Karl
Fallend Und
er sagte nicht nein.
In:
Presse Spectrum. 19. August 2000. Ein schmuckes Renaissanceschlößchen in ländlicher
Idylle. Im Innenhof eine versammelte Zuhörerschaft, die versunken der
dargebotenen Musik lauscht. Auf einem kleinen Balkon haben nämlich drei
Musiker, ein Pianist, ein Geiger und ein Querflötenspieler Platz
genommen und spielen Mozart, Bach, Terschak oder die Sonate in h-Moll
von Friedrich dem Großen. Der Flötenspieler konnte sich nicht mehr so
genau erinnern. Die Darbietung lag schließlich mehr als fünfzig Jahre
zurück. Der Flötenspieler
war auch Arzt. Er starb am 4. Oktober 1997 im Alter von 90 Jahren.
Wenige Wochen zuvor empfing er den Linzer Autor Walter Kohl, um ihm zwei
Tage lang über sein Leben zu erzählen. Auch über seine Zeit im
Renaissanceschlößchen in Hartheim in der Nähe von Linz, wo er von Mai
1940 bis November 1944 als Arzt tätig war - als Euthanasiearzt -
beteiligt an der Tötung von mindestens 28.000 Behinderten und KZ-Häftlingen:
Dr. Georg Renno. Walter Kohl hat diese Begegnung in einem Buch
beschrieben und macht den Leser zum Beobachter eines intergenerativen
Dialogs, der oft schwer zu ertragen ist. Allein die Monströsität der Anzahl der
Opfer, der wir in der Übermäßigkeit kein adäquates Gefühl
aufzubringen imstande sind, macht das Verständnis und die Verständigung
so schwierig. Das ‚Monströse‘ behindert eine notwendige Einfühlung,
um Antworten auf die Frage: ‚Wie war es möglich?‘ einen Schritt näher
zu kommen. Die Zerreißprobe besteht im Ertragen der Verschmelzung von
‚Menschlichkeit‘ und ‚Unmenschlichkeit‘, von ‚Kultur‘ und
‚Barbarei‘ als zwei Seiten derselben Medaille, die im
Nationalsozialismus mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz Extremformen
erreichte. Klassischer Musikgenuß mit Mozart und Friedrich dem Großen,
von SS-Männern gespielt und in der Zuhörerschaft die hochdekorierten
Leiter der Euthanasie-Aktion T4 Prof. Dr. Paul Nitsche, Prof. Dr. Werner
Heyde. Auch der Staatssekretär Stuckart, der Reichsinnenminister, der
Reichsschatzmeister sollen der Musik gelauscht haben, im Hof, neben den
Arkaden, neben dem Verbrennungsofen. “Ja, da muß ich doch annehmen,
es geht alles in Ordnung, wenn solche Leute kommen”, meinte der alte
SS-Mann, der Arzt, der Flötenspieler. Georg Renno, 1907 geboren, verlebt als
einziges Kind eines kaufmännischen Angestellten eine glückliche
Kindheit in Straßburg. Mit zwölf lernte er die Franzosen zu hassen,
die seine Familie aus der elsässischen Heimat vertrieben haben. Das
ging ihm 80 Jahre später noch nahe. “Ja, ich habe auch schon oft überlegt,
warum war ich denn ein bissel so – aber ich war kein Nationaler,
absolut nicht.” In der absoluten Verneinung ist das “bissel”
aufgehoben. Er war kein Nationaler, er war ein nationaler Hasser,
absolut, von Kindesbeinen an. Die verarmte Familie landete in
Ludwigshafen, wo Renno 1926 sein Abitur machte. In Heidelberg studierte
er Medizin und war begeistert von der politischen Aufbruchsstimmung und
vom Flötenspiel. 1929 wurde er Mitglied des NS-Studentenbundes und 1931
war er leicht zu haben, als der SS-Standartenführer eine eigene Kapelle
gründen wollte. “Wo der Hitler aufgetreten ist oder eine größere
Parteiversammlung war, haben wir Musik gemacht.” Stets auf eigenen
Vorteil bedacht, wußte der ständige Ja-Sager auch alle Vorteile der
Parteizugehörigkeit zu nutzen. Nach Beendigung des Studiums 1933 wurde
Renno Assistenzarzt in der psychiatrischen Anstalt Leipzig-Dösen, gründete
eine Familie und war daran eine eigene Privatpraxis aufzubauen. Der
Ausbruch des Krieges vereitelte dieses Vorhaben und der ab 1940 neu
eingesetzte Chef der Anstalt, Professor Nitsche – Obergutachter und späterer
medizinischer Leiter der Euthanasieaktion - hatte wichtigeres vor mit
dem inzwischen zum Kenner der Fächer “Vererbungslehre und
Rassenkunde” avancierten Mitarbeiter. Zu diesem Zeitpunkt war der Weg
vom Gedanken zur Tat schon fast zu Ende beschritten. Es bedurfte nur
