Nr. 39, 2/1997: 59-73 Werkblatt - Zeitschrift für 
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

von 

Bernd Nitzschke

 

Über einige Unfähigkeiten und Fähigkeiten sich zu erinnern und zu vergessen

Die Geschichte des Nationalsozialismus zum Beispiel (1)

Bernd Nitzschke, Dr. phil., ist Diplompsychologe und Lehranalytiker am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Düsseldorf und Psychoanalytiker in eigener Praxis. Letzte Publikation: Wir und der Tod. Essays über Sigmund Freuds Leben und Werk. (Vandenhoeck & Ruprecht)
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Die Größe jeder gewaltigen Organisation
als Verkörperung einer Idee auf dieser Welt
liegt im religiösen Fanatismus (...)

Adolf Hitler (1925/27, S. 385)
 

Die Struktur des Faschisten
zeichnet sich durch (...)
Glauben an die göttliche Bestimmung
des "Führers" aus.

Wilhelm Reich (1933, S. 122)
 

1
Ich erinnere mich. Also nehme ich eine Beziehung zu mir selbst auf. Dadurch werde ich für mich faßbar, greifbar, begreifbar, zu jener abgeschlossenen, die Zeit überdauernden Einheit, als die ich für die anderen, die mich schon immer von außen greifen und begreifen konnten, schon immer, schon von meiner Geburt an, da war. Ich erinnere mich, also bin ich - endlich auch für mich selbst da.

Mein Selbstbewußtsein ist so an die Fähigkeit gebunden, mich an mich selbst zu erinnern. Dadurch erlange ich Gewißheit: Ich war, bin und werde [59] derselbe sein, obgleich ich mich verändert habe und verändern werde. Traditionelle Kollektive haben diesen Identitätsbildungsprozeß durch allerlei Riten und Mythen unterstützt. Der Glaube an den Sinn des individuellen Lebens wurde dadurch so sicher wie der Glaube an die Heils-Geschichte des Kollektivs, in die die individuelle Lebensgeschichte eingebettet werden konnte. Diese religiöse Konstruktion vermittelte dem einzelnen die Gewißheit, Teil eines übergreifenden Ganzen zu sein, und verlieh seiner - an sich nichtigen - Existenz Sinn und Bedeutung. Außerdem ermöglichte diese Konstruktion Orientierung. Zwar blieb Zukunft auch unter dieser Bedingung im Detail noch unbekannt; doch da zwischen Vergangenheit und Zukunft ein Sinn-Zusammenhang hergestellt werden konnte, war Zukunft prinzipiell schon bekannt, war sie doch nur die Fortsetzung einer bereits bekannten Geschichte.

2
Nach einer langen Zeit, während der es viele Götter gab, hatte man endlich einen einzigen Fixpunkt konstruiert, Gott genannt. In ihm ließ sich die unübersehbare Vielfalt des individuellen wie des kollektiven Lebens als sinnvolle Einheit zusammenfassen. Und durch ihn ließ sich eine mit Sinn und Zweck ausgestattete Geschichte denken.

Dieser Gott stand zunächst nur mit einem Volk im Bunde. Später wurde er dann zum Verbündeten vieler (christlicher) Reiche. Und auch noch nach der Erfindung der Nationen war er volksverbunden: Gott mit uns - in god we trust, lauteten die einschlägigen Parolen. Noch etwas später - oder sollte ich sagen: verspätet? - kam es dann inmitten einer bereits wieder gott-los gewordenen und deshalb ziemlich sinn-los empfundenen Welt zur abermaligen Rückbindung eines `Volkes' an eine metaphysische Macht, diesmal Vorsehung genannt.

