Lob der materialistischen Dialektik

Otto Fenichel: Über Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie[1].

Ralf Binswanger

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.

Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.

(...) Er ist das Einfache

Das schwer zu machen ist.

Bertolt Brecht: Lob des Kommunismus[2]

Mein Werdegang zum Psychoanalytiker verlief nicht gradlinig. 1970 begann ich eine Analyse bei einer Schülerin von C.G. Jung. Trotz „1968“ war ich ein Rechtsliberaler. Erst meine berufliche Tätigkeit in Zürcher Gefängnissen politisierte mich nach links. 1980 gab ich diese unter öffentlichem Protest auf und schloss mich einer Gruppe der ausserparlamentarischen Linken an, die Justiz und Repression im Rahmen einer fundamentalen Opposition gegen das herrschende System bekämpften.

Die Tätigkkeit in Gefängnissen brachte mich 1973 mit Mitgliedern der Plattform des Psychoanalytischen Seminars Zürich (PSZ) zusammen. Wir wollten linkes Bewusstsein in unserem Berufsfeld umsetzen. Damit stiessen wir an Grenzen: Entweder mussten wir uns der damals schon zunehmenden Verhärtung in Untersuchungshaft und Strafvollzug anpassen oder aussteigen.

Ich kam zum Schluss, es sei unmöglich, als Psychotherapeut/Psychoanalytiker politisch Grundlegendes zu verändern. Nicht nur das. Ich wurde zunehmend skeptisch gegenüber Versuchen, als Psychoanalytiker politisch aufklärend zu wirken. 1985 fasste ich diese Position an einer Tagung des PSZ zusammen[3]. Die Fragestellung Was ist ein linker Psychoanalytiker? versuchte ich so zu beantworten, dass Psychoanalyse und revolutionäre Politik wie zwei verschiedene Währungen funktionieren. Konzepte aus dem Bereich der einen sind im Bereich der anderen nicht handelbar. Insbesondere sagte ich:

„Politische Interventionen, die mit psychoanalytischen Begriffen aufklärend wirken wollen, sind grundsätzlich nichts anderes als „wilde“ Deutungen, also Deutungen ausserhalb eines Auftrags, ausserhalb einer psychoanalytischen Situation, was erfahrungsgemäss zu nichts anderem führt als zum Aufbau unangehbarer Widerstände. Politisch kann das nur zu negativen Reaktionen bei denen führen, die man aufklären und beeinflussen will (z.B. eine schweigende Mehrheit ... ). Zusätzlich führt eine solche politische Praxis zur Desavouierung der Psychoanalyse als Ganzes. Sie verstellt den Blick des Publikums noch zusätzlich für das, was in psychoanalytischen Prozessen wirklich stattfinden kann, und sie verstellt den Blick des so agierenden Psychoanalytikers für das, was politisch real stattfindet. Sie hindert ihn, politisch wirklich aktiv zu werden.“

Hinter der damaligen Position stehe ich noch heute. Dem entspricht, dass ich heute eine Praxis in Psychoanalyse habe, im Rahmen einer Psychoanalytischen Praxisgemeinschaft in Zürich, und eine in kommunistischer Politik, im Rahmen des Revolutionären Aufbau Schweiz. Diese Haltung trug mir den Vorwurf ein, meine Identität in zwei Teile zu spalten., eine psychoanalytische und eine politische. In der Tat ist das nicht ganz einfach. Auf der einen Seite ist die Psychoanalyse für einen Teil meiner GenossInnen nichts Anderes als bürgerliche Ideologie; die andere Seite reagiert zum Teil befremdet auf mein Engagement auf der Strasse.

