BERND
NITZSCHKE ZWEIERLEI HEIMAT ÜBER EINEN RAUBÜBERFALL IN HESSEN 1822 UND EINEN FILM, DER ANDERTHALB JAHRHUNDERTE DANACH GEDREHT WURDE. VOLKER SCHLÖNDORFF ZUM 75. GEBURTSTAG Erstveröffentlichung:
Werkblatt
– Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 31. Jg., Nr. 73, 2/2014, S. 271-278. Ich kenne den Wanderweg. Er beginnt – und endet – beim Hofcafe Kornhaus in Gladenbach, also ganz in der Nähe von Marburg, wo ich 1968ff. studiert habe. Postraubroute wird dieser Weg genannt, denn er führt an der Stelle vorbei, an der 1822 der Überfall geschah, der armen Leuten aus Kombach etwas Geld einbringen sollte – und ihnen Verfolgung, Verurteilung und Tod einbrachte. In dem nach den Akten von Carl Franz, „Criminalgerichtssekretär zu Giessen“, angefertigten Bericht[i] wird die Gegend sehr genau beschrieben, in der der „Post-Raub in der Subach begangen von acht Straßenräubern von denen vier am siebenten October 1824 zu Giessen durch das Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht worden sind“, stattfand. In Schlöndorffs Film Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach, der 1971 mit einem Filmband in Gold ausgezeichnet wurde, trägt eine Stimme aus dem Off Passagen aus diesem Bericht vor, dessen altertümlicher Jargon mit der von Klaus Doldinger komponierten jazzigen Musik kontrastiert, zu die Postkutschenräuber über Berg und Tal stürmen, während die Postkutsche durch Wiesen und Felder fährt. Professionellen Schauspielern stehen Laiendarsteller gegenüber, die oberhessischen Dialekt sprechen. Das ist typisch für den Neuen Deutschen Film. Junge Regisseure hatten 1962 bei einer Pressekonferenz anlässlich der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen[ii] die Parole ausgegeben: „Papas Kino ist tot.“ Schlöndorff folgte ihr mit dem hier besprochenen kritischen Heimatfilm. Dieses Autorenkino, zu dessen wichtigsten Vertretern neben Volker Schlöndorff Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder gehören, steht in der Tradition der französischen Nouvelle Vague und des britische Free Cinema. Das bundesdeutsch-österreichische Genre des traditionellen Heimatfilms ließ in den 1950er Jahren alle Herzen höher schlagen. Wer damals ins Kino ging, konnte sehen, dass die alte (patriarchale) Ordnung doch noch Bestand hatte. Zwölf Millionen so genannte Heimatvertriebene und alle, denen im Zuge des Wirtschaftwunders ein ähnliches Schicksal bevorstand – der Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu einer fest gefügten Gemeinschaft –, tröstete der Heimatfilm illusionär über die realen Verluste hinweg. Da gab es sie noch, die Bergbauern, Pastoren, Gemeindevorsteher und Altbäuerinnen, Autoritäten, die im Verein mit Lederhosenburschen, Jägermeistern, Bergsteigern und Dirndlmaderln – die fromme Kinder Gottes geblieben waren oder nach einem Fehltritt wieder dazu wurden – Wilderern und Schmugglern (altmodische Variante) und zugereisten Wirtschaftsspekulanten (neumodische Variante) den Weg in eine schlechte Welt versperrten. Zum guten Schluss stellte sich dann in naturbelassener Landschaft auf dem Dorfplatz in der festlich gestimmten Gesellschaft bei Speis und Trank, Musik und Tanz das wohlige Gefühl der Geborgenheit doch wieder ein: Happy end! Teure Heimat. Im Internetversandhandel gibt es sie auf einer CD von den Zillertaler Schürzenjägern für 2,92 €. Die Version von Giuseppe Verdi, vorgetragen von einem Chor und mit Klavier begleitet, kostet dort auch nicht viel mehr: 4,10 €. Und wer der Teuren Heimat, dargeboten von Heino in Rockerkluft und der Musiklehrerin Britta von Anklang vor dem Düsseldorfer Rathaus anlässlich des 725 Jahre Stadtjubiläums 2013 auf YouTube lauscht, für den ist dieses Vergnügen gratis.