Als Prophet einer Natur- und Rassenlehre trat ein `Führer' in Erscheinung, der dem `Volk', das ihn gewählt und das er auserwählt hatte, wieder sicheres Geleit durchs Labyrinth der Zeiten versprach. Jeder, der an diesen `Führer' glaubte, konnte Gut und Böse trennen und sein Leben in einen übergreifenden Sinn-Zusammenhang einordnen. Das vergängliche Leben des Individuums konnte wieder mit dem ewigen Leben des Kollektivs verbunden werden. Und so partizipierten Individuum und Kollektiv wieder an einer gemeinsamen Geschichte, die wieder einen Anfang und ein Ende hatte. [60]

Die Prämie für diese Ein- und Unterordnung war ein Rausch: das Gefühl der Verschmolzenheit aller mit allen, die zum auserwählten `Volk' gehören durften. So wurden aus Feiglingen Helden. Und diese Helden-Feiglinge hatten im Namen des `Führers', der `Rasse' und des `Volkes' einen geschichtlichen Auftrag zu erfüllen. So konnten sie ihre Überzeugungen gewissenlos - besser gesagt: gewissenhaft - in die Tat umsetzen. Alle anderen aber, die dem Kollektiv im Wege standen oder dessen `Reinheit' gefährdeten, die Unter-, Halb- und Nicht-Menschen, die Kranken und Schwachen, mußten vernichtet werden. Denn der `Führer' hatte prophezeiht: "Die Nationalisierung unserer Masse wird nur gelingen, wenn (...) ihre internationalen Vergifter ausgerottet werden" (Hitler 1925/27, S. 372). [61] Der SS-Hauptscharführer Felix Landau hat in seinem in Lemberg geführten Kriegstagebuch im Juli 1941 festgehalten, mit welchen Mitteln und mit welch gutem Gewissen dieser Auftrag umgesetzt werden konnte: "Hunderte von Juden mit blutüberströmten Gesichtern, Löchern in den Köpfen, gebrochenen Händen und heraushängenden Augen laufen die Straße entlang. Einige blutüberströmte Juden tragen andere, die zusammengebrochen sind. Wir fuhren zur Zitadelle; dort sahen wir Dinge, die bestimmt noch selten jemand gesehen hat. Am Eingang der Zitadelle stehen Soldaten mit faustdicken Knüppeln und schlagen hin, wo sie treffen. Am Eingang drängen die Juden heraus, daher liegen Reihen von Juden übereinander wie Schweine und wimmern sondergleichen, und immer wieder traben die hochkommenden Juden blutüberströmt davon (...) Nichts dagegen, nur sollten sie die Juden in diesem Zustand nicht herumlaufen lassen" (zit. n. Klee et al. 1988, S. 90 f.).

Das alles sei einem Zivilisationsbruch, einem Rückfall in die Barbarei oder wenigstens einer Rückkehr vormoderner Zeiten geschuldet, heißt es. Im Laufe der modernen Zeiten habe sich das Bedürfnis, Rückhalt in einer metaphysisch abgesicherten Gemeinschaft zu suchen, hingegegen mehr und mehr abgeschwächt. Überwunden worden sei, so heißt es weiter, was vormoderne Kollektive auszeichnete: in der Heilsgeschichte tradierten, im Ahnenkult ritualisierten, im Familienwappen symbolisierten sie die Verschränkung des Individuellen mit dem Allgemeinen. In den modernen Gesellschaften sind die kollektiven Verpflichtungen hingegen als Steuerleistungen und Beitragszahlungen zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung anonymisiert, während die individuellen Freiheiten grenzenlos sind. Ja, man könne heute sogar die Lebensgeschichte von der Kollektivgeschichte abkoppeln. Soweit, so schön. Und man könnte sogar glauben, die Nachfrage nach fundamentalen Sicherheiten, wie sie einst die traditionellen Kollektive garantierten, sei in der modernen Welt tatsächlich nicht mehr vorhanden - gäbe es da nicht noch jene, auf den ersten Blick schwer miteinander zu vergleichenden Gruppierungen: ethnisch organisierte und regional operierende Terrororganisationen, religiös oder nationalistisch inspirierte Erweckungsbewegungen, die wie Pilze aus dem Boden der moderen Welt schießen. Die Vergangenheit hat also schon wieder begonnen - und one world zerfällt wieder in Gruppierungen, die alte Sicherheiten und metaphysische Heilsgewißheiten `fundamentalistisch' zurückfordern. [62]

