem Aufwand zu bestreiten pflegten, die Stimmung unserer Kindheit, in der wir das Komische nicht kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor nicht brauchten, um uns im Leben glücklich zu fühlen." (ebenda, 269)
So mußte eine Bekannte bei einem Verwandten-Besuch erstaunt zuhören, als ihr 5-jähriger Neffe spielerisch und unverblümt, in ständiger Wiederholung von sich gab:

 Gemma brausn noch Mauthausn!
 Gemma brausn noch Mauthausn!

Der Weg vom Spiel zum Witz ist kein langer. Auch bei kritischer Hinterfragung, die diesem Weg ein Ende setzt, verbleibt die unbewußte Sehnsucht, sich dem Kinde zu nähern: "Der Gedanke, der zum Zwecke der Witzbildung ins Unbewußte eintaucht, sucht dort nur die alte Heimstätte des einstigen Spieles mit Worten auf. Das Denken wird für einen Moment auf die kindliche Stufe zurückversetzt, um so der kindlichen Lustquelle wieder habhaft zu werden." (ebenda, 194) Klaus Ottomeyer (1997) verwies auf die aktuelle politische Implikation dieses psychologischen Sachverhalts, wie die 'großen und kleinen rechten Führer mit einem geradezu mütterlichen Instinkt und Sensibilität die Gemengelage von Defiziten ihres Publikums spüren', um sie mit Witz zu bewerben "zur Aggressionsabfuhr bei sukzessiver Zertrümmerung des Über-Ich: Dieses wird gewissermaßen durch die Lachsalven sturmreif geschossen." (119)

Der psychische Niederschlag des Nationalsozialismus äußert sich vor allem in den Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Am intensivsten im Familienzusammenhang, indem die Kinder als Behälter unbewußter Wünsche gebraucht werden. Die Kinder auch als Repräsentanten unerledigter Trauer, die von einer Generation zur anderen übermittelt wird, weil das Schweigen internalisiert wurde. Es sind verunglückte Trauerprozesse, die in vielen Variationen die familiären Verhältnisse nach dem Krieg bestimmten, in denen die folgenden Generationen aufwuchsen. So besteht die schwierige Aufgabe darin, einer Einfühlungsverweigerung entgegenzuarbeiten; zu erkennen, daß der Nationalsozialismus eine österreichische Geschichte, eine Geschichte unserer Großeltern und Eltern und damit unsere eigene ist. Zumindest in Österreich brauchte es ein halbes Jahrhundert, daß man begann, richtige Fragen zu stellen. Endlich geht es darum, den Antworten auch richtig zuzuhören. Ansonsten bleibt Österreich weiterhin ein 'unheimliches' Land.
 

Literatur:

Ardelt, Rudolf: Erinnern für die Zukunft. Die Österreicher und ihr Umgang mit der Vergangenheit. (Vortrag, Internationale Hochschulkurse der Universität Wien. 7.10.1988).

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, 1986.

Beckermann, Ruth / Reiter, Wolfgang: Heimat-Fibel des Kleinen Mannes oder Der lange Schatten der Provinz. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. 7/1996. 135-143.

Botz, Gerhard: Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung: Probleme mit der NS-Vergangenheit. In: Botz/Sprengnagel (Hg.), 1994, 89-104.

Botz, Gerhard / Sprengnagel, Gerald (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker. Frankfurt/M., New York, 1994.

Brackmann, Karl-Heinz / Birkenhauer, Renate: NS-Deutsch. "Selbstverständliche" Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen, 1988.

Brainin, Elisabeth / Ligeti, Vera / Teicher, Samy: Antisemitismus in Psychoanalysen. Zur Identität österreichischer Psychoanalytiker heute. In: Psyche, 1989, 1-19.

Brainin, Elisabeth / Ligeti, Vera / Teicher, Samy: Vom Gedanken zur Tat. Zur Psychoanalyse des Antisemitismus.  Frankfurt/M., 1993.

Bude, Heinz: Bilanz der Nachfolge. Die Bundesrepublik und der Nationalsozialismus. Frankfurt/M., 1992.

Dahmer, Helmut: Derealisierung und Wiederholung. In: Werkblatt. Nr. 20/21, 1989. 7-19.

Danneberg, Erika: Wie leistet man Widerstand? In den Jahren der Tode. Eine Chronik. Wien, 1995.

de Mendelssohn,  Felix: Psychoanalyse als Aufklärung. In: Pelinka/Weinzierl (Hg.), 1987, 42-59. (35)

de Mendelssohn, Felix: Der Antisemitismus und seine Erforschung aus psychoanalytischer Sicht. In: texte, 2/1996. 69-92.

Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1976.

Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/M., 1982.

Fleck, Christian / Müller, Albert: Zum nachnazistischen Antisemitismus in Österreich. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/1992, 481-514.

Freud, Sigmund (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. GW VI.

Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. GW, XII, 229-268.

Freud, Sigmund (1926): Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. GW, XIV, 209-286.

Freud, Sigmund (1927): Der Humor. GW XIV, 384-389.

