Zur Einleitung spielt Ralf Binswanger die Erste der „Deux Arabesques“ von Claude Debussy (1862-1918) am Klavier.
RB: Ich glaube, ich muß hier den Widerspruch ins Zentrum stellen.
Das Einerseits - und das Andererseits. Für mich ist es so, daß
Morgenthaler einerseits mit einer ungeheuren Zielsicherheit auf drei Gebieten
entscheidende Beiträge geleistet hat, in denen die Psychoanalyse immer
noch Handlungsbedarf hatte und hat: Er hat die Theorie der Technik, die
Du erwähnt hast, auf eine dialektische Grundlage gestellt; die Grundlage,
die meines Erachtens erkenntnistheoretisch die richtige ist. Zum Zweiten
fasste er die Freud’sche Lehre von der erweiterten Sexualität dialektisch
als Widerspruch zwischen dem Sexuellen und der organisierten Sexualität.
Aus einer bürgerlich-metaphysischen Auffassung machte er eine dialektisch-materialistische.
Das dritte, unser heutiges Hauptthema, ist der Traum. Er hat meines Erachtens
einige Gedanken, die bei Freud nicht zu Ende gedacht waren, weitergeführt.
Das Wichtigste scheint mir hier letztlich weniger das Triebtheoretische
als das Ich-Psychologische: Er hat versucht, die Errungenschaften der Strukturtheorie,
später der Ich-Psychologie, konsequent auf den Traum anzuwenden. Auf
diesen drei Gebieten ist er für mich als Theoretiker ungebrochen aktuell.
Ich persönlich könnte ohne diese Errungenschaften nicht arbeiten.
UK: Morgenthaler ist ja nicht nur ein Theoretiker unter den Analytikern,
sondern - aus meiner Perspektive - auch so etwas wie eine sagenumwobene
Gestalt, über die viele Geschichten kursieren: Während seiner
Jugend war er Jongleur im Zirkus, dann (gemeinsam mit den beiden Parins)
Arzt bei den jugoslawischen Tito-Partisanen, Psychoanalytiker im Nachkriegs-Zürich,
er war Maler, Feldforscher in Neuguinea und Afrika, wo er 1984 mit 64 Jahren
auch gestorben ist. Du warst von Ende 1978 bis zu seinem Tod 1984 bei ihm
in Analyse und beschäftigst Dich bis heute mit dem ‘Vermächtnis’
der Morgenthalerschen Technik, die Du vermutlich in Deiner Dir eigenen
Form weiterentwickelst.
RB: Das ist natürlich eine lange Geschichte. Zuerst muß ich
sagen, daß ich vorher eine Jung’sche Analyse gemacht hatte, später
Psychodrama, und dann war ich noch ein Jahr bei einem anderen bekannten
Züricher Psychoanalytiker. Prägend war, dass ich zum ersten Mal
bei Morgenthaler erlebte, dass das Unbewusste wirklich unbewusst ist. Vorher
dachte ich, unbewusst ist vorbewusst, so wie umgangssprachlich etwa gesagt
wird: „Unbewusst habe ich vielleicht doch eine Wut auf dich, auch wenn
ich dich liebe.“ Dieses umgangssprachliche Vorverständnis konnte Morgenthaler
für mich persönlich in das wissenschaftliche Begreifen des Unbewussten
verwandeln. Es war schon eine unglaubliche Erfahrung, als er zum ersten
Mal bei mir eine Übertragungsdeutung machte, also ein Symptom, mit
dem ich in die Stunde kam, auf eine unbewusste Phantasie zurückführte,
was wirklich etwas total Unerwartetes, Neues aufgemacht hat und wobei ich
den gefühlsmässigen Eindruck hatte, dass alles vorher „petting“
war - erst jetzt haben wir es „psychoanalytisch getrieben“! Das war sicher
eine prägende Erfahrung, die mich dann natürlich auch dankbar
gemacht hat.
UK: Wenn von Fritz Morgenthaler als Lehrer, aber auch als Analytiker
die Rede ist, schwingt nicht selten etwas vom unberechenbaren Artisten,
vom Künstler mit, der etwas herzeigte, riskierte, vorführte und
seinem jeweiligen Gegenüber dadurch mitunter ergreifende Zugänge
zum Unbekannten erschlossen hat, zum Unbekannten in ihm selbst - bis er
ihn oder sie dann irgendwann staunend zurückgelassen hat. Das kann
natürlich bereits teilweise Mythenbildung sein. Jedenfalls stelle
ich mir vor, daß er ein expressiver, vielleicht sogar exzentrischer
Analytiker war, der sich im Kampf um die Hebung unbewusster Kräfte
auf ungewöhnliche, manchmal gewagte Weise selbst aktiv ins Spiel brachte.
Du selbst hast die Verhältnisse mit Morgenthaler als Analytiker
folgendermassen beschrieben: "Soweit er einen Traum deutete, zeigte er
dem Analysanden in der Regel auch, WIE er auf die Deutung gekommen war
(..). Durch dieses Vorgehen entstand eine handwerkliche Atmosphäre
in den Analysestunden und nicht eine mystisch-undurchsichtige".