3
Die Theorie der Individualisierung behauptet, der Autor meiner Biographie sei ich selbst. Mag dies im Fall des sprichwörtlichen Tellerwäschers, der sich heute entschließt, morgen als Millionär weiterzuleben, auch leicht als die Ideologie von gestern zu erkennen sein, im Hinblick auf meine innere Biographie trifft die Behauptung wohl zu: Die in meiner Erinnerung aufbewahrte Lebensgeschichte, vor allem aber der darin enthaltene Sinn - das ist meine Konstruktion. Aus dem Chaos der Ereignisse habe ich Erlebnisse destilliert; daraus habe ich Erinnerungen geformt; und die habe ich zu (m)einer sinnvollen (Lebens-)Geschichte zusammengesetzt. Ich bin also ein Künstler. Und Ich ist ein Kunststück, das wieder in die Brüche gehen, in die Bruchstücke zerfallen kann, aus denen ich mich im Laufe der Zeiten zusammengesetzt habe. Außerdem bin ich ein Geschichtenerzähler. Ich ist aus vielen Gesprächen entstanden, von denen ich manche gehört, die meisten aber, ohne dies zu bemerken, mir selbst erzählt habe.

Ich ist ein Gespinst aus Nacht- und Tagtraumphantasien. Und Erinnerung ist Sinngebung des Sinnlosen, Auswahl, Gewichtung, Zusammenschau disparater Eindrücke, Interpretation der zur Einheit verdichteten Vielfalt. Das Ergebnis dieses Kompositionsverfahrens ist eine Dichtung, Geschichte genannt. Auch die Geschichtenschreiber des Kollektivs, die Historiker, erzählen nur sinnvolle Geschichten - selbst dann, wenn sie Lügengeschichten konstruieren sollten. Das Verblüffenste aber ist: Die Moral, die sie in der Geschichte suchen und finden, ist die Moral, die sie finden wollen. Bewußte und unbewußte Motive, die das Erinnern und das Vergessen leiten, beherrschen also auch die (Re-) Konstruktionen, die die Historiker Geschichte nennen.

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Ich komme damit noch einmal auf den historischen Sonderfall zurück, den ich bereits erwähnt habe. In diesem Fall ist Erinnern (und Vergessen) mehr als sonst Pflicht (und Wunsch), wenngleich darüber, wie diese Pflicht (und dieser Wunsch) zu erfüllen wäre(n), weniger als sonst Konsens besteht. Das ist auch nicht verwunderlich, denn die Geschichte [63] zerfällt in diesem Fall noch offensichtlicher als sonst in viele Geschichten, in die Geschichte vieler Kollektive, in Millionen Einzelgeschichten. Und jeder erinnert sich anders. Die Nachfahren der ermordeten Juden, Polen, Serben, Russen, Sinti und Roma, der liquidierten Kranken, der `asozialen' und der politischen Opposition gegen Hitler - haben keine gemeinsame Erinnerung. Sollte ihrer dennoch gemeinsam gedacht werden? Oder will man, die Opfergruppenmarkierungen der Nationalsozialisten strikt bedenkend, für jede dieser Gruppen ein separates Mahnmal errichten?

Das ist nur eine von vielen Fragen, auf die es keine konsensfähige Antwort geben wird. Eine andere Frage lautet: Will man das `weltanschauliche' Projekt, das Hitler in "Mein Kampf" (1925/27) beschrieben und mit Hilfe eines gigantischen `Rassen'- und Eroberungskrieges zu realisieren versucht hatte, als den Entwurf einer anderen, einer unvergleichlichen [64] und unverstehbaren Welt verstehen? Oder will man darin das Zerrbild - und somit auch das Abbild - von one world erkennen? Anders gefragt: Was ist ein Zivilisationsbruch? Hat sich da jemand überhoben? Ist da einer unter einer Last zusammengebrochen oder stürzt da eine Welt ein, die auf tönernen Füßen stand? Oder bricht da wieder einmal das Böse in die gute oder doch wenigstens in die beste aller möglichen Welten ein? Waren die Täter von gestern also ganz anders als wir - wie uns dies von Goldhagen (1996) so nachdrücklich versichert worden ist? Wolfgang Georg Fischer erinnert sich anders:

"Da stirbt ein gläubiger Katholik, im Wiener Schottengymnasium von Benediktinern erzogen im KZ, nein, stirbt nicht, wird umgebracht, nur weil seine Eltern in den Geburtsmatrikeln der israelitischen Gemeinden in Lomnitz (mein Großvater wurde dort 1866 geboren) und in Preßburg (Geburtsort meiner Großmutter) eingetragen waren" (zit. n. Schmidt 1988, S. 29). Dann aber fügt Fischer der großen Weltgeschichte noch eine kleine persönliche Geschichte hinzu. Und so behauptet er ganz unbefangen, "daß ich als zehnjähriger Volksschüler in Wien sehr traurig gewesen bin, als ich erfuhr, daß ich niemals Hitlerjunge werden könne wie alle anderen in der Klasse, mit Koppel, Braunhemd und Hakenkreuzwimpel. Ich wehre mich gegen die schachbrettartige Auffassung der Geschichte in eine primitive Unterteilung in schwarze und weiße Felder" (1988, S. 34).

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Wie also wollen wir uns an diese Geschichte erinnern? Wollen wir Moshe Zuckermanns Vorschlag folgen und uns in die Situation der Opfer, in eine "Situation totaler Ohnmacht" einfühlen - wenn dies denn überhaupt möglich ist, ohne uns gleichzeitig in die Täter einzufühlen? In diesem Fall könnten wir der Geschichte ein "zivilisatorisches Prinzip" (1997, S. 28) abtrotzen, das uns dazu verpflichtet, heute unmenschliche Befehle rechtzeitig zu verweigern und der Zerstörung fremder Kulturen und der Verfolgung ethnischer Minderheiten überall auf der Welt zu widersprechen.

Wir könnten uns also auch noch einmal an jene erinnern, die als erste gegen Hitler opponierten und als erste ins erste - eigens für sie eingerichtete - Konzentrationslager verschleppt wurden. Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten am 21. März 1933, in der Nähe Dachaus sei "das [65] erste Konzentrationslager eröffnet" worden: "Hier werden die gesamten kommunistischen und - soweit notwendig - Reichsbanner- und marxistischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen (...)" (zit. n. Faksimile-Abdruck in: Richardi 1995, S. 37). Daran also sollten wir uns erinnern: daß damals alle Welt rechtzeitig wußte, was in einem KZ geschah. Prügelstrafen, Baumhängen, Totschlagen wehrloser Gefangener gehörten von Anfang an zum Häftlingsalltag - und die internationale Presse berichtete darüber. So lautete eine Schlagzeile der Wiener Arbeiter-Zeitung vom Januar 1934: "Fünfzig Ermordete in Dachau" (Faksimile-Abdruck in: Richardi 1995, S. 216).

Viele, die damals die notwendigen Mittel in Händen hielten, beeilten sich nicht gerade, den als Sowjetgegner und Kommunistenhasser sehr geschätzten `Führer' in die Schranken zu weisen. Auch die deutschen Industriellen und Bankiers dachten nicht daran, Hitler bei der Zerschlagung der Arbeiterbewegung in den Arm zu fallen. Vielmehr griffen sie ihm mit der "Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft" im Sommer 1933 unter die Arme, damit er sein Vorhaben realisieren konnte. Ein paar Jahre später, als die jüdischen Betriebe `arisiert' waren, hatte sich diese Anfangsinvestition in den neuen Staat schon wieder ausgezahlt - für die Deutsche Bank zum Beispiel, die 1938 "ohne Gegenleistung die gesamte Praxis und Kundschaft des sehr prominenten `nichtarischen' Bankhauses Mendelsohn und Co." übernehmen konnte, wie es in einem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs angefertigten Bericht der US-Militärregierung für Deutschland heißt (O.M.G.U.S. 1985, S. 50).

Im Aufsichtsrat der Deutschen Bank saß damals Philipp F. Reemtsma, der "ausgezeichnete Verbindungen (...) zu den neuen Machthabern in Deutschland" hatte (O.M.G.U.S. 1985, S. 119 ff.) und diese Verbindungen zum Wohle der Deutschen Bank und zum Nachteil einiger anderer zu nutzen wußte.