Meine späte Politisierung trug dazu bei, dass ich die Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Marxismus nur bruchstückhaft mitbekam. Immerhin stiess ich auf Lew Wygotskys Abhandlung Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung[4]. Sie versucht eine Antwort auf die Frage, was eine sozialistische Psychologie sei. Selbstverständlich eine auf dialektisch-materialistischer Grundlage[5].Der Autor zeigt ausführlich, dass nicht nur die Psychoanalyse, sondern jede psychologische Schule dazu tendiert, den Rahmen ihrer Wissenschaft zu sprengen, um die grossen Fragen der Welt zu erklären. Indirekt fand ich nicht nur mein „Währungssystem“ bestätigt, sondern auch den „Wechselkurs“ zwischen den beiden Währungen: die materialistische Dialektik. Ihre Anwendung im Rahmen der Psychoanalyse hatte ich insbesondere durch Fritz Morgenthaler anschaulich vorgeführt bekommen[6].

Soweit war ich, als ich endlich auf  Fenichels klassische Arbeit stiess und verwundert feststellte, dass da alles schon drin steht, wofür ich fast jahrzehntelange Umwege brauchte.

Was heisst dialektisch-materialistisch?

Zunächst besticht die Einfachheit seiner Sprache. Wer eine dialektisch-materialistische Psychologie anstrebt, muss ständig gegen zwei Fronten kämpfen: einmal gegen den Idealismus, der das Seelische dem Körperlichen prinzipiell entgegenstellt und es für etwas irgendwie Grundlegenderes, „Höheres“, „Jenseitigeres“ hält; und gegen eine falsche materialistische Auffassung – wir würden sie eine pseudo-materialistische nennen –, die am liebsten die Existenz des Seelischen überhaupt leugnen möchte. Verfolgen wir den Kampf an der zweiten Front:

... denn nicht nur das ist wirklich „materiell“, was man sehen, sondern das, was man durch unmittelbare Erfahrung oder durch mittelbaren zwingenden Schluss wahrnehmen kann. (...) Die Wirklichkeit der Daten unseres Bewusstseins ist keine geringere als die der äusseren Natur. (...) Das Zustandekommen des seelischen Geschehens mag an die Funktion des Gehirns ebenso geknüpft sein wie die Entstehung der Galle an die Leber. Dennoch ist dieses so entstandene psychische Geschehen ein Naturprodukt, dessen eigene Gesetzlichkeit nach naturwissenschaftlichen Kriterien ebenso studiert zu werden verdient wie die Eigengesetzlichkeit der Galle (277). Dass Marx nicht anders gedacht hat, lässt sich durch zahlreiche  Zitate belegen (278). Mit wenigen weiteren Beispielen begründet Fenichel überzeugend, dass eine Psychologie eine materialistische Wissenschaft sein kann.

Wie geht er nun weiter vor, um sich dem Dialektischen und der Psychoanalyse anzunähern? Könnte es eine Forschungsweise geben, die die ganze komplexe Natur der wirklichen Erlebnisfülle, wie sie bisher wissenschaftlicher Erfassung nicht zugänglich war, (...) naturwissenschaftlich angeht und schliesslich zu einer psychologischen Prognostik und Technik (...)  strebt (...)? Er stellt Forderungen an eine solche Psychologie auf:

1.      Sie muss sich der Biologie  einordnen[7].

2.      Sie untersucht wie jede Naturwissenschaft Gesetzmässigkeiten.

3.      Eine materialistische Psychologie ist absolut wertfrei. In ihr gibt es nicht gut und böse, sittlich und unsittlich oder ein Sollendes überhaupt, sondern ihr sind gut und böse, sittlich und unsittlich und Soll Denkweisen der Menschen, die als solche in ihrer Entstehung aus materiellen Voraussetzungen zu erforschen sind[8].