Dann zitierst Du einen ‘authentischen’, auf Freuds Aussage von der Spiegelplatte
bezogenen Ausspruch Morgenthalers, den ich als provokanten Seitenhieb an
seine in bestimmten Abstinenzvorstellungen geübten BerufsgenossInnen
hinter der Couch empfinde, fast wie ein Diktum: "Ein Spiegel muß
wirklich etwas zeigen, und deshalb muß er glänzen. Der Analytiker
darf im phallisch-exhibitorischen Bereich nicht gestört sein".
RB: Natürlich war er einerseits eine Persönlichkeit, eine schillernde Persönlichkeit. Und ich habe in den langen Jahren, während ich hier in Zürich tätig bin, auch sehen können, dass er nicht immer gut war. Es gibt Analysanden, Analysandinnen, die nicht glücklich geworden sind mit ihm, und ich bin nicht sicher, ob er immer ein guter psychoanalytischer Handwerker war. Ich denke auch, dass das ambivalente Klima, das er in Zürich hinterlassen hat - einerseits der grosse Meister, andererseits auch eine immer wieder spürbare Ablehnung - vielleicht damit zu tun hatte, dass er sich als Analytiker manchmal Dinge erlaubt hat, die auch mit seiner Theorie nicht übereinstimmen. UK: Frei nach Freud ... RB: Ja, vielleicht frei nach Freud. Er hat auch Leute rausgeschmissen. Und in seiner letzten Lebensphase - das betrifft auch mich ein wenig - wollte er möglichst wenig klassische analytische Settings haben. Ich hatte auch nie eines bei ihm. Wir haben sitzend gearbeitet, manchmal mit mehreren Stunden pro Woche, manchmal war er wieder sieben Monate weg. Da gab es sicher Dinge, die mir nicht unbedingt gut getan haben. Vor allem kam sein Tod in einem Moment, wo eine Vertiefung der Übertragung da war; ich hatte lange unterschätzt, WIE schwierig das war. Das ist dieses ‘Einerseits’: Für mich ist er nicht in erster Linie Vorbild durch die Art, wie er mit mir gearbeitet hat, sondern als Theoretiker in den Kerngeschäften der Psychoanalyse. Das ist es was auf der anderen Seite wirklich bleibt das, was er schreibend hinterlassen hat. Seine Arbeit mit mir konnte ich als Illustration seiner Schriften erleben, wodurch sie mir sicher leichter zugänglich wurden als vielen Anderen. Ich finde es eben wichtig, wenn wir die Erfahrung mit ihm betrachten, von diesem Meisterhaften, Schillernden zu abstrahieren und zu schauen, was heute brauchbar ist, was wir heute aus diesem Steinbruch rausnehmen können, um unser Haus besser zu bauen. Zweitens lege ich Gewicht darauf zu sagen: Er arbeitete nicht grundsätzlich anders als Freud. Wenn er diese handwerkliche Atmosphäre geschaffen hat, gezeigt hat, wie er auf etwas kommt und das zum Teil noch theoretisch erklärt hat, ging er ganz ähnlich vor wie Freud, wie wir beispielsweise auf den ersten Seiten des ‘Rattenmannes’ lesen können, wo er ihm ganz vieles erklärt hat. Es ist ein Dialog. Und es entspricht einer Degenerationserscheinung des psychoanalytischen mainstreams zu meinen, man müsse sich hinter der Couch verstecken. Nach wie vor stehe ich hinter diesem Zitat: Man muss sich zeigen können. Wir müssen nicht immer exhibieren, aber wir müssen in der Lage sein zu zeigen, was wir jetzt machen, warum wir was machen und unter Umständen sogar bestimmte Gefühlsreaktionen und Phantasien, die bei uns selber entstanden sind und über die wir auf etwas kommen, darzustellen und zu zeigen. Was hier fehlt: Morgenthaler hat es jeweils so formuliert: Wir können nicht vom Analytiker verlangen, dass er nur noch eine Restneurose hat und sonst unneurotisch ist - man soll nur von ihm verlangen, dass er in den 50 Minuten, während er mit der Analysandin, dem Analysanden sitzt, seine ‘Püffer vor der Türe lässt.’ Was undurchsichtig bleiben soll, so gut das geht, sind tatsächlich die eigenen Konflikte, neurotischen Verarbeitungen usw., die zeige ich auch nicht, das ist nicht die Spiegelplatte. Hingegen zu zeigen, wie ich auf etwas komme, ist die Spiegelplatte, verstanden im dialektischen Sinne: Die ‘These’ der Analysandin, des Analysanden löst eine ‘Antithese’ bei mir aus und das ergibt vielleicht die folgende ‘Synthese’. Die Wirkung, die der Analysand, die Analysandin auf mich hat, wird, soweit ich sie brauche, um arbeiten zu können, eben auch besprochen. Die Spiegelplatte glänzt. Dieser zweite Teil des berühmten Freud-Zitats ist meines Erachtens und im Erachten von Morgenthaler immer falsch gelesen und missverstanden worden. UK: Ich komme kurz noch zu einem weiteren Aspekt. Du selbst bist ja politisch seit langem in einer Gruppierung der ausserparlamentarischen Linken organisiert. Wie würdest du denn die Hinterlassenschaft Fritz Morgenthalers in ihrer politischen Dimension einschätzen - eingegrenzt auf interne