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Kinder haben keine Schuld an den Taten ihrer Eltern - sie können wegen dieser Taten aber Schuldgefühle empfinden. Also können sie versuchen, das, was ihre Eltern gestern `schlecht' gemacht haben, heute wieder `gut' zu machen. Sie können sich aber auch mit ihren Eltern solidarisieren, deren Taten rechtfertigen und auf diese Weise eigene Schuldgefühle [66] bekämpfen. Oder sie lehnen ihre Eltern vollkommen ab und hassen sie - entgehen deshalb aber noch lange nicht dem Schicksal, sich mit ihren Eltern unbewußt zu identifizieren.

Mögen bewußte Gegenidentifikationen auch noch so sicher erscheinen, irgendwann brennt die Sicherung durch. Dann meldet sich das Abgewehrte in Träumen oder in Tagtraumphantasien oder in unverständlichen Handlungen zurück. Ist dies der Fall, blickt selbst "so'n ewiger 68er" wie Gerd Reinke nicht mehr durch, der als besoffener Kontrabassist der Deutschen Oper Berlin auf einer Konzert-Tournee durch Israel eine Hotelrechnung mit "Adolf Hitler" und damit seine eigene fristlose Kündigung unterschrieb: "Ich bin mir selbst ein Rätsel", resümierte er, als er wieder nüchtern war (DER SPIEGEL 45/1997).

Das kann Richard von Weizsäcker, vormaliger Bundespräsident der BRD, nicht von sich behaupten. Im Gegenteil: Für ihn war schon immer alles klar. Und so beteuert er auch noch heute, ein halbes Jahrhundert später, daß sein Vater, ein hoher Diplomat in Hitlers Diensten, der in Nürnberg zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, ein unschuldiger Mann gewesen sei: "Sein einziger Grund, das Amt zu übernehmen und in ihm auszuharren, war der Versuch, in den Gang der Außenpolitik wirklich einzugreifen, um den Ausbruch und danach die Erweiterung und Verlängerung des Krieges (...) zu verhindern" (Weizsäcker 1997, S. 121 f.). Soweit der Sohn.

Ganz wie der Vater. Der hatte in seinen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefertigten Aufzeichnungen die selbstgestellte Frage, "weshalb ich bis Herbst 39 im Dienst blieb", so beantwortet: "Frieden bewahren (...)" Dann hatte er aber doch noch zu bedenken gegeben: "Schwieriger mag dem Außenstehenden erscheinen mein Verbleib nach Kriegsausbruch." Recht hat er. Und weil er das Recht auf seiner Seite wußte - wollte er es auch in Nürnberg bekommen. Probehalber begab er sich zu diesem Zweck "auf das Diskussionsgebiet", das "bei der Anklage beliebt ist: es habe ja doch keinen Sinn gehabt, für eine verlorene Sache und für ein mit Recht verlorenes System zu kämpfen." Dieser Einwand zählte nicht, denn: "So argumentiert ein öder Rationalismus. Ich behaupte, daß man so nicht rechnen darf. Wenn die Jungen draußen im Feld, in der Luft und auf See ihr Leben einsetzen, so war es die selbstverständliche Pflicht der Politiker zuhause, auch ihre armselige Haut zu Markt zu tragen (...) Und was war das Ziel? Frieden so bald als möglich, und, da dieser Friede mit Hitler nicht zu haben war, Friede ohne ihn." Ja! - Aber: "Die eigene [67] Niederlage wünschen, den Gegner ins Land holen, um Hitler loszuwerden, die Katastrophe herbeiführen, das wäre nicht einfacher Landesverrat gewesen, sondern Verrat an Europa" (von Weizsäcker - zit. n. Hill o.J., S. 432 ff.).