Eine materialistische Psychologie anerkennt nur zwei grundlegende Bedingungen, deren Zusammenspiel zu erklären ist: Die Biologie und die Umwelt. Das psychische Geschehen unterscheidet sich vom rein reflektorischen, dass die Abfuhr nur unter Überwindung von allerlei sich in den Weg stellenden Hindernissen, deren Herkunft die materialistische Psychologie eben aus dem Zusammenspiel von biologischer Struktur und Aussenwelt erklären muss, stattfinden kann (280). Sie fasst das Seelenleben, wie es sich unserm Bewusstsein darstellt, als Resultante von Kräften auf, die aus dem Resultat erschlossen werden müssen (281). Damit ist der dynamische Gesichtspunkt eingeführt, und die Zentralität der Triebtheorie sowie der ökonomische Gesichtspunkt folgen daraus. Eine solche Denkweise nimmt das psychische Geschehen als das, was es im unmittelbaren Erleben wirklich erscheint, als ein fliessendes, sich immer veränderndes, in seinem Ablauf zu erfassendes Geschehen. Fenichel benennt hier beiläufig einige zentrale Elemente der Dialektik[9].

Damit hat er seine Leserschaft zur Psychoanalyse wie das Pferd zur Tränke geführt. Wir können der Frage nicht mehr ausweichen, dass die Psychoanalyse, wie wohl auch sie idealistische Elemente enthält, von denen der Marxist abrücken muss, dennoch im Kerne die einzige empirische Wissenschaft vom Seelenleben ist, die all die Forderungen, die wir aufgezählt haben, erfüllt, und die deshalb als Keim einer dialektisch-materialistischen Psychologie zu betrachten ist (285).

Unter marxistischen Kautelen

Was heisst es nun, unter marxistischen Kautelen (285) die Erkenntnisse der neuen Psychologie anzuwenden? Marx hat seine Methode, den dialektischen Materialismus, auf die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihre geschichtliche Entwicklung angewendet. Innerhalb des Bereiches anderer Wissenschaften kann „Marxist sein“ nichts anderes bedeuten, als die gleichen Prinzipien, (...) in der eigenen Wissenschaft anzuwenden. Freud, der dem Marxismus fernsteht und sogar, ihn missverstehend, gegen ihn polemisiert hat, lag es fern, dies etwa bewusst zu tun. Um so mehr spricht es für die Richtigkeit seiner Erkenntnisse, dass diese dennoch einen solchen Charakter tragen (286). Und ich zitiere gleich weiter, was nicht besser gesagt werden kann:

·        Wenn nun Psychoanalytiker daran gehen, in fälschlicher Gleichstellung von Einzelleben und gesellschaftlichem Geschehen die psychologischen Kenntnisse auf das gesellschaftliche Geschehen anzuwenden, (...) so wehren sich die Marxisten mit Recht gegen solchen Unsinn.

·        Von Versuchen, die Erklärung und Bekämpfung des Krieges durch psychoanalytisches Studium des Sadismus zu betreiben, sind wir (...) mehrmals öffentlich genug abgerückt, aber die Verurteilung solchen Unsinns darf nicht zur Verurteilung der Psychoanalyse führen (296)

·        Nein, seelisches Geschehen spielt sich für den Naturwissenschaftler immer nur im einzelnen Individuum ab (292).

Vielleicht macht sich Fenichel Illusionen, wenn er Ergebnissen einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie Auswirkungen für die politische Propagandaarbeit oder für politische Entscheidungsfindung zuschreibt (284).  Gegenüber der real existierenden Psychoanalyse will er uns aber jede Illusion nehmen: Was die heutige Psychoanalyse mit ihren Erkenntnissen kann, das ist Neurosentherapie an einzelnen Kranken, die monate- und jahrelang täglich eine Stunde lang behandelt werden müssen. Sonst kann sie nichts (284). „Mit den Mitteln der Psychoanalyse...“[10] eine gesellschaftsverändernde politische Praxis entwickeln zu wollen[11], kann sie also sicher nicht. Das schliesst psychoanalytisch orientiertes Arbeiten mit niedrigerer Stundenfrequenz oder in anderen Anordnungen als dem analytischen Zweipersonenfeld natürlich nicht aus, z.B. im Sprechstundenbetrieb eines Allgemeinpraktikers (Balint)[12].

