Was hier gespielt wurdeIn:
Presse Spectrum. 26. September
1998.
Die
Biographik ist ein schwieriges Metier, um nicht zu sagen, ein schier unmögliches
Unterfangen. Der
phantastischen (Re-) Konstruktion sind Tür und Tor geöffnet, vor allem
dann, wenn man sich die wissenschaftlich-historischen Recherchen
erspart. Zwischen Biograph und Biographiertem besteht eine enge
Beziehung; einerlei, ob der Lebensweg des einen weit aus dem
biographischem Zeitrahmen des anderen fällt, oder ob die beiden
Protagonisten schon zu Lebzeiten in einem nahen Verhältnis standen. Die
Tinte des Biographen ist kein Neutrum, sondern durchtränkt von
Wunschphantasien, Sehnsüchten und Identifikationen. Das ganze
Reservoire an zwischenmenschlicher Dynamik vermag die Feder zu leiten,
und man wundert sich nicht selten, daß so manche Lebensbeschreibungen
in Worte gegossene Denkmäler gleichen. Besonders wenn Söhne Väter
porträtieren, ist Vorsicht angesagt - väterliche Freunde, detto. Am
2. September 1997 starb in Wien der weltberühmte Psychiater Viktor
Frankl. Kurz darauf konnte der langjährige Mitarbeiter Frankls und
Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und
Existenzanalyse einem Vorschlag des Piper Verlages nicht widerstehen,
ein Porträt und eine Würdigung der Person und des Werkes zu verfassen.
DDr. Alfried Längle war von 1982- 1991 Viktor Frankls "rechte
Hand" und diesem in fast tagtäglicher Zusammenarbeit verbunden,
bis Frankl diese Liaison "nichtdialogisch" beendete. Die
wachsende institutionell-professionelle Anpassung der Logotherapie an
die Bedingungen des "miesen" Psychotherapiemarktes liefen dem
Begründer zuwider. Frankl war ein erklärter Gegner der
Selbsterfahrung: "Diese 'geistige Nabelschau' sei
'antilogotherapeutisch' und daher abzulehnen. Außerdem sei die Arbeit
mit der Biographie nicht im Sinne der Logotherapie." Genau! Diese
Erkenntnis ist dem vorliegenden Buch Seite für Seite anzumerken. Der
"rechten Hand", Alfried Längle, fällt nicht auf, daß ihm im
biographischen Versuch schon theoretisch beide Hände gebunden sind. Der
Unterschied von der ersten zur "dritten Wiener Richtung der
Psychotherapie" wird auch mit diesem Buche deutlich. Während
Sigmund Freud das ständig selbstkritisch und oft schmerzhafte Erinnern,
Wiederholen und Durcharbeiten von historischer Erfahrung zur zentralen
Aufgabe erklärt, folgt der Autor konsequent Viktor Frankls
logotherapeutischem Prinzip: "Negatives in Positives
umzusetzen". Dabei
gerät ihm der väterliche Freund und "Prophet" zur
Lichtgestalt, wobei es zur Frage drängt, ob bei so viel Licht, nicht
auch ein wenig Schatten fällt? Stattdessen will Alfried Längle, dass
uns durch sein Porträt Frankl "selbst näherkommen, spürbar und
erlebbar werden" soll. Die persönliche Nähe des Autors erscheint
für dieses Vorhaben nur vordergründig als ein Privileg. Die Tugend gerät
zur Not. Vor allem für den Leser. Alfried
Längle verzichtet auf eigene historisch- biographische Recherchen und
beschränkt sich vorwiegend auf die autobiographische Schrift Viktor
Frankls "Was nicht in meinen Büchern steht" (1995), einem
erweiterten Manuskript dieses Buches, das ihm Frankl zur posthumen
Verwendung anvertraute sowie auf seine persönlichen Gespräche und
Eindrücke. Aus dieser Melange ergibt sich nun keine kritisch-reflexive
Betrachtung eines Lebensweges, sondern eine Sammlung aus kleinen
Geschichten, Episoden, Anekdoten, die den Autor x-fach "tief
bewegen", "berühren" oder "persönlich beschäftigen".