noch eines Gesprächs, wie es tausendfach geführt wurde. Dem Neunzigjährigen
ist es noch in genauer Erinnerung: “Und eines schönen Tages ruft der
mich da an: Ach kommen S‘ doch mal vorbei ... Er sitzt da, ich sitze
da ... Da sagt er mir, ohne ein Vorwort: Sagen Sie mal, was halten Sie
denn von der Euthanasie? Das ist mir heute noch - das kann ich heute
noch mit Punkt und Komma sagen: Was halten Sie denn von der
Euthanasie?” Mit Punkt und Komma vermittelt Renno nach mehr als einem
halben Jahrhundert die Bedeutung dieser Gesprächssituation. Von da an
“ist das gerollt”, denn für den jahrelangen Jasager gab es nur eine
Antwort und hinterher nur eine Erklärung: “Ja, was soll man da also
als junger Assistent sagen? Der Führer! Und was der Führer gesagt hat,
ist gemacht worden, da hat es ja gar keinen Zweifel gegeben.” Es gab keinen Zweifel für den Führergläubigen,
den jahrelang ideologisch betrommelten und aktiven Trommler für die zur
Maxime erhobene ‚biologische Bevölkerungspolitik‘: Vererbung,
Auslese, Ausmerze. Die enthumanisierte Bestimmung‚ lebensunwerten‘
Lebens war ihm schon längst Recht geworden, zur Pflichterfüllung und
keine Frage mehr des Gewissens, das mindest in dieser Frage zu keinem
Biss mehr in der Lage war. Seine Ehre hieß schließlich Treue. Also
wurde er von Prof. Nitsche empfohlen als Euthanasiearzt nach Hartheim zu
fahren und Dr. Renno sagte nicht nein. Also “begutachtete” er die in
Transportbussen aus dem ganzen Land herbeigeführten Kranken und
Behinderten, indem er auf einer Meldeliste eine fiktive Todesursache
eintrug und Dr. Renno sagte nicht nein. Also ließ er jene Patienten,
die Goldzähne hatten mit einem weißen Kreuz bemalen, um sie nach der
Vergasung auszuschlagen und Dr. Renno sagte nicht nein. Die über Jahre
tausendfach versäumten Verneinungen verschwimmen zu einer einzigen,
allzu bekannten Rechtfertigungslogik und schließlich zu einem nicht
minder bekannten persönlichen Freispruch: “Ich fühle mich nicht
schuldig”. Georg Renno ist Einzelschicksal, aber kein
Einzelfall. Er ist einer von ca. 400 Ärzten, die sich während der
NS-Zeit an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligten. Sie alle
waren keine außer Rand und Band geratenen Berserker, die außerhalb der
medizinischen Zunft agierten, sondern integrierter und hochdekorierter
Bestandteil einer mit Allmacht ausgestatteten medizinischen
Wissenschaft, die die Grenzen zum Verbrechen so weit hinausschob, daß
diese schließlich zum Alltag gehörten. Im Rahmen sich ständig verschärfender
herrschender Legalität erfolgte die schrittweise – so Robert J.
Lifton – “Adaption an das Böse”, die von der Sterilisierung von
“Sozialschmarotzern” bis zur “Euthanasie” und “Endlösung der
Judenfrage” führte. In dieser rassistisch legalisierten
politisch-wissenschaftlichen Allianz konnte die Ärzteschaft die volksmündlich
formulierte Omnipotenz-Phantasie ausleben. Endlich waren sie es: Götter
in Weiß. Der kanadische Historiker Michael H. Kater
hat in einer – nun auch in deutscher Sprache vorliegenden -
umfassenden sozialgeschichtlichen Studie diese sukzessive Brutalisierung
der Medizin zur Darstellung gebracht. In penibler Detailarbeit gelingt
es Kater die schrittweise Politisierung der Ärzteschaft durch die
NSDAP, die Ideologisierung der medizinischen Lehre und Forschung
herauszuarbeiten, die mit einem unerhörten Machtzuwachs verbunden und
von den wenigen Nein-Sagern nicht aufzuhalten war. Die Vertreibung der jüdischen
Kollegen und Kolleginnen war überwiegend begrüßt worden, was u.a. mit
dem Aufstieg zur bestverdienenden Berufsgruppe belohnt wurde. Die Ärzte
standen in puncto Parteimitgliedschaft an der Spitze aller akademischen
Berufe. “Konservativ geschätzt” so Kater “waren die Ärzte bei
der SS im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung um den
Faktor sieben überrepräsentiert.” Der hohe politische
Organisierungsgrad hatte selbstredend einen wachsenden politischen
Einfluß zur Folge, v.a. auf ureigenstem Terrain: der Universität.
