Bernd Nitzschke

Goethe ist tot, es lebe die Kultur!

1

Es existiert eine Art Muckertum im Goethekultus,

das nicht von Produzierenden,

sondern von wirklichen Philistern, vulgo Laien, betrieben wird.

Jedes Gespräch wird durch den geweihten Namen beherrscht,

jede neue Publikation über Goethe beklatscht,

er selbst aber nicht mehr gelesen,

weshalb man auch die Werke nicht mehr kennt,

die Kenntnis nicht mehr fortbildet.

Dies Wesen zerfließt eines Teils in blöde Dummheit,

andern Teils wird es wie die religiöse Muckerei als Deckmantel

zur Verhüllung von allerlei Menschlichem benutzt,

das man nicht merken soll.

Zu alledem dient eben die große Universalität des Namens.

Gottfried Keller, 1824

Goethe, gewiß, ein Symbol deutscher Kultur. aber ein solches ist auch Stammheim; hatte sich doch Sartre nicht entgehen lassen, diese Mauern und Selbstschutzanlagen zu besichtigen. Und jene Mauern weiter östlich, auch sie hatten symbolischen Wert; waren sie doch Staatsmännern aus aller Welt, mal von Osten, mal von Westen, mit je unterschiedlicher Intention, vorgeführt worden. Und nicht zuletzt hatten sie eine Goethesche Harzreise zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht. Natürlich – Auschwitz gehört auch noch zu diesen Symbolen deutscher Kultur. Und die Deutsche Bank. Und IG Farben, Verzeihung, Hoechst und Bayer am Rhein. Und die Wohnsilos der Neuen Heimat. Und der preußische Stechschritt der proletarischen Kameraden, die im entmilitarisierten Großberlin friedlich für den Sozialismus marschierten. Das Blöde an Goethe ist, daß er so schlecht in diese deutsche Landschaft paßt. Deshalb kann jeder um so besser über ihn reden. Bernward Vesper – ich habe seinen Text nur in einem Wort geändert – äußerte sich über unsere Kultur so: «Eines Tages wird die Nachricht <Mickey-Maus ist tot!> bei einer größeren Anzahl Menschen auf der ganzen Erde weit größeres Entsetzen auslösen als Nietzsches Aufschrei Goethe ist tot!> – die Menschen werden ratlos in den Straßen stehen: <Mickey-Maus ist tot! Wer wird der nächste sein?>» Ein bißchen Goethe hier, ein Häppchen Goethe da? Aber noch schwerer, als für sein Denkmal einen würdigen Platz in unserer Kultur zu finden, ist es, den Mann aus Marmor von jenem Sockel zu hieven, auf dem ihn Deutsch­lehrer, Feuilletonisten und Theaterintendanten platziert haben: «Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur – Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen» (Nietzsche).

Und das sind die Folgen des unerbittlichen Wiederauflebens des Genius anläßlich seines hundertfünfzigjährigen Ablebens: Das Goethejahr 1982 zwang Goethe-Verehrer zum Aufstieg. Jenem Gipfelkreuz deutscher Kultur entgegen, an dem der Meister hängt. Von dort oben betrachtet taten sich wahrhaft schwindelnde Abgründe deutschen Geistes auf: «Goethe und die Arbeiterklasse» (Frankfurt/M.); «Goethe als Briefschreiber und Postbenutzer» (Essen); «Sänger sprechen Goethe» (Oberhausen); «Der erotische Goethe» (Saarbrücken); «Goethes Verhältnis zu Sterben und Tod» (Hamburg)! Die Ritter von der schreibenden Zunft zogen in den Jubiläumskampf gegen den Olympier und ritten dabei einen Pegasus zu Schanden, der teilweise dem Klepper Rosinante, teilweise aber auch einem Maikäfer glich. Die Titel, die sie dabei einheimsten, lasen sich, gemäß ihrer Steigerungsform aneinandergereiht, folgendermaßen: «Goethe»; «Mein Goethe»; «Mein Gott Goethe». Im merkantilen Goethe-Jahr 1932 notierte Walter Benjamin über den Goethe-Schund: «Das Werk (i. e. Goethe von Emil Ludwig) befriedigte bekanntlich die Bedürfnisse des breitesten Publikums. Es ermöglichte dem Leser, wenn nicht sich in Goethe zurecht-, so gewiß einen kleinen Goethe in sich selbst vorzufinden.