Das Einfühlungsvermögen des Autors erreicht dabei so exklusive
Dimensionen, daß man wenig Neigung verspürt, ihm darin folgen zu
wollen. Zum Beispiel, wenn Längle die letzte Begegnung Frankls mit
dessen sterbendem Vater in Theresienstadt im Wortlaut schildert und dies
kommentiert: "Damit läßt er uns an einem der intimsten Momente
teilhaben, die man mit einem Menschen haben kann. So nahe zu dem
Ereignis zugelassen zu werden und dabei Frankl so persönlich erleben zu
dürfen ist etwas Außergewöhnliches." Außergewöhnlich ist eher,
daß Frankl, nachdem er dem einundachtzigjährigen, dem das terminale
Lungenödem bevorstand, das letzte Morphium spritzte, sich von ihm
verabschiedete und dabei "das wunderbarste Gefühl" empfand
"das man sich vorstellen kann". Vorstellungskraft und Empathie
sind wirklich ge- bzw. überfordert, wenn Längle darin ein Ideal reiner
Selbstlosigkeit verwirklicht sieht.
Gewiß,
ein Frankl-Biograph hat es nicht leicht. Die blendenden Leistungen und
Taten eines derart prominenten Mannes einmal hintan und andere Fragen zu
stellen ist gewagt, zumal Frankl selbst in "Monolog und
Selbstdarstellung" von seinen Vorzügen nicht unbeeindruckt war. In
Nachhaltigkeit formuliert Längle im Präsens: "Es ist bisweilen störend,
sehen zu müssen, wie er sich narzisstischen Gewinn aus allen möglichen
Belangen holte." Denn: "Frankl hatte eine Scheu, über Gefühle
zu sprechen. Er sprach darum um so mehr von seinen Leistungen und
Taten." Und da gab es einiges zu erzählen. Von manchen mit Sigmund
Freud und Alfred Adler in eine Reihe gestellt, bekam Viktor Frankl 28
Ehrendoktorate verliehen, hielt Gastvorlesungen an mehr als 200
Universitäten der Welt, schrieb 31 Bücher und über 400 Artikel, die
in 24 Sprachen übersetzt wurden, wobei sein in neun Tagen diktiertes
KZ-Buch allein in den USA mehr als neun Millionen mal verkauft wurde. Das
sind selbstredende Errungenschaften, dazu bedarf es aber keiner
Biographie. Noch weniger, um zu erfahren, daß man schon nach wenigen
Vortragsworten Frankls das Gefühl haben konnte, "hier spricht ein
Großer, Überlegter, Überzeugter, Echter"; der
"selbst-transzendent veranlagt", dem "die Sinnfrage
geradezu angeboren" war und der schon als 3-jähriger fest
entschlossen war Arzt zu werden - "oder lag es Viktor so im
Blut?" Auch nicht, um der "oft gestellten Frage"
nachzugehen, ob der 4-jährige in der Lage war, darüber zu
reflektieren, daß die Vergänglichkeit des Lebens dessen Sinn zunichte
mache. Zeitweise scheint der Autor zu merken, daß der Leser dem
hymnischen Flug nicht mehr ganz folgen wird und so versucht er mit der
Erwähnung von Ohrstöpsel Einkäufen eine Landung einzuleiten: "um
uns bewußt zu halten, daß Frankl auch mit kleinen und belastenden Alltäglichkeiten
beschäftigt war". Aufatmen. Die
ständige Überhöhung bekommt jedoch eine tragische Note, wenn das persönliche
Schicksal zur Skurrilität verklärt wird. Besondere Empathie ist
gefordert, wenn uns Längle einerseits mehrmals erläutert, welch ängstlicher
Mensch Frankl war - ("Ängstlichkeit zieht sich bei Frankl
jedenfalls durch sein ganzes Leben") - auf der anderen Seite uns
der Autor aber folgende Geschichte erzählt: Am
Abend des Einmarsches der deutschen Truppen in Österreich hielt Viktor
Frankl "ahnungslos" einen Vortrag über die "Nervosität
als Zeiterscheinung", als plötzlich ein uniformierter SA-Mann die
Tür aufriß und ihn zum Abbruch der Veranstaltung zwingen wollte.
