Karl Fallend Die Täter ohne Profil. In:
Die Presse - Spectrum. 18. Jänner 2003 Menschen,
die aus politischen Vorsätzen anderen Menschen Leid zufügen, Folterer,
Mörder, auch Massenmörder, sind schon erforscht, ihr Leben beschrieben
worden. Im jeweiligen politischen Kontext ist die „Banalität des Bösen“
längst kein Rätsel mehr. Menschen töten aus geringsten Anlässen, und
sei es, um nur nicht „nein“ sagen zu müssen, nur ja konform zu
bleiben, wie uns der Sozialpsychologe Stanley Milgram mit seinen
Experimenten schon vor Jahrzehnten zu zeigen wußte. Die Palette des
ureigenen Vorteils ist vielfältig und reicht von der simplen Vermeidung
psychischen Unbehagens bis zur narzistischen Aufblähung durch
omnipotente Allmachtsphantasien, allesamt einer vermeintlich „guten
Sache“ wegen. Spätestens
seit dem 11. September 2001 – durch die täglichen Nachrichten aus dem
Nahen Osten verstärkt – starren wir auf ein mörderisches Phänomen,
das sich diesen Erklärungsansätzen entzieht: Die Selbstmordattentäter.
Menschen, deren (politische) Ziele wichtiger sind, als ihr eigenes
Leben. Menschen, die ihr Leben zur Waffe funktionalisieren und damit die
basale Rationalität von Eigeninteresse und Todesfurcht ebenso außer
Kraft setzen, wie die Logik der politischen Macht. Wer nicht überleben
will, ist auch mit nichts zu bedrohen. Für sie hat der Tod seinen
Schrecken verloren. Bewunderung, Verehrung, Angst, Schock, Hass, Rache führen
dann zu manichäischen Konstruktionen von „Gut“ und „Böse“ -
aber zu keinem Verständnis. In
letzter Zeit haben drei Autoren versucht, sich dem Phänomen der
politischen Selbstopferung aus unterschiedlichem Blickwinkel und
Motivlagen zu nähern. Einer von ihnen ist der Aushilfslehrer für
Elektrotechnik Abd Samad Moussaoui aus Montpellier. Der Beginn seiner
Reflexionen lässt sich genau datieren. Es war der 13. September 2001,
als er mit dem Auto auf dem Heimweg war und Radio hörte. Geschockt
vernahm er plötzlich seinen Namen – genauer: den seines Bruders
Zacarias, der eben in den USA verhaftet, an den Attentaten auf das World
Trade Center beteiligt gewesen sein soll. Das Leben war verändert.
Neben Verdächtigungen, Drohungen und Verleumdungen überschütteten
Polizei, Presse, Freundes- und Bekanntenkreis Abd Moussaoui mit Fragen
über den ein Jahr jüngeren Bruder, den er vor sechs Jahren zum letzten
mal gesehen hatte. Antworten hatte er keine – warum schloss er sich
radikalen fundamentalistischen Muslimen an? Warum ging er in die USA?
Warum wollte er dort fliegen lernen und zeigte auffallend kein Interesse
an Start- und Landemanöver? Abd Moussaoui wollte stattdessen sich und
anderen verständlich machen, wie sich das Leben des Bruders
entwickelte, das er lange Jahre geteilt hatte und in einer rätselhaften
Entfremdung endete. Die lesenswerte Familiengeschichte marokkanischer
Einwanderer in Frankreich vermag die sozial-politischen Hintergründe
auszuleuchten, trotzdem sie die entscheidenden Fragen offen lässt:
warum gerade jetzt, warum er und nicht andere? Eindrucksvoll
beschreibt der gedrängte Autor das Scheitern seiner Eltern, deren
historisch-kultureller background, Hautfarbe und Sprache nach Marokko
wiesen, während die vier Kinder in Frankreich aufwuchsen. Nach der
Scheidung findet die Mutter Arbeit als Putzfrau in Mulhouse, die Kinder
kamen ins Waisenhaus und waren von da an „die einzigen Schwarzen mit
elsässischem Akzent“. Vielerorts Gelächter. Für die Brüder der
lebensentscheidende Bruch – sie waren keine Franzosen und keine
Nordafrikaner, kannten nicht mal heimische Bräuche und kein Wort
arabisch. „Diese unklare Zugehörigkeit hat mich, ebenso wie Zacarias,
mein ganzes Leben verfolgt.“ Trotzdem mit entscheidendem Unterschied.
Zacarias Moussaoui wurde verbittert, zog sich zurück aus einer
Gesellschaft, die zusehends von einem Rassismus Le Pens durchzogen war.