Frings, Willi: Humor in der Psychoanalyse. Eine Einführung in die Möglichkeiten humorvoller Intervention. Stuttgart, Berlin, Köln, 1996.

Gravenhorst, Lerke: Moral und Geschlecht. Die Aneignung der NS-Erbschaft. Ein soziologischer Beitrag zu Selbstverständigungen vor allem in Deutschland. Freiburg/Br., 1997.

Grotjahn, Martin: Vom Sinn des Lachens. Psychoanalytische Betrachtungen über den Witz, das Komische und den Humor. München, 1974.

Hakel, Erika: Der Einfluß des Krieges auf die Entwicklung junger Menschen. Diss., Wien, 1950.

Hanisch, Ernst: Zeitgeschichte in der Krise! In: Botz / Sprengnagel (Hg.), 1994, 150-156.

Hanisch, Ernst: Bin ich ein Antisemit? In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. 1/1997, 144-146.

Heimannsberg, Barbara / Schmidt, Christoph J. (Hg.): Das kollektive Schweigen. Nationalsozialistische Vergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Köln, 1992.

Klemperer, Victor: "LTI". Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. München, 1969.

Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. Berlin, 1996.

Kos, Wolfgang: Eigenheim Österreich. Zu Politik, Kultur und Alltag nach 1945. Wien, 1994.

Moser, Tilmann: Politik und seelischer Untergrund. Aufsätze und Vorträge. Frankfurt/M., 1993.

Nitzschke, Bernd: "Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden". Voraussetzungen, Begleitumstände und Folgen des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV in den Jahren 1933/34. In: Fallend, Karl / Nitzschke, Bernd (Hg.): Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt/M., 1997. 68-130.

Ottomeyer, Klaus: Psychoanalytische Erklärungsansätze zum Rassismus. Möglichkeiten und Grenzen. In: Mecheril, Paul / Teo, Thomas (Hg.): Psychologie und Rassismus. Reinbek bei Hamburg, 1997. 111-131.

Rosenthal, Gabriele: Zur Konstitution von Generationen in familienbiograpischen Prozessen. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. 5/1994. 489-516.

Schindler, Josef: Psychische Nachwirkungen des Krieges bei Jugendlichen. Eine experimentalpsychologische Untersuchung. Diss., Wien, 1948.

Schneider, Christian / Stillke, Cordelia / Leineweber, Bernd: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburg, 1996.

Schulz-Hageleit, Peter: Geschichte, Psychologie und Lebensgeschichte. Acht Aufsätze. Berlin, 1995.

Shaked, Josef: Der Witz in der analytischen Gruppenarbeit. In: texte, 2/1996. 101-112.

Sprung, Johanna: Über psychische Krieg16sschäden. Eine vergleichend-psychologische Untersuchung. Diss., Wien, 1948.

Walser, Martin: Das Prinzip Genauigkeit. Laudatio auf Victor Klemperer. Frankfrut/M., 1996.

Wardi, Dina: The Memorial Candles. Children of the Holocaust. London, 1992.

Ziegler, Meinrad / Kannonier-Finster, Waltraud: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien, Köln, Weimar, 1993.