Struktur und Politik der psychoanalytischen Institutionen und das Verhältnis von Psychoanalyse zu gesellschaftlicher Realität? Wäre er deiner Einschätzung nach eher als Anarchist zu sehen oder mehr als autoritärer Stammeshäuptling oder ganz woanders? RB: Da sind jetzt gerade ein paar Ebenen vermischt. Ich schrieb in einem Statement zu dieser Frage einmal, daß Psychoanalyse und Politik zwei verschiedene Währungen sind. Was im einen Währungssystem gehandelt wird, ist im anderen Währungssystem nicht handelbar. Damit habe ich mich eigentlich gegen alle Versuche gewendet, die in irgendeiner Form aus der professionellen Tätigkeit als Psychoanalytiker was Politisches für die Gesellschaft ableiten. UK: Das verstehe ich schon. Dennoch war Morgenthaler zusätzlich zu seinem Analytikerdasein auch ein gesellschaftlich-agierender Mensch, sodass sich die Frage zumindest stellt. RB: Ja, ich möchte zuerst hier weiterfahren und komme dann nachher
auf das Andere. Seinen entscheidenden politischen Beitrag würde ich
in der strikten, konsequenten Anwendung der materialistischen Dialektik
auf die Psychoanalyse sehen. Diese Dialektik ist sozusagen der Wechselkurs
zwischen dem Psychoanalytischen und dem Politischen. Ich kann mit der gleichen
Methodik eine Lesehilfe herstellen für Morgenthalers Technik (das
habe ich in Bern gemacht) und für das Kapital von Marx. Hier kommt’s
für mich zusammen und Morgenthaler hat mir dabei geholfen, die Dialektik
besser zu verstehen.
UK: Kommen wir zu Morgenthalers Theorie der Technik der Traumdiagnostik.
Es geht ihm hier um die Unterscheidung zwischen unbewußten Ich-Anteilen,
die durch Assoziationen der TräumerInnen zum Traum zugänglich
werden können und der unbewußten Traumtendenz. Diese Traumtendenz
müsse zuerst aufgedeckt werden, sie zeigt an, wohin die Reise, die
emotionale Bewegung zwischen AnalytikerIn und AnalysandIn (im Zusammenhang
mit den Traum) geht; erst dann können Inhalte der unbewussten Ich-Anteile,
Assoziationen, Phantasien sinnvoll mit der Traumerzählung verknüpft
werden. Das Problem bei Morgenthaler sehe ich darin, dass er keine eigentliche
(Meta-)Theorie zum Traum hatte. Wie Du vorhin schon gesagt hast, ist er
in seinen Texten häufig ungenau, zitiert grundsätzlich nicht,
verwendet schöne metaphorische Beschreibungen, die nachhaltig wirken
können auf diejenigen, die sich ihrer - manchmal durchaus verwirrenden
- Anziehung öffnen wollen. Seine Schriften sind fragmentarisch, ihre
Inhalte haben die Tendenz, sich wieder zu verflüchtigen. In einer
Diskussionsgruppe kamen wir kürzlich zu dem Schluss, es sei in vielen
Punkten vermutlich sinnlos zu fragen, was Morgenthaler genau gemeint haben
könnte. Er sei eher einem schreibenden Künstler vergleichbar,
weniger einem Kunsttheoretiker.
RB: Das hatte Morgenthaler ja noch vorgehabt, mit seinem Vorsatz, die ganze Traumdeutung nochmals durchzuarbeiten und so diese Metatheorie noch zu schaffen. Daran hat ihn der Tod gehindert. Wir müssen mit dem auskommen, was vorliegt. Ich denke, du hast recht. Man kann natürlich herauszuarbeiten versuchen, was er wirklich meinte, aber das kann nicht das Ziel sein. Unser Ziel müsste sein, aus dem Steinbruch das rauszunehmen, womit wir unser Haus weiterbauen können. Das Haus wäre in unserem Fall der Umgang mit Träumen respektive mit Traumerzählungen in der psychoanalytischen Situation. Um nochmals auf Freud zurückzugehen: Für mich hat es sich bewährt, nicht in erster Linie Freuds Traumdeutung zu lesen, sondern seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Die wurden mehr als 15 Jahre später geschrieben, und ich habe den Eindruck, Freud hatte es erst dann wirklich im Griff gehabt. Während der Standardsatz der Traumdeutung heisst "Der Traum ist eine Wunscherfüllung“, mit dem meines Erachtens niemand wirklich was anfangen kann, heißt es dann sinngemäss in den Vorlesungen „Der Traum ist der Hüter des Schlafes. Er hütet den Schlaf gegen einen schlafstörenden Reiz, indem er einen Wunsch als erfüllt darstellt, damit der Träumer weiterschlafen kann". Der Wunsch ist also das Ich-Kompatible, mit dem wir weiterschlafen können, und nicht das wirklich aus dem Es kommende, gefährlich Triebhafte. Diese Unterscheidung konnte Freud 1900 noch nicht treffen. Ähnlich ist es mit Morgenthaler. Er hat nicht ganz in den Griff gekriegt, wie er jetzt die Strukturtheorie auf die Traumdeutung anwenden will, aber es hat genug Brocken in diesem Traumbuch drinnen, wenn man es dann auch noch verbindet mit dem Technik-Buch, dass man die Zielrichtung, wie wir weiterarbeiten sollen, sehr genau angeben können. Dann kann man