Er legte zwar noch ein Technikerdiplom ab, hatte aber keine französischen
Freunde mehr. Rassismus wurde zu einer fixen Idee und seine fehlenden
historischen Wurzeln wurden durch eine gesteigerte muslimische Identität
ersetzt. Bald gab es nur ein Thema: Golfkrieg, Bosnien, Algerien, Palästina,
Tschetschenien... die verfolgten Muslime auf der Welt. Der
Bruder registrierte besorgt, aber ohne Verdacht diese Entwicklung vom
lebenslustigen Jungen, der Profisportler werden wollte, zum ehrgeizigen,
erfolgsheischenden Schüler und Facharbeiter, bis zum introvertierten,
verbitterten Studenten, der seinen Weg suchte, der plötzlich nach
London führte. International
Business wollte er studieren und bald kannte er auch die englische
Sprache, aber keine Engländer. Das war auch nicht notwendig, wie der
Bruder erfuhr, denn in der fanatischen wahhabitischen Bewegung waren
alle Immigranten muslimischer Herkunft gut aufgehoben. Finanzielle
Unterstützung, soziale Geborgenheit und Zukunftsperspektiven sind die
ersten Reize der Anwerbung kulturell und familiär Entwurzelter, die
bald für höhere Aufgaben bestimmt sind. Ab nun weiss Abd Moussaoui über
seinen Bruder nicht mehr viel zu sagen. Der gemeinsame Freund Xavier
sollte ihm jeden Verdacht bestätigen. Der lebenslustige, unreligiöse
Technikstudent mit schwarzer Hautfarbe folgte Zacarias nach London, wo
er sich ebenfalls den Anschauungen der Wahhabiten anschloss. Wenige
Jahre später wird der Autor zur Polizei vorgeladen. Farbfotos lagen auf
dem Tisch. Xavier im Drillichanzug und geschlossenen Augen. „Gefallen
in Tschetschenien.“ Abd
Moussaoui ist anzuerkennen, dass er sich um Distanz und Verständnis bemüht.
Ein schwieriges Unterfangen, an dem der Journalist und Dokumentarfilmer
Raid Sabbah scheitert. Eine vertane Chance. Fünf Nächte lang hatte er
die Gelegenheit im Flüchtlingslager von Dschenin mit dem Palästinenser
Said zu sprechen, der sich in lauter Verzweiflung für den Märtyrertod
entschieden hat und versteckt auf seinen Auftrag und Bombe wartet. Der
Autor glaubt „zu begreifen, was in einem Selbstmordattentäter
vorgeht“, glaubt „seine Erfahrungen zu teilen“, wenn er das Gehörte
in seinen Worten nahezu unkommentiert 1:1 zu reproduzieren trachtet.
Statt dessen entsteht ein schaurig fasziniertes Porträt eines 29-jährigen,
der seinen Tod zum Geschenk rationalisiert. Trotz
allem erfährt der Leser Einzelheiten einer biographischen
Leidensgeschichte, die den israelisch-palästinensischen Konflikt der
letzten Jahrzehnte wiederspiegelt und doch oft in Vergessenheit gerät.
Die Vertreibung der Familie aus ihren Olivengärten im Westjordanland
durch jüdische Siedler, Verhaftung des Vaters, der verzweifelte,
symbolische Griff der Kinder zur Steinschleuder gegen die Soldaten, die
die Mutter erschossen hatten. Schließlich vier Jahre Gefängnis und
Folter im Al-Far’a-Verwahrungslager. Said ist ein gebrochener Mensch,
für den soziale Entwurzelung und Demütigung zum Alltag wird. Ein Gefühl
der Stärke überkommt ihn erst, als er seine eigene M16 in Händen hält.