Mein  Fazit lautet: „Psychoanalyse als Kulturkritik“ kann nichts Anderes bedeuten als die Reproduktion bürgerlicher Ideologie, weil Psychoanalyse Widersprüche durch Kompromissbildungen löst resp. auf eine höher Stufe hebt. Der Marxismus geht aber von einem antagonistischen gesellschaftlichen Widerspruch im Kapitalismus aus, der zu beseitigen ist. Hingegen kann mich meine tägliche Arbeit als Psychoanalytiker und psychoanalytischer Psychotherapeut am konkreten Gegenstand dialektisch-materialistisch schulen.

Kann Fenichels Artikel meine antianalytischen GenossInnen überzeugen? Er selbst ist diesbezüglich skeptisch (285).

Ich danke Daniel Erni, Pedro Grosz, Christian Hauser und Christian Jordi für wertvolle Hinweise.

 27.06.03


[1] Aufsätze, hg. Von Klaus Laermann, Bd. I. Giessen: Psychosozial-Verlag 1998 oder Frankfurt am Main – Berlin – Wien: Ullstein Materialien 1985, 276-296. Erschienen auch in Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol Bd. 1, Fankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1970.

[2] Frankfurt am Main 1967, werkausgabe edition suhrkamp, Gesammelte Werke 9, Gedichte 2, 463

[3] JOURNAL des PSZ, Sondernummer Institutionalisierung – Desinstitutionalisierung (1986), 12-13. Unter Politik verstehe ich allgemein den Kampf um Machtverhältnisse auf gesellschaftlichem Niveau und speziell revolutionäre Politik. Dies ist nach der sehr ernsthaften Kritik von Markus Weilenmann zu präzisieren (JOURNAL des PSZ, Nr. 39, 6-21).

[4] in: Ausgewählte Schriften, Bd. I, Köln: Pahl Rugenstein, 1985

[5] Dabei nimmt er als Beispiel einer idealistischen Psychologie auf höchster Stufe Ludwig Binswangers (meines Grossonkels) Werk von 1922: Einführung in die Probleme einer allgemeinen Psychologie. So bin in also in einer Hochburg bürgerlicher Psychologie aufgewachsen.

[6] s. meine Beträge im WERKBLATT 1/2001Nr. 46, 18. Jahrgang, S. 13-65.

[7] Natürlich nicht in der Methode, die nicht den Kriterien biologischer Forschung folgt, sondern in ihren Theorien. „Wir stellen uns vor, [das Es] sei am Ende gegen das Somatische offen, nehme da die Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden (...).“ (Freud, Neue Folge der Vorlesungen... GW XV, S. 80) Soviel gegen den Verdacht des Biologismus.

[8] Daraus ergibt sich, dass hier nicht das bürgerliche Ideal von Wertfreiheit gemeint sein kann, sondern dass Fenichel an der „ersten Front“ kämpft, gegen eine idealistische Psychologie, in deren Zentrum „der Mensch“ (Ludwig Binswanger) steht und die sich einem entsprechenden humanistischen Ideal unterzuordnen hätte.

[9] Konkreteres zur Dialektik werde ich im nächsten WERKBLATT darstellen.

[10] Titel des von Emilio Modena herausgegebenen Buches, Giessen, Psychosozial-Verlag .... 

[11] Das war ganz eindeutig nicht die Absicht Fenichels, als er linke PsychoanalytikerInnen im Exil mittels seiner Rundbriefe (hg. Johannes Reichmayr und Elke Mühlleitner, Frankfurt am Main und Basel, Stroemfeld 1998) organisierte.

[12] Die Frage, wie weit Fenichels Kritik an Roheim auch die moderne Ethnopsychoanalyse treffen kann, sprengt den Rahmen dieser Besprechung.