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Karl Fallend

Tote Kinder wie weggeworfene Puppen.
“Am Spiegelgrund” und anderswo: Leben in NS-Erziehungsanstalten.

In: Presse-Spectrum. 25. März 2000

„Ich wunderte mich“ erinnert sich der 68-jährige zurück an seine Kindheit, „daß der Doktor genauso hieß wie ich. Ein Gefühl sagte mir: Mit dem möchte ich auch nicht unbedingt verwandt sein!“ Der elf Jahre alte Johann konnte sich auf sein Gefühl verlassen. Die feindliche Erwachsenenwelt kannte er Schlag auf Schlag, denen er immer wieder zu entfliehen versuchte. Am 8. April 1942 war er zum fünften Mal durchgebrannt. Ohne Chance. Wieder landete er strampelnd in den Fängen der Krankenschwestern und des Arztes, der seinen Namen trug. Gross. Dr. Heinrich Gross. Der Euthanasie-Arzt der Kinderklinik Am Spiegelgrund verabreichte dem überwältigten Jungen zwei Spritzen in die Oberschenkel. Danach kahlgeschoren Kaltwasserdusche und wochenlange Einzelzelle, wo die „Speibinjektionen“ ihre Wirkung taten. Magenkrämpfe, nicht enden wollender Brechreiz und Halsschmerzen vom ständigen Würgen. ‚Was sich nicht biegen läßt, wird gebrochen‘, so die Ärzte. Aber der kleine Johann hatte schon zu viel erlebt und erlitten, als daß die medizinische Tortur seinen Freiheitsdrang hätte erlöschen können: Die Schläge des Leiters der Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund Dr. Johann Krenek; die „Sonderbehandlung“ für Bettnässer durch eiskalte Duschen; die zusammengepferchte Strafgruppe im Keller der Anstalt; die gepeinigten Buben, die ihn mehr an alte erwachsene Männer erinnerten, als an lebenslustige Kinder und schließlich: das zweirädrige Wagerl, das der geisteskranke Hausarbeiter an ihrer Kolonne vorbeizog – „lauter kleine tote Kinder! Wie weggeworfene Puppen lagen sie kreuz und quer ...“ Eine Szene, die Johann Gross bis heute in den Schlaf folgt. Auch der Arzt blieb ihm namensgleich ins Gedächtnis gebrannt, verhaßt wie seine Eltern, die er per Selbstbeschluß mit zehn Jahren nicht mehr haben wollte. „Jetzt, mit 68 Jahren, kann ich behaupten, ich habe meinen damaligen Beschluß das ganze Leben auch gehalten.“

Die bettelnde Mutter verschwand spurlos kurz nach seiner Geburt. Der Vater war Invalide, Analphabet, Alkoholiker. Der Weg in die Kinderübernahmestelle der Stadt Wien war notgedrungen. Mit vier Jahren landete Johann bei einem älteren Ehepaar in Mauerbach und schließlich bei deren Tochter, der ‚Hedi-Tant‘.  Sie boten ihm jene geborgene Kinderwelt, an die sich später so süß als eine ‚unbeschwerte‘ erinnern läßt. Wenige Jahre reichten aus, um der Erinnerung an diese Geborgenheit eine Kraft zu verleihen, die stärker war als die Injektionsnadel des Dr. Gross oder der Hosenriemen des Vaters. Dieser bekam wieder das Sorgerecht, als Johann die 2. Volksschulklasse besuchte. Hunger, Suff, Prügel, auch Scham wegen des befohlenen Tschik-Sammelns und Gleichgültigkeit gegenüber den gegrölten HJ-Liedern und der Pimpf-Uniform ersetzten nun die kurze Vergangenheit. Mit der Sammelbüchse für das Winterhilfswerk wollte er unbedingt dorthin zurück. Aber nicht die geliebte Hedi-Tant, sondern der peitschende Obererzieher Heckermann und der sadistische Raffeis übernahmen den Schutzsuchenden in der NS-Erziehungsanstalt in Mödling – dem Hyrtl’schen Waisenhaus. Hier erfuhr Johann was die Erwachsenen meinten, ein „Subjekt“ zu sein, ein „Asozialer“, „minderwertig“ oder ein „Schmarotzer“. Und wenn sich zwei stritten, freute sich Raffeis mit seiner „Einigkeit“ – ein daumendicker, etwa ein Meter langer Stock, der so lange auf die vorgestreckten Hände gedroschen wurde, bis die beiden Streithähne „Einig“ brüllten. Johann floh, immer wieder, bis er schließlich Dr. Gross in die Augen sah, der ihm ‚zur Beruhigung‘, mit spitzer Nadel das Fleisch durchbohrte.

Johann Gross überstand die Folterungen.  Nach Kriegsende wurde er Maler und Anstreicher im eigenen Betrieb, hatte zwei Söhne großgezogen und schwieg; versuchte zu verdrängen, was nicht zu verdrängen war. Fersehdokumentationen brachten die unterdrückten Erinnerungen zum Durchbruch. Johann Gross schrieb sie nun auf. Sehr spät und doch noch rechtzeitig. Sogar aktuell.

„Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken“, schrieb der Überwältigte Jean Améry in seinen Bewältigungsversuchen. Für Johann Gross ist zu hoffen, daß der Schrecken gebannt bleibt. Ab 21. März wird Dr. Heinrich Gross, der nach 1945 als meistbeschäftigter Gerichtsgutachter ein Vermögen machte, wegen neunfachen Mordes vor Gericht stehen. Und auch der kleine Johann wird ihm wieder in die Augen sehen.

 

Johann Gross
Spiegelgrund.

Leben in NS-Erziehungsanstalten.
Mit einem Vorwort von Christine Nöstlinger
Geb. 158 S., (Ueberreuter)