sagen, die Traumtendenz, das Triebhafte, das, was sich durch die Traumerzählung im Zwei-Personen-Feld bewegt, stammt aus dem Es. Das ist das, was tief unbewusst wäre. Der latente Traumgedanke, der den Wunsch als erfüllt darstellt, diente der Beruhigung des Träumers, damit er weiterschlafen kann. Darum muss der latente Traumgedanke auch entstellt werden (wir kommen ja nicht direkt auf ihn). Wenn er offen daläge, dann sähe man ja auch, gegen welchen schlafstörenden Reiz er gerichtet ist - dieser würde dadurch bewusst. Es muss beides unbewusst sein. Aber der latente Traumgedanke, die Wunscherfüllung, gehört zum Ich und das, was aus dem Triebleben störend hereinkommt, was uns wecken würde, hat seine Wurzeln im Es. UK: Du hast in einer kurzen Einleitung zum Traumseminar die Traumtendenz mit dem Witz verglichen. RB: Ich bin durch Daniel Strassberg auf die Idee gekommen. UK: Das ist ja ganz spannend. Weil im Gegensatz zum Witz, der von der
Erzählung ‘lebt’, das Träumen zunächst ein asoziales Geschehen
ist, das von Einzelpersonen in der Erinnerung zunächst primär
visuell wahrgenommen wird wie das Treiben auf einer Leinwand. Freud selbst
hat sich zusätzlich zum Traum, zu den Fehlleistungen usw. noch ausgiebig
für den Witz interessiert - unter den vielen Analytikergenerationen
seither führt die Beschäftigung mit Witz und Humor ein Schattendasein,
während die Träume ihr Steckenpferd wurden. Du führst nun
beides wieder zusammen und sagst: "Die Traumtendenz ist das, was wir -
wie den Witz - nicht hören wollen".
RB: Ich lache gerne in den Analysen. Zum ersten, was du sagst, gibt es nichts beizufügen. Die zentrale Frage bei jeder Traumerzählung ist: Warum musste die oder der den Traum haben? Welcher Gedanke, welcher Impuls hätte den Träumer oder die Träumerin geweckt? Der Vergleich mit dem Witz muß insofern erweitert werden, als es beim Witz wirklich nur ums Lachen geht. Aber das, was wir nicht hören wollen im Traum, muss nicht immer zum Lachen sein. Im erweiterten Sinn kann der ‘Witz’ auch eine Kränkung des Analytikers sein oder eine Richtigstellung, wenn er auf dem Holzweg ist usw. UK: Die Pointe ist ja auch nicht immer zum Lachen. RB: Richtig. Die ist gar nicht immer zum Lachen! UK: Obwohl es manchmal schwierig ist, Morgenthaler beim Wort zu nehmen
und zu fragen, was er denn jetzt eigentlich genau gemeint hat, möchte
ich es am Beispiel des „strukturellen Gesichtspunkts“ dennoch versuchen.
Was haben wir uns darunter vorzustellen?
RB: Ich denke, das ist richtig interpretiert. Die Struktur sagt etwas
aus darüber, wie ein Traum als Ganzes gebaut ist, nicht nur die Innenarchitektur
vielleicht, sondern überhaupt die Architektur. Ich bin kein Strukturalist
und habe mich nie gross mit dem Strukturbegriff befasst. Aber wir können
- auf der beschreibenden Ebene - sagen, der strukturelle Gesichtspunkt
beachtet die Gesamtarchitektur des Traumes im Gegensatz zu den einzelnen
Formen. Und dann kann man weiter sagen, jeder Traum wiederspiegelt mindestens
teilweise die Persönlichkeitsstruktur der Träumerin, des Träumers:
Die Architektur des Traumes hat etwas zu tun mit der Architektur der Persönlichkeit.
Diese wird in der Psychoanalyse erfasst durch die Strukturtheorie, genauso,
wie Du sie vorhin beschrieben hast plus natürlich heute alle Ergänzungen
aus Narzissmustheorien usw. Wobei ich im Nachhinein meine eigene Aussage
im Traumseminar "Diese Frau macht an einer Psychose herum" nicht mehr ganz
nachvollziehen konnte, weil der Traum eigentlich sehr gut gebaut war. Ich
denke, der strukturelle Gesichtspunkt hat mit Rückschlüssen aus
der Struktur des Traumes auf die Persönlichkeitsstruktur zu tun.
UK: Ist es ein Überfall, wenn ich Dir im Zusammenhang mit der nächsten Frage ein kurzes Traumbeispiel gebe? RB: Probier’s mal! UK: Der nächste immer wiederkehrende Stolperstein in unserem selbstorganisierten
Traumseminar betrifft die Frage der Umkehrung im Traum. Du sagtest: „Eine
Umkehr (in der Reihenfolge der Erzählung mehrerer Träume) kann
ein Hinweis darauf sein, dass die Zensur mit der Verkehrung ins Gegenteil
arbeitet.“ Wenn wir aber nun keine verkehrte Reihenfolge in der Erzählung
mehrerer Träume haben, wenn beispielsweise nur ein Traum erzählt
wird: Welche Anhaltspunkte können wir im Traum selbst finden, um abzuklären,
ob die Zensur mit der Verkehrung ins Gegenteil arbeitet? Und, wenn ja,
was ‘darf’ dann in der Bearbeitung des Traumes wiederum alles umgekehrt
werden? Die Personen, ihre Tätigkeiten und Eigenschaften (aus Zuwendung
wird zum Beispiel Abwendung)? Kann der ganze Traum, auch seine Abfolge,
‘auf den Kopf gestellt werden’?