So spricht ein im Frühjahr 1949 von den Alliierten versehentlich als Kriegsverbrecher verurteilter Widerstandskämpfer auch noch nach dem Ende des Regimes, dem er bis zuletzt gedient hatte! Als die Westmächte 1950, nach Beginn des Kalten Krieges, ihren Irrtum endlich einsahen, beziehunsgweise doch noch verstanden und begriffen, was Weizsäcker mit der Umschreibung "Verrat an Europa" eigentlich gemeint hatte, nämlich die Ermöglichung eines allzu frühen Sieges der Roten Armee über Hitler-Deutschland, da begnadigten sie den Mann wieder, für den - trotz Kenntnis der Wahrheit von Auschwitz - free europe wichtiger war als alles andere.

Einige Jahre später, 1985, erzählte sein Sohn, Richard von Weizsäcker, anläßlich des 40. Jahrestages der deutschen Kapitulation eine weitere Geschichte über den Nationalsozialismus. Diese Geschichte fand weltweit Beachtung und wurde allseits mit Lob überschüttet. Wir dürfen also annehmen, daß es sich dabei um eine exemplarische Geschichte gehandelt hat. Und deshalb sei hier noch einmal kurz auf diese Geschichte eingegangen, in der von einem "nationalsozialistischen Regime" die Rede ist, das die "Völker gequält und geschändet" habe. Also ist viel von den Schandtaten dieses "Regimes" die Rede. Die Moral der Geschichte aber lautet: "Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk" (Weizsäcker 1987, S. 22).

Wir, die Nachkommen dieses armen Volkes, sind wütend auf das "Regime" und traurig. Und so bleiben wir "in Trauer" mit all den "Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft" (S. 13) verbunden. Und so verstehen wir längst nicht mehr, was mit dem in Gedenkreden, Leitartikeln und leider auch in vielen wissenschaftlichen Texten zu Schanden gesprochenen und zur Floskel zerschriebenen Begriff “Trauerarbeit” ursprünglich einmal gemeint war. [68]

7
Dieselbe psychische Leistung, die Freud in dem einen Fall "Erinnerungsarbeit" nannte - und er sprach auch schon in diesem Zusammenhang von einer "nachholenden Träne" (1895, S. 229) -, bezeichnete er im anderen Fall als "Trauerarbeit" (1916, S. 430). Die Trauerarbeit hat "eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen". Sie soll die "Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen" (1912/13, S. 82). Trauerarbeit ist Erinnerungsarbeit - und diese Arbeit zielt auf die "nachträgliche Erledigung" (1895, S. 229) bisher unbewältigter Erlebnisse ab (Traumen, Konflikte oder konflikthafter Identifizierungen). Entscheidend ist dabei die affektive Wiederaneignung der Erlebnisse, die verdrängt oder anderweitig abgewehrt, aber nicht wirklich vergessen worden sind, weshalb sie von Fall zu Fall - wie etwa im Fall des besoffenen Kontrabassisten - bewußtlos `erinnert' und wider (bewußten) Willen zu allerlei Handlungen führen können.

Das emotionale Durcharbeiten der mit solchen Erlebnissen verbundenen Affekte und die Aufnahme der zugehörigen Vorstellungsinhalte in das Bewußtsein (und damit ins verfügbare Gedächtnis) sollen zum affektiven Verblassen dieser Erlebnisse führen. Man trauert aber immer nur um etwas Geliebtes, das man einst besessen und dann wieder verloren hat - seien es Menschen oder der Glaube an Gott, an ein Ideal oder an einen `Führer', sei es auch nur die Hoffnung, dieses oder jenes, Heimat oder Glück, eines Tages wieder zu besitzen. Und so kann man auch um verlorene Ehre trauern. Trauer - ist aber immer das Gegenteil der Rache. Oder anders gesagt: Rache ist pathologische Trauer. Damit aus pathologischer Trauer `normale' Trauer werden kann, ist Erinnerungs- und Trauerarbeit nötig. Erinnern, um zu vergessen - so ließe sich das Ziel der Erinnerungs- und Trauerarbeit auch umschreiben, durch die das Bewußtsein und das Gedächtnis erweitert, das Gemüt aber beruhigt werden sollen. Freuds gesamtes Therapiekonzept könnte man deshalb auch als Anleitung zur nachholenden Trauer verstehen.