Dabei hatten Nick und Netty, zwei auf dem Streckbett einer deutschen Universalbildungsanstalt malträtierte Hamburger Schüler, 18 und 17 Jahre alt, noch rechtzeitig vor dem Goethe-Jahr 1982 gewarnt: «Goethe-Winseln können wir nicht ertragen.» So ließen sie in einem Pamphlet wider die Zurichtung deutschen Geistes verlauten, das ein deutsches Nachrichtenmagazin (19/1982) verbreitete. Zwar sprachen die beiden mit ihrem Stoßseufzer Generationen von Heideröslein-Erlkönig-Nachtlied-Gezwiebelten aus tiefstem Herzen, doch genützt hat’s wenig. Und das, obgleich die Schüler den Dichterfürsten auf ihrer Seite hatten, konnte der das Winseln doch ebenso wenig wie das Kläffen von Kötern ertragen: «Soll ich mit dir das Zimmer teilen, / Pudel, so laß das Heulen, / So laß das Bellen! / Solch einen störenden Gesellen / Mag ich nicht in der Nähe leiden.» Es heißt, schlußendlich habe das Winseln des Schoßhundes der Frau von Stein Goethes weitere Besuche bei derselben verlitten. Aber was kann Goethe, der inzwischen selbst zum Schoßhund deutscher Kultur avanciert ist, gegen die Meute kläffender Schwärmer ausrichten? Selbst starke Worte – «Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre (...)» – nutzen da wenig. Und Faustische Magie reicht auch nicht aus, um in den hohlen Kern, der sich in den Köpfen winselnder Pudel verbirgt, Substanz zu zaubern.

Goethe-Jahre bieten, Nick und Netty zum Trotz, dem deutschen Feuilleton Gelegenheit, den einen oder den anderen Vogel abzuschießen, und sei’s auch nur ein Papagei. Den trefflichsten Plattschuß – die Kugel hätte vom Teufel selbst gegossen sein können – erlaubten sich 1982 die vereinigten «Schulfunkredaktionen der ARD und des RIAS». So unterzeichneten Dunkelmänner einen leichenschänderischen Text, der Literarisches zu und über Goethe einleiten sollte. Selbiges funkten sie über Äther in die Ohren deutscher Schüler; und später ließen sie’s pressen und unter dem Titel «Mein Goethe» unter die Leute bringen. «Mein»-«Gott»-«Goethe»! Womit hast du das verdient? An dem nekrophilen Unternehmen beteiligten sich deutsche Schrift-Stehler, die als «Nationalmannschaft» (O-Ton Schulfunk) unserer Gegenwartsliteratur vorgestellt wurden. Die Crème de la Nivea also, die Goethe da um den Bart strich, sie ist im Einzelfall für einen Platz auf der SWF-Torschützenliste gut. In jedem Fall lassen die Texte der versammelten Spitzen- und Gipfelliteraten aber die von einer anderen (deutschen) «Nationalmannschaft» verursachte «Schmach von Córdoba» als heroische Kulturleistung erscheinen.