RB: Ja nun, in diesem für sich stehenden, ‘nackten’ Traum sehe ich noch keinen Hinweis auf Umkehrung. Höchstens Folgendes: Zwei Personen sind in einem früheren Lebensalter, die Träumerin aber ist in ihrem jetzigen Alter. Hier stellt der manifeste Inhalt einen Gegensatz - früher und jetzt - dar. UK: Gibt es direkt aus dem manifesten Inhalt eines Traumes etwas, das auf Verkehrung hinweist oder können wir das immer nur aus dem Rundherum, also der Traumerzählung, der Sukkzession der Einfälle usw. erschliessen? RB: Ich denke eher zweiteres. Wir haben es in der Stunde ja leichter als im Traumseminar, wir haben das Umfeld, die früheren Stunden usw. Es gibt einfach manchmal Hinweise, wo ich dann nachhake und sage „Aha, da ist eine Umkehrung, zuerst wird der zweite Traum erzählt und dann der erste.“ Oder eine Analysandin kommt herein und fragt ersteinmal, wie es mir eigentlich geht, ob ich Kopfschmerzen habe.... Da ist in der Assoziation eine Umkehr (die Analysandin macht mich zum Patienten); oder der Patient erzählt etwas, dann kommt ein Traum, und in diesem Traum ist beispielsweise etwas genau umgekehrt dargestellt als in dieser Assoziation, die der Patient vielleicht gar nicht auf den Traum bezieht. Ich nehme dann einzelne Anhaltspunkte und schaue, was entsteht, wenn ich umdrehe. Aber ein einzelnes Element ist nie ausschlaggebend; ein Element kann mir höchstens eine Hypothese liefern, dann kommen noch zwei, drei andere dazu und dadurch entsteht der Summationseffekt, der Umschlag von Quantität in Qualität: eine Reihe von Dingen, die plötzlich zu einer bestimmten Qualität von Deutung führen. Manchmal gibt es sehr lange Träume. Das formale Element lang kann man umkehren: Es geht um eine klitzekleine Geschichte. Oder eben ein sehr kurzer Traum wie jener von vorhin weist auf eine Verdichtung vieler Inhalte hin. Dieser Traum ist auch sehr gut zensuriert. Ausser, dass da zwei auf einem Stängeli sitzen wie Hühner, hat es nichts drin, das irgendwie schlecht gebaut wäre, wo wir ansetzen könnten, in den Inhalt reinzuschauen. Da wüsste ich nicht, wie ich auf die Umkehrung komme ... UK: ... aus lauter Verzweiflung! (Gelächter) RB: Aha. Also ich bin auch etwas verzweifelt mit diesem Traum und käme nun eher zu der Überlegung, dass dies wahrscheinlich ein absurder Traum ist. UK: Ja, das haben wir auch gedacht, weil es absurd ist mit den Lebensaltern. RB: Genau, das mit den Lebensaltern und wie die da auf dem Stängeli hocken. Dann würde ich mich langsam fragen, worauf mich die Analysandin bringen will, dass ich’s anders machen sollte und würde die Umkehrung vergessen. UK: So ähnlich war dann schliesslich auch unser Weg nach diesem Umweg. RB: Sehr gut. Dann seid ihr gar nicht verzweifelt. UK: Nur kurzfristig. Ich komme gleich zu einer nächsten Schwierigkeit, die immer wiederkehrt: Wir haben öfter Probleme damit, Kriterien oder Anhaltspunkte für einen Traumteil zu finden. Woran unterscheiden wir ein- oder mehrteilige Träume? Das vorige Beispiel hätten wir als einteiligen Traum definiert. (RB: Ja!) Was könnte nun als Kriterium gelten: Ein Schauplatz- oder Szenenwechsel im Traum? Oder beispielsweise auch ein Wechsel der Perspektive? RB: Es ist ja lustig, dass in den beiden transkribierten Traumseminaren
aus Salzburg zwei Beispiele vorkommen, wo ich etwas heute nicht mehr ganz
so sehe wie damals. Wir dürfen ja nicht vergessen, auch wenn wir Morgenthalers
Seminare anschauen, dass man da in einer Spontanität drinnen ist,
etwas wird suggeriert und man sagt dann was, das einer genaueren Überprüfung
nicht so standhält. Ich behauptete damals zu dem langen Traum, er
hätte drei Teile. Als ich das jetzt nochmals durchlas, waren es nur
noch zwei plausible Teile.
UK Soweit ich verstanden habe, geht es in der Morgenthalerschen Technik
zunächst nicht um Traum-Deutung im Sinne des Hervorhebens einer versteckten,
geheimnisvollen Wahrheit des Traumes, die zu übersetzen wäre.