Was könnte das im speziellen Fall der Täter und ihrer Nachkommen bedeuten? Was haben sie verloren - und worum durften, konnten oder wollten sie nicht trauern? Um die Ermordeten? Das setzt voraus, daß sie diese Menschen geliebt und daß sie deren Verlust deshalb schmerzlich [70] empfunden hätten. Oder trauern sie insgeheim doch eher wegen verlorener Idole und Ideale und schließlich auch wegen verlorener Ehre? Die Analyse der Reaktionen auf eine Rede, die Philipp Jenninger, damaliger Bundestagspräsidenten der BRD, 1988 anläßlich der 50. Wiederkehr der `Reichskristallnacht' gehalten hat, soll helfen, einer Antwort auf diese Fragen etwas näherzukommen.

Auch Jenningers Rede war eine exemplarische Rede. Auch sie hatte ein weltweites Echo. Doch anders als die Rede von Weizsäckers rief Jenningers Rede fast nur negative Reaktionen hervor. Unter Schimpf und Schande mußte er deshalb sein Amt aufgeben - ein Politiker, der sich selbst stets als Philosemit verstanden und alles für die deutsch-israelische Verständigung getan hatte! Was hatte dieser Mann falsch gemacht? Sein Redetext, der auf den Zeilen stand, war durch und durch politisch korrekt. Das hatten die Kritiker zugestanden. Was aber hatte Jenninger zwischen den Zeilen gesagt? Jenninger hatte, bedacht oder unbedacht, bewußt oder unbewußt, seine Zuhörer mit Affekten konfrontiert. Mit Affekten, die keiner je gehabt hatte; und wenn doch einer je solche Affekte gehabt haben sollte, dann wollte keiner daran erinnert werden; und wenn man sich doch daran erinnert fühlen konnte, dann wollte keiner solche Gefühle noch einmal erleben - weil sich keiner schämen, schuldig oder vielleicht sogar als einer jener fühlen wollte, auf die man sonst mit Fingern zeigt.

Welchen Tabubruch hatte Jenninger also begangen? Er hatte sich im Ton vergriffen. Er hatte das Motto befolgt, das Freud der "Traumdeutung" voranstelle: flectere si nequeo superos, acheronta movebo. Die Unterwelt seiner Zuhörer hatte er allerdings sehr heftig in Bewegung gesetzt; und entsprechend heftig fielen die Abwehrbewegungen aus, die sich nicht nur gegen die Botschaft, sondern auch gegen den Boten richteten.

Jenninger hatte - vor allem mit Hilfe emotionaler Codes - noch einmal die verdrängte Liebe zum `Führer' sowie die antisemitischen Affekte und Phantasien beschworen. Er hatte den Untoten noch einmal Blut zu trinken gegeben. Das hätte er besser bleiben lassen. Denn diese Art des Erinnerns paßt nicht zum üblichen Gedenkritual, das Erlebnisse als bewältigt voraussetzt, die unbewältigt auf dem Grund der Seelen liegen. Die von Jenninger gewählte Art des Wieder-Herauf-Holens solcher Erlebnisse ist dennoch sinnvoll, jedenfalls dann, wenn `Trauerarbeit', diese schwerste aller Arbeiten, diese Schwerstarbeit, intendiert sein sollte. [71] Solange die fraglichen Erlebnisse hingegen nur per Deklamation bewältigt worden sind, müssen sie gefürchtet werden - sprichwörtlich wie das Weihwasser vom Teufel.

Unbewältigte, pathologische Formen der Trauer münden in unendliche Leidensgeschichten ein, die zur Inszenierung immer neuer Heldengeschichten (und das heißt: Rachegeschichten - vgl. Nitzschke 1995) zwingen. Trauerarbeit, die diesen Namen verdient, beendet diesen Wiederholungszwang hingegen, indem sie psychopathologisches "Elend" wieder in "gemeines Unglück" (Freud 1895, S. 312), also in erinnerbares und betrauerbares Leiden verwandelt. Nur in dieser Form ist Leiden nicht länger mörderisch.