"Mit festem Selbstbewußtsein schaute er ihm ins Gesicht, fixierte
seine Augen und sprach mit allen Registern seiner Rednergabe, um den
SA-Mann in seinen Bann zu ziehen und ihn sein Vorhaben vergessen zu
lassen. Noch ohne zu wissen, daß er in diesen Minuten einer neuen Macht
zu trotzen begann, erzielte er mit seinem willensstarken Geist und einer
beinahe sportlich-kämpferischen Haltung einen vollen Erfolg." Viktor
Frankl wußte seinem Biographen noch viele solcher Episoden zu erzählen
und man bekommt als Leser den Eindruck an einem
"Stille-Post-Spiel" teilzuhaben. Dabei werden Höhepunkte
erreicht, wenn sich in die Erfolgsstory auch Geschichten mengen, von
denen sich Frankl selbst nicht mehr ganz sicher war, ob er sie sich
vielleicht nur einredete: Nachdem Viktor Frankl über zwei Jahre in,
"das freizügigste" und "von allen Konzentrationslagern
das am humansten (sic!) ausgestattete", Theresienstadt interniert
war, wurde er für kurze Zeit nach Auschwitz deportiert. Es kam zur
Selektion durch Josef Mengele, wobei Frankl "mit seinem
diagnostischen Blick als Arzt beim Näherkommen durchschaut habe, was
hier gespielt wurde." Als der Fingerzeig Mengeles auf die Seite der
zum Tode bestimmten wies, aber Frankl ein paar junge Kollegen auf der
anderen Seite bemerkt hatte, ging er hinter dem Rücken von Mengele
herum auf die rettende Seite. Da
bleibt nur noch Staunen und - eine Lesepause. Man fragt sich, warum der
Autor eine kritische Auseinandersetzung einfordert und selbst der Gefahr
erliegt, die er in Frankls Biographie sieht - ihn als unantastbar
hinzustellen und zum Heiligen zu machen. Vielleicht darum: "Wenn
ein ehemaliger KZ-Häftling so spricht, dann hat das ein schwerwiegendes
Gewicht. Ihm glaubt man, ihm muß man glauben, was könnte man dagegen
noch vorbringen? Und: Wer würde es wagen, bei dem kollektiven
schlechten Gewissen gegen so jemanden aufzutreten?" Ja, wer? Erwin
Ringel zum Beispiel, der Frankl als "Oberflächenpsychologen"
bezeichnete. Aber warum? Mit zwölf Zeilen überläßt uns der Autor im
Unklaren. Alfried
Längle verabsäumt es, jene Fragen zu stellen, die eine kritische
Auseinandersetzung erst ermöglichen. Fragen, die auch Längles
Forderung näher kommen würden: Bei aller Würdigung der außergewöhnlichen
Leistungen, "er soll auch zum Stein des Anstoßes und des
Widerspruchs werden können." Punkt genau. Dazu ist es aber
notwendig die Erzählkunst zu drosseln und innezuhalten. Zum Beispiel
wenn Längle nebenbei erwähnt: "Frankl dürfte vor dem Anschluß
keine sonderliche Abneigung gegen den Nationalsozialismus gehabt
haben." Ja, aber warum? Warum suchte er 1936 Kontakt zu der von
Matthias Heinrich Göring geleiteten deutschen Psychotherapiebewegung
und stand ihr "aufgeschlossen" gegenüber? Oder: Worin bestand
die "tiefe Verletzung, die er nicht vergessen konnte", weil
ein Kollege und SS-Offizier, der nach dem Krieg in Einzelhaft saß
(warum?), ein Buchgeschenk unbeantwortet ließ? Worin bestand der
"Rüffel" seitens des KZ-Verbandes, weil Frankl einen
belasteten Psychiater, dem möglicherweise das Todesurteil drohte
(warum?), in seiner Wohnung versteckt hielt? Worin bestand die Anklage
gegen eine vom Todesurteil bedrohten Fachkollegin, für die Frankl
"alles nur erdenklich Positive zusammenkratzte und zur Aussage
brachte"? Warum gaben ihm seine Mitarbeiter den Spitznamen "Nervengöbbels"?