Es geht in erster Linie um eine ganz spezifische Art, in der sich beide
am analytischen Prozeß Beteiligte wie von aussen kommend, auch von
der Art der Traumerzählung in der Stunde her, langsam in das Innere
des Traumes, in seine unbewußte Tendenz (also in das, was Träumer
UND Analytiker ersteinmal nicht hören wollen oder können) hineinbewegen.
Verstehbar wäre dieser Prozess im Grunde als gemeinsamer Versuch,
den Traum zu formulieren und in eine andere Symbolform umzuwandeln, wie
es der kleinianische Analytiker Donald Meltzer in seinen für mich
stellenweise überraschenden Ähnlichkeiten zu Morgenthaler bezeichnet.
RB: Ich denke, die eigene Analyseerfahrung, die ich mit Morgenthaler hatte, hat mir sicher die Sache erleichtert, das ist klar. Es hat mich überzeugt, und ich habe immer noch eine starke Identifikation mit Morgenthaler. Dies erlaubt mir, in der gleichen Art vorzugehen. Das heisst nicht, dass ich die gleichen Deutungen mache, wie er sie geben würde. Wenn ich die Überzeugung habe, dann kann ich es. Ohne die Überzeugung kann ich es nicht. Dazu kommt, dass es soviel spannender ist und ich den Entschluss zu diesem Vorgehen gefasst habe. Also, erstens die eigene Analyse, zweitens die Überzeugung und drittens der Entschluss. Ferner braucht es die Überzeugung, dass der Freud’sche Traumansatz richtig ist. Die Konzepte, die Freud zum Traum entwickelt hat, sind bei Morgenthaler immer schon vorausgesetzt, wir müssen sie irgendwann kennenlernen und auch anwenden. Dann kannst du üben, probieren. Aber das Schwierigere ist, dass dies alles dich überzeugt. UK: Ein weiterer Komplex, den ich mit Dir erörtern möchte,
betrifft die Methodik des Traumseminars, wie sie von Morgenthaler entwickelt
wurde und heute von Dir selbst praktiziert und weitergegeben wird. In der
strengen Form des Seminarablaufs scheint bereits ein ‘Ärgernis’ eingebaut,
das im Grunde den Gewohnheiten der gesamten analytischen Welt zuwiderläuft:
Eine Teilnehmerin, ein Teilnehmer erzählt einen Traum aus einer von
ihr/ihm durchgeführten Behandlung. Fertig. Danach hat sie/er den Mund
zu halten. Weitere Berichte über den Verlauf der Stunde, über
die Biographie, vor allem über die Assoziationen des/der AnalysandIn,
sind - entgegen der sonst üblichen Seminar- und Supervisionspraxis
- eindeutig nicht erwünscht. Erst am Ende der Gruppenarbeit darf von
der/dem ErzählerIn des Traumes ein kurzer Kommentar abgegeben werden.
Ich erwarte diese Kommentare immer mit Spannung. Sie haben dann oft etwas
von einem bestätigenden Resümee nach der gelungenen Auflösung
eines Kriminalfalles. Nach Überwindung des ‘Ärgernisses’ über
die vorenthaltenen, weiteren Informationen (die alle haben wollen) bzw.
nach dem ersten Schreck über den nun ‘nackt’, wie ein Skelett im Raum
stehenden Traum, passiert in diesen Gruppenprozessen dann regelmässig
etwas sehr Interessantes, das wir vielleicht mit der Morgenthaler’schen
Sexualtheorie verknüpfen könnten. Aus der chaotisch-ungerichteten,
ziellosen, primärprozesshaften Bewegung entsteht im Gruppenprozeß
langsam ‘organisierte Sexualität’: die sinnlich erlebbare, berührende
Form der Begegnung der Gruppe mit dem Traum bzw. mit dem dahinterstehenden
Paar (AnalytikerIn - AnalysandIn).