Kater weiß dies eindrucksvoll zu belegen, wenn man erfährt, daß die
Medizin an allen Universitäten im Dritten Reich zur wichtigsten
akademischen Disziplin avancierte und zwischen 1933 und 1945 nahezu 59
Prozent aller Rektoren Mediziner waren. Hier geht es nicht um die
Verteilung bürokratischer Führungspositionen, sondern um die
reibungslose Etablierung nationalsozialistischer Ideologie in Form von
Pseudodisziplinen wie “Rassenkunde” oder “Rassenhygiene”, die ab
März 1936 als Prüfungsfächer eingeführt zum Bestandteil der ärztlichen
Ausbildung wurden. Lange bevor in der Tat Mord zur ärztlichen Praxis zählte,
war die Pervertierung des Hippokratischen Eids in Gedanken längst
vollzogen – in der ideologischen Vorstellung einer Hierarchie des
Blutes lag die offizielle Forderung ‚die alte Sitte, für die
Schwachen zu sorgen, zugunsten der rassisch Reinen und Erbgesunden
aufzugegeben.‘ Michael H. Katers Feststellung ist nicht
unbedeutend, daß sich natürlich nicht alle Ärzte im Dritten Reich
eines Verbrechens schuldig gemacht haben, ja nicht einmal, daß sie
davon gewußt hätten. Aber es bedeutet eben auch, “daß sie ihre
normale berufliche Tätigkeit im Schatten dieser Verbrechen ausübten
und daß es eine beträchtliche Wechselwirkung zwischen diesen
Greueltaten und der täglichen medizinischen Praxis gab, die das
Berufsethos aller deutschen Ärzte vielleicht unmerklich, aber
entscheidend veränderte.” Katers Sozialgeschichte über die ‚Ärzte
als Hitlers Helfer‘ verschafft die notwendige Ausleuchtung des
organisatorischen und sozioökonomischen Hintergrunds vor dem Leute wie
Georg Renno zu akzeptierten und honorierten Massenmördern werden
konnten. Die Bücher von Walter Kohl und Michael H.
Kater gehörten zusammen gelesen, nicht nur wegen ihres thematischen
Zusammenhangs, sondern wegen ihrer Differenz in Methode und Darstellung.
Was Günther Anders als “infernalische Regeln” angesichts der
unvorstellbaren Anzahl an Opfer postulierte, scheint auch für den
forschenden Blick auf die Täterschaft des Nationalsozialismus Geltung
zu haben. Das ‚zu Große‘ – ein mörderisch gesellschaftliches
System analysieren wir beinahe unangerührt, während uns die Begegnung
mit einem Massenmörder mit Grauen erfüllt. Die Lektüre der Arbeit des kanadischen
Historikers Michael H. Kater gleicht einer Fahrt mit einem Zeitreisezug
mit übersichtlichen Weitblick, wie er die organisatorischen und sozioökonomischen
Hintergründe des Ärztewesens der NS-Zeit durchleuchtet, die
politischen Implikationen und demographischen Tendenzen analysiert, den
ärztlichen Widerstand zur Darstellung bringt oder die Emigrationszahlen
schätzt und man folgt nüchtern dem nüchternen Stil des Verfassers.
Walter Kohl hingegen verläßt diesen Zug, steigt aus, hält inne, tritt
in persönliche Beziehung zu einem der Protagonisten, um der in der
einzelnen Biographie eingravierten Sozialgeschichte auf den Grund zu
gehen. Und man schaudert mit dem Fragensteller. Ein Schauer, der in
Deutschland und Österreich eine eigene, eine unheimliche Qualität
besitzt. Es bedarf nicht dieser persönlichen Bekanntschaft, um
intergenerativ Vertrautes wiederzuentdecken: Sprache,
Argumentationsweisen, Schweigen, oder auch Lokalitäten. Der Linzer
Walter Kohl ist auch seinem Vertrautem auf der Spur und erkennt es
wieder in seinem vis-a-vis, dem Arzt, Flötenspieler und Massenmörder.