Ein Geschenk von Jamal, der führend in der Bewegung des Dschihad Al
Islami die Anwärter auswählt, ihnen Zeit und Einsatzort mitteilt und
den Sprengstoff besorgt. Allzu
geradlinig zeichnet Raid Sabbah die Entwicklung von der Unerträglichkeit
der Unterdrückung zum Widerstand, der nicht in einem besseren Leben,
sondern im Tod gipfeln soll und hinterlässt die offene Fragen: warum
gerade jetzt, warum er und nicht andere? Fragen,
denen der Islamist Christoph Reuter mit einer äußerst informativen
Arbeit auf den Grund geht. Auf über 400 Seiten nimmt sich der kundige
Autor den Raum, um das Phänomen der Selbstmordattentäter historisch
und politisch in einen internationalen Kontext zu beleuchten. Es ist
kein Psychogramm – so der irreführende Untertitel des Buches –
sondern ein facettenreiches Konglomerat an Informationen nach
jahrelanger Recherchearbeit. Obendrein, flüssig und verständlich
geschrieben. Reuters
spannt den Bogen von der Schlacht bei Kerbala (Irak) im 8. Jahrhundert,
als 72 Getreue in der Nachfolge Mohammeds gegen ein tausend Mann starkes
Heer den Untergang wählten, zum allmächtigen Schiitenführer Chomeini,
der diesem Mythos folgend, zehntausende Kinder und Jugendliche als
menschliche Angriffswellen gegen den Irak in den Tod schickte. Chomeini
war der erste, der eine religiöse Rechtfertigung
für das Selbstopfer im Namen des Islam beschwörte und die
westliche Öffentlichkeit mit einem Begriff konfrontierte: „Dschihad“
– heiliger Krieg. Während es im Iran nach bis zu einer Million
Gefallener zu einer „Märtyrerinflation“ kam, ohne irgend einen
Vorteil zu erzielen, wurde die Idee vom Märtyrertum als iranischer
Revolutionsexport weitergetragen: zur Hisbollah in den Libanon Mitte der
80er Jahre. „Die Hisbollah hat den sprengstoffbeladenen Märtyrer erst
wahrhaftig zum Mythos werden lassen – in der arabischen Welt, in Sri
Lanka, der Türkei, Tschetschenien. Und zwar gerade nicht, weil es die
Taten von Verzweifelten waren – sondern weil es überlegt gesetzte,
sparsam verwandte Operationen waren, die ein Minimum an Opfern und
maximale Wirkung versprachen.“ Trotzdem sind die Selbstmordattentate
die Waffe der Ohnmächtigen. Die traurige Logik einfach: „Als Lebender
bist du hier nichts.“ zitiert Reuters einen palästinensischen
Schuldirektor, „Als Toter kannst du ein Held werden, wenigstens für
einen Moment.“ Die letzten Worte auf Video verbreitet, und für die
Hinterbliebenen irdische Versorgung.
Und die Terrorbekämpfer? Sie drehen mit an der Spirale der
Gewalt durch Vergeltung der Vergeltung der Vergeltung, ohne an den ursächlichen
Lebensbedingungen etwas zu verbessern. Im Gegenteil. Sie führen einen
„totalen Krieg“. Aber gegen wen? Jahrelang haben die Analytiker der
israelischen Geheimdienste am Profil des „typischen Selbstmordattentäters“
gearbeitet, um schließlich zu merken: Es gibt keines. Und der
israelische Psychologe Ariel Merari erzählte dem Autor: „Die
Selbstmordkommandos sind in ihrer Zusammensetzung ein Spiegelbild ihrer
Gesellschaft. Und in der haben sie alle Schranken überwunden: Es sind Männer
vom Lumpenproletariat dabei und Universitätsabsolventen, Arme, aber
auch zwei Söhne von Millionären. Es sind immer noch vor allem Gläubige,
aber nicht nur. Nur in einem von 34 Fällen war ein ganz naher
Verwandter erschossen worden.“ Im Jänner 2002 sprengte sich in
Jerusalem die erste Frau. Wafa Idris, 28 Jahre, war nicht religiös, war
eine engagierte Rettungssanitäterin beim Roten Halbmond, die Leben
rettete. Hinter dem leeren Sarg laufen junge Mädchen voller Bewunderung
für ihre Heldin und bringen dabei eine makabre Bedeutung von
Emanzipation in Erfahrung: „Der Dschihad ist nicht nur für Männer!“ Die
unerträgliche Ohnmacht ist das stärkste Antriebsmoment, so Eyad
Sarradsch, der in Gaza ein Mental Health Project leitet, und bringt auf
den Punkt: „Das Leben und Sterben aber der eigenen Person und noch
vielleicht von zwei Dutzend weiteren buchstäblich in der Hand zu haben,
ist die ultimative Macht.“ Und um in den Genuss dieser Macht zu
gelangen, bedarf es keiner nationalen Verankerung mehr. Die Jünger der
Al-Qaida brauchen als nächstes Kampfziel kein bestimmtes Territorium
– sondern die Welt. Christoph
Reuter hat ein spannendes und wichtiges Buch geschrieben. Er verfällt
in seiner Arbeit keinen psychologistischen Deutungsversuchen, sondern
bleibt in seinen Analysen auf einem sachlich historisch-politischen
Terrain. Abd
Samad Moussaoui (unter Mitarbeit von Florence Bouquillat): Zacarias
Moussaoui. Mein Bruder. Pendo Verlag. 2002. 175 Seiten. Raid
Sabbah: Der Tod ist ein Geschenk. Die Geschichte eines Selbstmordattentäters.
Droemersche Verlagsanstalt. 2002. 253 Seiten. Christoph
Reuter: Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter – Psychogramm
eines Phänomens. C. Bertelsmann Verlag. 2002. 448 Seiten. |