RB: Vieles hast Du schon gesagt, was da passiert und ich finde diese Überlegung spannend: Ist das organisierte Sexualität, was am Schluss dasteht? Ich nehme es etwas prosaischer und meine, wir sehen auch hier, wie ein Summationseffekt am Werk ist. Es kommen einzelne Assoziationen von einzelnen Gruppenmitgliedern zum Traum. Die TeilnehmerInnen und ich als Leiter sammeln zunächst alles; und plötzlich kommt der Moment, wo diese Assoziationen wie Mosaiksteinchen ein erstes Bild ergeben. Eine andere Qualität entsteht. Ich denke, wir können hier die Dialektik schulen, da ist immer vom Umschlag von Quantität in Qualität die Rede: der Moment, wo die Quantität von einzelnen Einfällen der GruppenteilnehmerInnen plötzlich umschlägt in eine bestimmte, qualitativ neue Richtung. Es ist tatsächlich ein befriedigendes Erlebnis, dass hier diese Nähe, auch diese triebhafte Nähe ermöglicht wird. Dein Einfall von der organisierten Sexualität bringt mich auf Folgendes: Was im Traumseminar gebracht wird, kommt tatsächlich von einem Paar, das es analytisch miteinander ‘treibt’. Wenn die sich da exhibieren respektive jemand diesen Traum erzählt, dann ist es auch wichtig, dass die Sexualität nicht zu sehr ‘organisiert’ wird, dass es nicht zum sexuellen Übergriff kommt auf dieses uns eigentlich nicht zustehende Analysand-Analytiker-Paar. Ich denke, dass diese Frustration (der Analytiker soll nur den Traum bringen) dem Schutz vor Übergriffen dient. Die Gruppendynamik kann ja sehr terroristisch sein und so wirken, dass das nächste Mal kein Traum mehr erzählt wird. Von daher bin ich überzeugt, dass es richtig ist, den Ablauf so zu strukturieren. UK: Inwiefern hängt eigentlich die Methodik des Seminars mit der Person Fritz Morgenthalers zusammen? Er schien ja gleichzeitig sezierend wie kompositorisch vorzugehen. Jedenfalls beschrieb es Hans-Jürgen Heinrichs so, dass es in seinen Traumseminaren wie in einer symphonischen Komposition auf eine Reprise hinauslief: folgerichtig, evident und darin ästhetisch. Die weiterführende Frage ist, inwieweit die Methodik überhaupt personengebunden ist. Ist sie abhängig von der Präsenz eines ordnenden, wissenden ‘Meisters’? RB: Zunächst denke ich, es brauchte eine bestimmte Persönlichkeit, um überhaupt auf so etwas zu kommen; das war personengebunden. Aber zur Weiterführung braucht es keine bestimmte Persönlichkeit. Mein Anliegen ist es zu zeigen, dass dieses Vorgehen lehr- und lernbar ist. Ihr habt es ja gelernt, ihr kommt auf das Richtige - mehr oder weniger. Auch der Meister kam nicht immer auf das Richtige und auch in unserem Salzburger Seminar kamen nicht immer nur bestätigende Rückmeldungen. Überhaupt nicht. Die Methodik hat damit zu tun, uns zur Beschränkung auf Weniges zu zwingen und das wirklich konsequent anzuschauen. Es braucht also nicht die Präsenz eines ‘Wissenden’. Allerdings: Es ist gut, wenn jemand eine Rolle übernimmt. Wie es ja beim Analytiker auch um eine Rollenübernahme geht. Ich bin etwas skeptisch mit so Kränzlis und peer-groups. Das ist immer eine gewisse Zeitlang gut. Aber wenn man dann gleichzeitig essen geht, miteinander in Konkurrenz um PatientInnen steht und noch alles mögliche Andere dreinkommt, gibt’s schnell Störungen, vor denen sich die Gruppe besser schützt. Die Rolle des Leiters, der Leiterin scheint mir wichtig, sie kann ja rotieren. Da geht es darum, den Ablauf des Gruppenprozesses im Auge zu behalten und die Autorität zu haben, Stop zu sagen. Das Richtig und Falsch ist in solchen Seminaren nicht zu beurteilen, aber die Frage, was möglich ist und was nicht möglich ist. UK: Bei der Lektüre seiner Traumseminare fiel mir auf, daß Morgenthaler häufig ganz gezielt fragte, so als wollte er bestimmte Antworten hervorlocken, die wiederum klaren, verbindlichen Kriterien entsprechen. Nicht selten wirkt sein Vorgehen manipulierend. Weiters fällt an der Gruppendynamik auf, dass es im Grunde keinerlei Widerspruch gegeben hat, keine Infragestellungen, Kontroversen, Kritik. Alle scheinen ihm wie Spatzen aus der Hand zu fressen. Ist das nicht bemerkenswert? RB: Es war ja bei der Herausgabe dieses Traumbuches sehr schwierig, überhaupt Traumseminare zu bekommen, die wir veröffentlichen durften. Es gab einige oder zumindest eines, bei dem der vorstellende Analytiker im letzten Moment verboten hat, den Text zu bringen. Man musste sich beschränken auf Material, das gar nicht das beste war. Von daher ist es eine Selektion von der ich denke, sie ist nicht repräsentativ. Ich selbst war in den Seminaren nie dabei. Klar hatte Morgenthaler in seiner Persönlichkeit etwas suggestiv Autoritäres. Es ist wohl auch immer wieder so überraschend neu gewesen, dass alle offenbar erschlagen waren und gar nicht die Zeit fanden, kritisch zu intervenieren. Das ist heute anders, es ist nicht mehr neu. Ich weiss auch, dass es durchaus Seminare gab bei ihm, wo dann protestiert wurde. Jemand hatte gesagt, das sei Unzucht mit nackten Träumen, was er hier mache. UK: In dem Salzburger Traumseminar mit Dir gab es durchaus andere Interpretationen, die sich im Widerspruch zu deinen Thesen irgendwie schärfen konnten. Siehst Du Punkte oder Vorgehensweisen, wo zwischen Dir und Morgenthaler ganz dezidierte Unterschiede bestehen? RB: Eine grundsätzliche Kritik habe ich nicht. Ich finde die Methode gut, und wir müssen es natürlich so machen, wie es zu uns passt. Das würde Morgenthaler auch sagen. Zu mir passt es besser, wenn es kontroverse Diskussionen gibt. Ich habe natürlich auch eine andere Situation als Morgenthaler. Er wollte etwas erarbeiten. Ich will das, was erarbeitet ist, lehr- und lernbar machen. Das sind zwei verschiedene Zentralitäten des Vorgehens. Ich bin nicht daran interessiert, etwas zu vermitteln, wo es einen grossen Meister oder etwas Mystisches... UK: ...oder einen Zauberer... RB: ...oder einen Zauberer gibt, wobei der Jongleur ja kein Zauberer ist. Jonglieren ist lehr- und lernbar, es beachtet die Selbstbewegung der Kugeln und gibt ihnen Impulse. Das ist im Grunde eine Metapher für die dialektische Methode und nicht für Zauberei. UK: Nur kann das Jonglieren eine zauberhafte oder bezaubernde Wirkung haben und die ZuschauerInnen denken, das ist ja Zauberei! RB: Ja, aber wir sind beim Traumseminar nicht im Zirkus, sondern in der Jonglierschule. Wir alle wollen das Jonglieren lernen. Dann schauen wir, wie der das macht, das ist mehr ein Handwerk. UK: Es gibt da einige Stellen im Traumbuch, wo Morgenthaler das Erheben
von Assoziationen des Träumers, der Träumerin als "neurotisches
Abwehrmanöver des Analytikers" bezeichnet oder als "Reaktionsbildung
des Analytikers" denunziert. Dann sagt er woanders wieder, im Gegensatz
zu den didaktischen Traumseminaren seien die Einfälle des Träumers
in der Analysestunde selbstverständlich von hohem Wert.