Kohl scheut sich nicht seinen Ängsten Ausdruck zu verleihen, seine
Alpträume und auch seine Phantasien an der Oberfläche zu halten, die
ihn auch erkennen lassen mußten, daß der alte Mann ihm nahe gekommen
ist. Oft zu nahe. Denn der für das Verständnis erforderlichen Einfühlung
sind Grenzen gesetzt. So ist dem Autor das Wort
‚Ich‘ beim Schreiben entschwunden und mit ‚der Besucher‘,
oder ‚der Fragensteller‘ ersetzt, als müßte der erlebten Nähe
eine Distanz verschafft werden, die in der erwünschten Form nur mehr
schwerlich zu erlangen ist. Das macht angreifbar und wohl auch
verwundbar. Ernst Klee, Autor von Standardwerken über
die Euthanasie während der NS-Zeit, ist deswegen empört und schlägt
in diese Wunde. In einer kurzen Besprechung des Buches von Walter Kohl
(Die Zeit, Nr. 16/2000) schreibt er warum: “NS-Täter zu befragen ist
in aller Regel sinnlos. Sie haben sich ihre Wahrheit zurechtgebogen ...
Das Buch ist gut gemeint. Kohl wird jedoch zum Medium für Rennos Lügen.”
Auch wenn Ernst Klees weiterer Kritik bezüglich
Kohls ärgerlichen Quellenumgangs beizupflichten ist, bleibt sein
prinzipieller Keulenschlag unverständlich. Wer sind NS-Täter? Nur
jene, die die Hand zum Gashahn führten? Nicht auch jene ständigen
Jasager, die die Rennos ermöglichten und darüber schwiegen bzw. durch
ein Verschweigen nach 1945 auch phantasierte Mörder produzierten, der
Renno in realiter geworden war? Sind nicht alle biograpischen Gespräche
zurechtgebogene Wahrheiten; psychische Realitäten, die mit den
objektiven Realitäten oft wenig gemein haben? Sind nicht Rennos Lebenslügen
immanenter Bestandteil einer NS-Realität, die mit 1945 kein Ende fand?
Und ist es daher nicht sinnvoll, gar notwendig, sich mit diesen Lügen
auseinanderzusetzen um ‘der Wahrheit’ ein Stück näher zu kommen? Walter Kohl hat es versucht, sich diesen
und anderen Fragen anzunähern. Er wird wohl einer der letzten gewesen
sein, die sich diesem schwierigen Unterfangen stellten, aber er war
nicht der erste. Der israelische Polizeihauptmann Avner Less (1960)
verbrachte einige hundert Stunden mit Adolf Eichmann und lieferte
erstmals psychologische Einsichten über die ‘Banalität des Bösen’.
Gitta Sereny (1971) war über 70 Stunden mit dem Kommandanten von
Treblinka Franz Stangl zusammen und verstand es die biographischen
Hintergründe dieses Mannes aus dem Salzkammergut herauszuarbeiten. Und
kürzlich mühte sich Claus Leggewie (1998) nach zahlreichen Gesprächen
den deutschen Lebensweg des ehemaligen hochrangigen SS-Mannes Hans Ernst
Schneider verständlich zu machen, der in den Diensten der Organisation
Ahnenerbe stand und nach 1945 unter Hans Schwerte zum beliebten
Germanistik Professer der 68er Generation mutierte. Lebenswege von Schreibtischtätern und
Massenmördern, die einen fixen Bestandteil deutsch/österreichischer
Geschichte darstellen und sich nicht untypisch zwischen Südamerika und
universitärer Lehrkanzel abspielten. Auch der weitere Weg Georg Rennos
ist keine ungewöhnliche Nachkriegsgeschichte. Unter dem gefälschten
Namen Reinig arbeitete er unbescholten als wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim Pharmakonzern Schering AG und machte Karriere bis hin
zum Leiter von Außendienstbereichen. Seinen wirklichen Namen hatte er
inzwischen wieder angenommen. 1961 wurde er erstmals verhaftet,
einvernommen, angeklagt, auf freien Fuß gesetzt. Das Gericht ließ
Renno amtsärztlich untersuchen und für verhandlungsunfähig erklären.
Das Verfahren gegen den Vergasungsarzt der Mordanstalt Schloß Hartheim
bei Linz wurde im Jahre 1975 endgültig eingestellt. 22 Jahre lang führte
Renno noch das ruhige und zurückgezogene Leben eines Pensionisten.
“Grüßen Sie mir Oberösterreich!”
rief der 90 jährige seinem Besucher zum Abschied hinterher. Und das ist
auch geschehen. In Form eines Buches. Walter
Kohl “Ich
fühle mich nicht schuldig”. Georg Renno. Euthanasiearzt. Geb.,
332 S., (Paul Zsolnay Verlag) Michael
H. Kater Ärzte
als Hitlers Helfer. Aus
dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Renate Weibrecht. Geb.,
576 S., (Europa Verlag)
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