[iii] Teure Heimat, wann seh’ ich Dich wieder …? Das fragte sich schon der Spätheimkehrer Odysseus. Als er zurückkehrte, erkannte ihn seine Amme Eurykleia an der Narbe, die er schon als Kind hatte. Ja, Heimat, das ist ein Ort der Kindheit, der im Gedächtnis zu finden ist, weil dort die Zeit außer Kraft gesetzt werden kann. Das wusste schon Homer, der uns die Geschichte der Penelope erzählt hat, die am Tag (im Wachen) das Totentuch webt, das sie in der Nacht (im Traum) wieder auftrennt. Das ist der Wunsch nach ewigem Bestand, eben nach Heimat, die nicht verloren geht, nach Zeitlosigkeit, den Sigmund Freud so umschrieben hat: „Im Es findet sich nichts, was der Zeitvorstellung entspricht […]. Wunschregungen, die das Es nie überschritten haben, […] sind virtuell unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wären.“[iv] Ja, Heimat, das ist ein Wunsch. Heimat ist eine Erinnerung. Heimat, das ist der Mythos, der in der romantischen Literatur eben jener Zeit beschworen wird, in der Schlöndorffs Film handelt. Das ist die Zeit der beginnenden Industrialisierung, in der viele Menschen auf dem Land keine Arbeit mehr finden, von der sie leben können. Sie wollen die Heimat, die sie jetzt verlassen müssen, die verlorene Zeit, als „heile Welt“ in Erinnerung behalten. Die Vögel singen, die Blumen blühen, die Sonne scheint … Dieses Postkartenklischee zeigt uns der traditionelle Heimatfilm in leuchtenden Farben. Als hätte er ihn vor Augen gehabt, schreibt Freud in der Traumdeutung: „Wenn Sie […] getrennt von Ihrer Heimat […] in der Fremde umherschweifen und Sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen, so wird es Ihnen des Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern; Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben […].“[v] Schlöndorffs kritischer Heimatfilm bedient nun aber nicht das mythische Gedächtnis; er wendet sich an das historische Gedächtnis. Dabei fügen sich in einer schwarzweißen Bildercollage Passagen aus der Heimat- und Bauernliteratur mit Auszügen aus Gerichtsakten und Anspielungen auf Grimms Märchen zu einer disharmonischen Einheit. Diese Komposition erschüttert die Seh- und Hörgewohnheiten des Zuschauers des traditionellen Heimatfilms. In einer Szene sehen wir droben auf dem Berg Männer und Frauen, die beim Pflügen den Rücken krumm machen, während drunten im Tal Kinder, angeleitet vom Dorflehrer, Verse aus Christian Fürchtegott Gellerts Gedicht Zufriedenheit mit seinem Zustande deklamieren: Genieße,
was dir Gott beschieden, Entbehre
gern, was du nicht hast. Ein
jeder Stand hat seinen Frieden, Ein jeder Stand auch seine Last. Arbeit macht frei. Jedem das Seine … Die mittelalterliche Verserzählung Meier Helmbrecht, aus der im Film ebenfalls zitiert wird, handelt vom schrecklichen Schicksal eines Bauernsohns, der zum Raubritter wurde, und hat doch ein (moralisches) Happy end, nämlich dieses: Bebau
das Feld, bleib bei dem Pflug dann
nützest du der Welt genug. Von
dir dann Nutzen haben kann der
arme wie der reiche Mann. […] Drum
treibe nur den Ackerbau; denn
sieh nur manche edle Frau wird
durch des Bauern Fleiß verschönt, manch