RB: Wogegen Morgenthaler polemisiert, ist Folgendes: Wir haben eine Stunde. Du erzählst mir zuerst, wie Du nach Zürich gereist bist, dann etwas von Salzburg und dann erzählst du einen Traum. Wenn ich dann sage „So, und was fällt dir jetzt ein zu diesem Traum?“, dagegen polemisiert Morgenthaler und meint, wir haben es ja einfacher als Freud, der zunächst nur seine eigenen Träume hatte. Wir haben die Stunde. Das, was du vorher alles erzählt hast, SIND bereits die Assoziationen zum Traum! „Seid doch so gut und richtet den Blick zuerst einmal auf das, was schon da ist, bevor ihr assoziieren lasst!“, sagt Morgenthaler. UK: Insofern hast Du es lieber, wenn ein Traum erst gegen Mitte oder Ende der Stunde erzählt wird und nicht gleich am Anfang, weil dann noch keine Assoziationen vorliegen bzw. diese dann in der vorigen Stunde zu suchen wären? RB: Ja, das sage ich jeweils. Das ist hochspannend. Morgenthaler stellt den dynamischen Gesichtspunkt ins Zentrum. Dadurch kommt er auf noch andere Funktionen des Traumes als Freud, der sich für die Genese interessierte. Wenn ich also einen Traum am Anfang bringe, liefere ich keine Assoziationen. Da kommt zuerst der Traum und dann kommt irgendetwas in der Erzählung des Analysanden, das er so nicht hätte erzählen können oder überhaupt nicht erzählt hätte ohne den Traum. Ein Traum am Anfang der Stunde ist zunächst gar nicht dazu da, gedeutet zu werden, sondern er schafft die notwendige Atmosphäre, damit danach Dinge erzählt werden können, deren Besprechung ohne den Traum nicht möglich gewesen wäre. Oder der Traum am Beginn der Stunde kann tatsächlich etwas sein, das die letzte Stunde fortsetzt. Ich handhabe es auch bei der Traumerzählung am Stundenbeginn in der Regel nicht so, dass ich assoziieren lasse. Das ist keine sture Gesetzmässigkeit, aber es ist ein Hilfsmittel, um das, was schon da ist, fruchtbar verwenden zu können und nicht zu meinen, es müsse nun noch mehr produziert werden. UK: Und wenn nichts da ist oder wenn der Traum mit der Tür ins Haus fällt? RB: Es ist nie nichts da. Dann warte ich halt, was noch kommt. Es kommt dann todsicher irgendwas. Und sei es ein Schweigen, vielleicht ein längeres Schweigen und dann kommt vielleicht irgendwas, was sofort evident mit dem Traum zu tun hat, aber dazwischen ist eine Auslassung. Dann frage ich mich, ob die Zensur mit der Auslassung arbeitet. Es ist nie nichts da. UK: Der Traum hat eine Sonderstellung. Dennoch stürzt der Analytiker sich nicht auf den Traum, er behandelt vorrangig die Kreise, die er wirft. RB: Richtig. Er arbeitet auch, wenn kein Traum da ist. UK: Danke Dir für das Gespräch! Zum Abschluss spielt Ralf Binswanger Präludium und Fuge II aus Band I des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach (1685 - 1750) und bemerkt dazu wiederholend: „Die formalen und strukturellen Gesichtspunkte in der Arbeit mit Träumen können verglichen werden mit dem Quintenzirkel in der Musik. Berufsmusiker kann nur sein, wer den Quintenzirkel beherrscht. Im Klavierspiel bin ich Dilletant und weiss nur intuitiv, was ich spiele. Mein Quintenzirkel als Analytiker sind die formalen und strukturellen Gesichtspunkte, über die ich Bescheid wissen muss.“ Dr. Ralf Binswanger
Dr. Ulrike Körbitz
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