Ist Trauerarbeit im individuellen Fall schwer genug, so scheint ihre kollektive Verordnung im Hinblick auf eine "`Trümmer auf Trümmer' häufende katastrophische Weltgeschichte" (Zuckermann 1997, S. 28) aussichtslos zu sein. Und trotzdem: "Hätten unsere Vorfahren, die Kriege erlebt haben, ihren Kindern immer wieder vorgehalten, was der Krieg ist, so wäre vielleicht die Erinnerung an so viele heraushängende Eingeweide imstande gewesen, unseren Krieg zu vermeiden. Unsere Vorfahren haben ihre Pflicht nicht erfüllt, wir selber werden hoffnungslos der gleichen Versäumnis schuldig. Weil wir zu feige sind, dem Krieg in sein wahres, scheußliches Gesicht zu schauen, weil wir dieses Medusenhaupt aus unserem Bewußtsein verdrängen, bleibt es lebendig, kommt es aus dem Unbewußten hervor und frißt uns mit Haut und Haaren. Wir führen [72] Kriege, weil wir im Innersten Mörder sind. Wüßten wir das, so könnten wir es nicht bleiben (...) Aber wir wollen es nicht wissen und deshalb bleiben wir es" (Wittels 1924, S. 54 f.). Und deshalb - wäre alle Hoffnung auf die Zukunft der Illusion zu setzen, wir könnten uns mit Hilfe kollektiver Trauerarbeit vom Zwang befreien, die Geschichte endlos wiederholen zu müssen. Denn keine religiöse Illusion - weder das Zurück zum Paradies noch das Vorwärts ins Himmelreich - wird je erreichen, was durch Trauerarbeit erreicht werden könnte.

Fußnote:
(1)   Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 15.11.1997 bei der Veranstaltungsreihe "Eiszeit der Erinnerung" der Alternativen Universität Graz anläßlich der Wehrmachtsausstellung in Graz.

Literatur:
Freud, S. (1895): Studien über Hysterie. GW I, 75-312.
Freud, S. (1912/13): Totem und Tabu. GW IX.
Freud, S. (1916): Trauer und Melancholie. GW X, 428-446.
Goldhagen, D.J. (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin (Siedler).
Hill, L.E. (Hg.) (o.J.): Die Weizsäcker-Papiere, Bd. II: 1933-1950. o.O. (Propyläen).
Hitler. A. (1925/27): Mein Kampf. München (Eher) 1934, 107.-111. Aufl.
Jenninger, P. (1988): "Hitlers Triumphzug mußte den Deutschen als Wunder erscheinen". Eine Rede, die zum Eklat führte. Dokumentiert in: Frankfurter Rundschau, 11.11.1988
Klee, E., Dreßen, W., Rieß, V. (Hg.) (1988): "Schöne Zeiten". Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Frankfurt/M. (Fischer).
Nitzschke, B. (1995): Männerhelden, die einsamen Rächer. Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern. In: Szanya, A. (Hg.): Elektra und Ödipus. Von Penisneid und Kastrationsangst. Wien (Picus), 118-138.
O.M.G.U.S. (= Office of Military Government for Germany, United States) (1985): Ermittlungen gegen die Deutsche Bank 1946/1947 Nördlingen (Greno).
Reich, W. (1933): Massenpsychologie des Faschismus. Kopenhagen/Prag/Zürich (Verlag für Sexualpolitik). Fotokopierter Raubdruck o.J.o.O.
Richardi, H.-G. (1995): Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau. München (Piper).
Schmidt, E.: 1938 ... und was dann? Thaur/Tirol (Österreichischer Kulturverlag).
Weizsäcker, R. von (1987): Von Deutschland aus. Reden des Bundespräsidenten. München (dtv).
Weizsäcker, R. von (1997): Vier Zeiten. Erinnerungen. Berlin (Siedler).
Wittels, F. (1924): Sigmund Freud. Der Mann, die Lehre, die Schule. Leipzig/Wien/Zürich (Tal).
Zuckermann, M. (1997): Zwischen Historiographie und Ideologie. Zum israelischen Diskurs über den Holocaust. Werkblatt, Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Heft 38, 23-43.

Dr. Bernd Nitzschke
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