König wird sogar gekrönt durch des Ackerbaus Ertrag. Die Gerichtsakten geben Auskunft darüber, wie aus armen Leuten kriminelle Postkutschenräuber werden konnten: weil sie Wilderer waren! Und wie werden Wilderer zu Verbrechern? „Der Wilddieb […] bringt, nachdem Lust und Liebe zu seinen häuslichen Arbeiten in ihm nach und nach erloschen, seiner unerlaubten Neigung die völlige Zerrüttung seines Vermögenszustandes zum Opfer dar. Sodann mit der drückendsten Armuth und Dürftigkeit kämpfend, nimmt er […] zu Diebstahl und Raub, seine Zuflucht, die ihn immer tiefer in den Pfuhl alles Verderbens ziehen und endlich an einen entsetzlichen Abgrund führen.“ Diebstahl und Recht – Raub und Gesetz. Volker Schlöndorffs Heimatfilm widerspricht – wie Bertolt Brechts Dreigroschenoper – der herrschenden Moral, das heißt der Moral der Herrschenden. „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“[vi] Apropos Unrecht: Es gab Zeiten, in denen es gottgegebenes Recht war, einen Menschen zu besitzen. Im Großherzogtum Hessen wurde die Leibeigenschaft erst im Juli 1813 aufgehoben. Neun Jahre später fand der Postkutschenüberfall statt. Die vormals Leibeigenen sollten an ihre früheren Leibherren für die neu gewonnene Freiheit eine Entschädigung zahlen. Das war Gesetz. Das war Recht. Das heißt, die „freien“ Bauern mussten jetzt Land verkaufen, um ihre neuen Schulden begleichen zu können. So wurden aus leibeigenen Bauern arme Bauern. Aus armen Bauern wurden Tagelöhner, aus Tagelöhnern Wilddiebe und aus Wilddieben wurden Postkutschenräuber. Die armen Bauern hätten aber auch in die Stadt ziehen können, um dort 16 bis 18 Stunden in einer Fabrik zu arbeiten. Oder sie hätten ins Land der unbegrenzten Freiheit auswandert können: nach Amerika! Dort wurden damals mit christlicher Inbrunst gerade heidnische Völker zivilisiert (sprich: ausgerottet) und – unter Berufung auf rassistische Ideologien – schwarze Sklaven als Zwangsarbeiter zugrunde gerichtet. „Weise Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis“[vii] – so lautet der Titel eines Buches von Rosa Amelia Plumelle-Uribe, einer Nachfahrin von Sklaven. Im Film erklingt diese Strophe aus einem zeitgenössischen Volkslied: Jetzt
ist die Zeit, die Stunde da, wir
ziehen nach Amerika. Die
Pferde sind schon angespannt, wir fahren in ein fernes Land. Von
den acht Postkutschenräubern gelangte nur einer ins gelobte Land: der
Strumpfhändler David Briel; der es in Amerika zu Wohlstand gebracht
haben soll. Jost Wege aus Kombach konnte ebenfalls fliehen. Keiner weiß,
wo er geblieben ist. Johannes Soldan aus Kombach hat sich der
Gerechtigkeit ebenfalls entzogen: Er erhängte sich im Gefängnis. Und
weil sich der Landschütz Volk „der Hand des Henkers vorgreifend, eine
Kugel durch das Herz“ geschossen hat, blieben nur noch vier, an denen
ein Exempel statuiert werden konnte: Ludwig Acker, Hans Jacob Geiz und
dessen Söhne, Heinrich und Jacob. Der Vater musste zusehen, wie seine Söhne
enthauptet wurden, bevor er selbst zum Richtbock geschleppt wurde. Doch
das Spektakel verfehlte seine abschreckende Wirkung. Die Hungerrevolten
in Hessen gingen weiter. Und so kam es 1830 zum Blutbad von Södel,
benannt nach einem Dorf nördlich von Frankfurt. Auf diese Metzelei
nimmt Georg Büchners Hessischer Landbote[viii]
Bezug. Darin heißt es: „Dieses
Blatt soll
[…] die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt
[…].“ Eine dieser Wahrheiten lautete: „Im Jahr 1834 sieht es aus,
als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die
Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am
6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über
alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger
zum Gewürm gezählt. […] Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine
Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der
Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen
sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen
das Volk zur Knechtschaft.“ Über die Postkutschenräuber berichtet der Chronist, drei hätten, begleitet von Geistlichen, zur „Religion“ – „die auch dem Gefallenen ihren Stab noch reicht, um sich an ihm wieder glaubensvoll emporzurichten“ – zurückgefunden. Sie bereuten ihre Tat, um nach all dem Schrecken, den sie auf Erden erlebten, nicht auch noch den Schrecken der ewigen Verdammnis erleben zu müssen. Sie krochen buchstäblich zu Kreuze, während der vierte den Kniefall standhaft verweigerte. Das ist die Schlüsselszene des Films: Die reuigen Sünder schlagen auf den ein, der widersteht. Zwei Jahrhunderte nach dem Postkutschenüberfall in der Subach und Tausende Kilometer fern von Kombach hat der chinesische Künstler Ai Weiwei[ix], den die Mandarine in Peking unter Hausarrest stellten, weil er ihnen den Gehorsam verweigerte, diese Kumpanei der Unterdrückten mit den Unterdrückern so beschrieben: „Deine Familie, deine Lehrer, deine Kommilitonen, deine Freunde, alle werden auf dich einreden: Lass das doch, du schaffst dir nur Probleme […].“ Nicht Strafe und Lohn im äußeren Sinne, sondern die innere Bejahung der Knechtschaft sichert die Herrschaft. Bei Freud heißt es dazu, „aller innerer Zwang [war] ursprünglich, d. h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang“.[x] Erst wenn der Unterworfene zum Büttel seines Herrn geworden ist, kann der Herr gut schlafen. Wie kann es sein, dass die Knechte für die Aufrechterhaltung ihrer Knechtschaft sorgen? Das ist die Fragestellung des Films, der auch an dem von Max Horkheimer geleiteten Institut für Sozialforschung nachgegangen wurde. Das war eines der bedeutendsten Forschungsprojekte der Sozialpsychologie, dessen Ergebnisse 1950 unter dem Titel The Authoritarian Personality publiziert wurden – ein Werk in mehreren Bänden, von dem es bis heute keine vollständige deutsche Übersetzung gibt.[xi] Und so endet Volker Schlöndorffs Film über die armen Leute von Kombach mit diesem Gedicht Bertolt Brechts: Was
an dir Berg war Haben
sie geschleift Und
dein Tal Schüttete
man zu Über
dich führt Ein
bequemer Weg. Anmerkungen
[i]
Hier und nachfolgend nach dem Originaltext der Überlieferung der
Gerichtsakten aus dem Hessischen Staatsarchiv zitiert, der von
Carl Franz, Criminalgerichtssekretär zu Giessen, 1825 aktenmäßig ausgezogen und bearbeitet wurde.
Quelle: http://www.lohra-wiki.de/index.php5?title=Der_Postraub_in_der_Subach
(Aufruf 01.03.2014). [ii]
Der Text des Oberhausener Manifestes von 1962 findet sich hier: http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_erklaerungOberhausenerManifest/
(Aufruf 01.03.2014). [iii]
http://www.youtube.com/watch?v=ZxKsReNonqk [iv]
Freud, S. (1933). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse. GW XV, S. 80. [v]
Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. GW II/III, S. 252. [vi]
Brecht, B. (1928/1988). Die Dreigroschenoper. In: Ders.: Werke. Band
2; Stücke 2. Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 305. [vii]
Plumelle-Uribe, R. (2004). Weise Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur
Rassenpolitik der Nazis- Zürich (Rotpunktverlag). Siehe dazu ergänzend:
Wilson, J. (2001). Und die Erde wird weinen. Die Indianer
Nordamerikas. Frankfurt am Main (Suhrkamp). [viii]
http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1 (Aufruf:
01.03.2014). [ix] Ai Weiwei (2014). [Interview]. Über Ohnmacht. Süddeutsche Zeitung, 15./16. März 2014, Nr. 62. [x]
Freud, S. (1915). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X, S. 333. [xi] Siehe dazu ausführlich weiter bei: Nitzschke, B. (2010). Gross, Reich, Fromm. Der Wille zur Macht. Die Sehnsucht nach Liebe. In: Felber, W. Götz von Olenhusen, A., Heuer, G. M., Nitzschke, B. (Hg.): Otto Gross, Psychoanalyse und Expressionismus. 7. Internationaler Otto Gross Kongress Dresden, 3. bis 5. Oktober 2008. Marburg (LiteraturWissenschaft.de), S. 32-61
|