Und warum fand er das "nicht schlecht"? Das
sind freilich irritierende Fragen, die einem Personenkult zuwider laufen
und deren Beantwortung zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleiben. Eine
davon ist schon geschrieben. Der New Yorker Wissenschaftshistoriker
Timothy Pytell hat in seiner Dissertation über das intellektuelle Leben
Viktor Frankls solche Fragen gestellt und damit nicht nur Alfried Längle
in Aufregung versetzt. Im Zentrum dieser Aufregung stehen
Hirnoperationen, die zu den drei spannendsten Dingen gehörten, die es für
Frankl gab - (neben einer Erstbegehung und einem Spiel im Spielcasino).
Hirnoperationen, die Frankl im Rothschildspital durchführte, wo er als
leitender "jüdischer Fachbehandler" von 1939/40 bis 1942 tätig
war. Anfang
der 40er Jahre war die Verfolgung der Juden so unerträglich geworden,
daß viele im Selbstmord ihren letzten Ausweg sahen, um der Deportation
zu entkommen. Für tot befundene kamen auf Frankls Abteilung. Frankl,
der vorher nie chirurgisch gearbeitet hatte, dem es gar untersagt war
bei hirnchirurgischen Eingriffen auch nur zuzusehen, versuchte sich als
Autodidakt, um die in den Suizid geflohenenen Juden in ihr Schicksal zurückzurufen.
Der Chirurg, Primarius Reich, hatte dies abgelehnt und auch Frankls
Assistentin, Frau Dr. Rappaport, protestierte dagegen. Als Frau Dr.
Rappaport selbst deportiert werden sollte, unternahm sie einen
Selbstmordversuch, kam auf Frankls Abteilung, wurde von ihm operativ
wiederbelebt und kam ins KZ. Für Frankl waren diese hirnchirurgischen
Eingriffe auch von wissenschaftlichem Interesse. Die Nationalsozialisten
erhofften sich Nutzen für ihre Soldaten, sodaß sie ihn schlußendlich
im Jahre 1942 ermutigten und ihm ermöglichten, seine Untersuchungen in
der Schweiz zu publizieren, bevor er selbst nach Theresienstadt
deportiert wurde. Eine
merkwürdige Geschichte, die uns hier erzählt wird. Für Alfried Längle
kein Grund für Fragen, sondern Anlaß, um auf den "Geist der
Logotherapie" und Frankls "Experimentierfreude" zu
verweisen. Einer Freude, der er - "beseelt von einem humanitären
Ethos, aber auch getrieben von Ehrgeiz und von der Kraft brachliegender
Fähigkeiten" - nun endlich nachgehen konnte, um die Menschen
"vor einem unbedachten 'metaphysischen Leichtsinn' (Scheler) zu
bewahren." Demgegenüber problematisiert Timothy Pytell die Grenzen
medizinischer Ethik und die Frage, wie weit Frankl - mit Berücksichtigung
der repressiven Situation - in seiner Anpassung an die
Nationalsozialisten ging und inwieweit sich Frankls Ablehnung der
Auseinandersetzung mit der Biographie nicht auch auf seine (Auto-)Biographie
auswirkte, die im Bedürfnis nationaler Versöhnung kulminierte. Einer
Versöhnung, die sich jeder politischen Dimension entledigen will und
damit in einer moralisierenden Zweiteilung zwischen der "Rasse der
anständigen Menschen und der Rasse der unanständigen Menschen"
vernebelt. Alfried
Längle und Timothy Pytell formulieren provokante Widersprüche, die für
weitere Diskussionen sorgen werden. Und das ist Alfried Längles
Frankl-Porträt zugute zu halten. Durch seine Art der Darstellung wird
es ihm gelingen weitere Biographen zu motivieren, eine kritische und
damit würdige Auseinandersetzung mit dem Werk und Leben Viktor Frankls
zu unternehmen. Und auch sie werden mit Vorsicht zu genießen sein. Schon im Jahre 1936
hatte Sigmund Freud seinem Verehrer Arnold Zweig untersagt, sich an
seiner Biographie zu versuchen: "Wer Biograph wird, verpflichtet
sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und
selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische
Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu
brauchen." Nun: Alfried Längles Portät von Viktor Frankl ist in
diesem Sinne eine biographische Lüge und allein deshalb von Interesse.
Alfried
Längle Timothy
Pytell
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