Univ.Doz. Dr. Karl Fallend
Rienößlgasse 4/3
A-1040 Wien

http://home.subnet.at/werkblatt/fallend
Karl.Fallend@aon.at
 

1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen des 1. ESRA-Symposiums "Überleben der Shoah - und danach" am 11. November 1997. Für Kritik und solidarische Unterstützung danke ich: Gerhard Benetka, Erika Danneberg, Gabriella Hauch, Josef Patloch, Klemens und Cornelia Renoldner, Judith Riess, Ernst Schmiederer und Josef Shaked sowie dem 'Bad Ischler Kreis': Bernhard Handlbauer, Ulrike Hutter, Ulrike Körbitz, Ann Koellreuter und Karl Mätzler.
2  Karl Fallend. Dr.habil. ist Psychologe und in Wien freiberuflich wissenschaftlich tätig. Außerdem ist er dort Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft. Letzte Publikation: gemeinsam mit Bernd Nitzschke (Hg.): Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. (Suhrkamp)
3 Für wertvolle Hinweise danke ich Gerhard Benetka.
4 Diese Arbeiten sind Produkte aus einer analytischen Forschungsgruppe, die - durch die Waldheim-Wahlkampagne und die v.a. deutsche Diskussion über Psychoanalyse im Nationalsozialismus sensibilisiert - das Problem des Antisemitismus in der analytischen Praxis studierte. Es ist bemerkenswert, daß aus der gemischten Gruppe von Analytikern jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, letztere privatim verblieben. Das Manuskript zur Arbeitsgruppe  "Antisemitismus in Analysen" von Wolfgang Berner hat das Licht der Öffentlichkeit nicht erreicht. (Mendelssohn, 1996)
5 Bei der Lektüre drängte sich mir die Frage auf, ob die entdeckte und beschriebene 'Falle' nicht manchmal auch in der eigenen Verschriftlichung zugeschnappt war. Z.B. wenn Elisabeth Brainin rückblickend einen Besuch bei Anna Freud in London beschreibt, bei der sie sich über das Verhalten der Psychoanalytiker in der Nazizeit informierte: "Es war erleichternd zu erkennen, daß sie (Anna Freud; K.F.) nie mit Böhm oder Müller-Braunschweig übereingestimmt hatte, aber sehr wohl jetzt mit meinen Intentionen und meinem Vorhaben einverstanden war. (...) Mein persönlicher psychoanalytischer Familienroman konnte wiederhergestellt werden, und ich kehrte gestärkt nach Wien zu meiner Arbeit zurück." (Brainin u.a., 1993, 16; vgl. auch Nietzschke, 1997, 118ff.)
6 So in deutschen Forschungen z.B. Großeltern / Wilhelminische Jugendgeneration: 1890-1900, Eltern / Hitlerjugend-Generation: 1922-1930, Enkel / Kinder des Wirtschaftswunders: 1950-1960. (Rosenthal, 1994, 491)
7 An dieser Stelle danke ich den Wiener und Klagenfurter StudentInnen meines Seminars für ihre engagierte Mitarbeit und oft schonungslosen Diskussionen.
8 "Vor allem aber, und dies ist nun eine Meinung, der ich prinzipiell in allen einschlägigen Reflexionen folge, vor allem komme es mir nicht darauf an, die Erstmaligkeit eines Ausdrucks oder einer bestimmten Wortwertung festzustellen, denn das sei doch in der allermeisten Fällen möglich, und wenn man den ersten gefunden zu haben meine, der das betreffende Wort gebrauche, so finde sich immer noch ein Vorgänger hinzu." (Klemperer, 1969, 54)
9 Für diesen Hinweis danke ich Michael John.
10 Claus Philipp: Mehr Schädlinge für Wels. In: Der Standard. 12.7.1997.
11 Vorlage war die groß angelegte Untersuchung "Antisemitismus in Österreich" aus dem Jahre 1987 unter der Leitung von Heinz Kienzl und Ernst Gehmacher, die den unbescheidenen Anspruch erhob, genau und verläßlich erhoben zu haben, wie stark der Antisemitismus in Österreich tatsächlich sei. U.a. kamen sie zu eindeutigen Ergebnissen: "Insgesamt 7 Prozent der Österreicher hat deutliche Abneigungsgefühle gegen die Juden in Österreich. (...) Und der Antisemitismus geht allmählich zurück, es gibt keine Anzeichen eines neuen Auflebens." (zit. nach Fleck/Müller, 1992, 496)
12 Diese enge Optik zeitigt Folgewirkung, die etwa in vorsichtigen Formulierungen zum Ausdruck kommt und der Antisemitismus in Österreich wieder zur Randständigkeit wird, "daß es Orte und Situationen gibt, wo die Artikulation der identischen (antisemitischen) Äußerung nicht als peinlich (i.e. das 'öffentliche' Ärgernis hervorrufend) empfunden wird." Mit der Fußnote: "Diese Behauptung wird gestützt von gelegentlichen mündlichen Berichten, wo es Fremden gelang, in eine antisemitische Subkultur einzudringen." (Fleck/Müller, 1992, 485)
13 Doch ich wollte noch nicht aufgeben. Der Instituts-Vorstand auch nicht. Im Rahmen meiner venia docendi, die mich laut § 25 UOG zur universitären Lehre berechtigt und verpflichtet, bestand ich auf die Beibehaltung meiner Lehrveranstaltung: "Unbewußte Zeitgeschichte. Das Fortwirken des Nationalsozialismus in der zweiten und dritten Generation in Österreich." In einem ablehnenden Brief meinte schließlich Prof. Fischer, daß "der Titel Ihrer beabsichtigten Lehrveranstaltung meiner Meinung nach keine klare Zuordnung zu einem Prüfungsfach unseres Diplomstudienplans erlaubt."
14 Auch im Standard-Vokabular der Psychoanalyse (Laplanche/Pontalis) muß man Humor und Witz vermissen. Unter den Pionieren ist lediglich Theodor Reik zu nennen. Neben Willi Frings (1996), durchbricht aktuell Josef Shaked (1996) die psychoanalytische Tradition der Humor- bzw. Witzlosigkeit.
15 Ich hatte den Witz vollkommen vergessen. Erst im Rahmen meines Seminars kam er mir wieder zu Bewußtsein: "Witze anzuhören ist ein passives Erlebnis, das Weitererzählen ist ein Willensakt, der eine strengere Zensur erfordern dürfte. Im Augenblick des Lachens erfolgt die Eruption des Verdrängten. Durch das Vergessen des Witzes wird das Verbrechen des Weitererzählens verhindert. Indem wir den Witz vergessen, entgehen wir der Schuld, an einer wie gut auch immer getarnten Aggression beteiligt zu sein." (Grotjahn, 1974, 156f.)

Veröffentlicht in: Werkblatt Nr. 39 (2/1997), S. 5-31.