Der Trainer aus den vereinigten Schulfunkredaktionen kam, wie er im «Vorwort» erkennen läßt, zu seinem Ensemble unter Aufbietung äußerster Anstrengung: «Eine Frau sollte dabei sein, natürlich.» Natürlich ist es die papierzentnerschwere Wohmann, die in ihrem Text zwecks Zeilenfülle die Ruh’ über allen Gipfeln gleich zweimal in voller Länge zitiert, damit andeutend, daß sie das Schweigen der Vöglein im Walde für sich nicht als Vorbild nimmt. Wer sollte, laut Schulfunk, noch mit von der Landpartie sein? «Ein Autor, der die heutigen Verhältnisse in Weimar kennt, selbstverständlich.» Selbstverständlich ist dies der ebenso zentnerschwer(kummer)beladene Kunert vom Weltuntergangsflügel der deutschen Nationalliteratur. Er schwadroniert über «Herrn G.»: «Seine nußfarbenen, ein wenig basedowartig hervorgekugelten Augen ließen mich nicht aus denselben.» Na fein, wenn Herr K. sich durch solche Worte von Drüsenschwellungen und denselben befreien kann, warum nicht?

Schwierigkeiten bei der Mannschaftsaufstellung begegneten die vereinigten Schulfunkredaktionen vorsorglich: «Mit Absagen mußte gerechnet werden, man schuf eine <Ersatzbank>.» Nun läßt sich im nachhinein schwer feststellen, wer dort draufsaß. Mickey-Maus läßt sich jedenfalls nicht blicken. Statt dessen stürmen und drängen: Zok-Roarr-Wumm-Rühmkorf («Was ich davon halte, scheint mir dabei weniger interessant als das, was objektiv vorliegt»); Schnurre-Stracks-Wolfdietrich, sein Opus als Sprechgesang bietend («ICH [bitter] Logisch: Als Null»); Lenz, Siegfried, ebenso bitter, denn für den Namen kann er nichts, obgleich man ihn symbolisch sehen muß («Symbolisch sehen: das heißt, eine Erscheinung nicht um ihrer selbst willen betrachten, sondern sie als Ausdruck für eine höhere Gesamtheit nehmen»). Und so nehmen wir die symbolische Erscheinung des Martin Walser als Ausdruck der versammelten höheren Gesamtheit und resümieren mit ihm: «Goethe ist vom Negationisten nicht darstellbar»; und mit dem Vorwortschreiber schließen wir schließlich ganz ab, denn: «(...) schließlich war nach rund drei Monaten alles klar.» Alles klar?

Jedenfalls die Tatsache, daß unsere Goethe-schwangeren Schwärmer nach drei und nicht erst nach neun Monaten rund waren, ist klar. Da die Texte, leider, nicht mit der 1819 von Ludwig Börne in Paris gesichteten «sympathetischen Druckerschwärze» hergestellt wurden, «die nach einem Jahr wieder verschwindet», bleiben sie uns erhalten, bis die Auflage und die Nasen vergriffen sind, an denen die Goethe-Interpreten deutsche Schüler herauf und herab und quer und krumm, kurz mit Faustscher Unrast zu ziehen verstehen. Angesichts solcher Sprachleistungen konnte man im Goethe-Jahr 1982 freilich auch verreisen. Etwa so (Annonce in einem deutschen Bildungsblatt): «Goethes Lebensreise. Karte. Tegel im Norden, Girgenti im Süden, Valmy im Westen und Vieliczka im Osten bilden die vier äußersten geographischen Punkte, innerhalb deren sich Goethes Lebensreise abspielte. Die Karte zeigt synoptisch die äußeren Wege des Dichters und ist, abgesehen von ihrem Informationswert, ein reizvoller Wandschmuck. Format 51x64 cm, Vierfarbendruck auf Zerkall-Bütten-Papier. DM 19,80.» Das finde ich demokratisch, das Format unseres Dichterfürsten auf 51 x 64 cm zu begrenzen und gleich noch mitzuteilen, daß sich Goethes Lebensreise innerhalb deren vier Punkten abspielte. Diese geographische Erkenntnis gleicht der geglückten Quadratur des Kreises!

Es ist ungerecht, den einen oder anderen Erguß eines eiligen Schöngeistes hier hervorzuheben. Der eine zählte sämtliche Titel und Orden auf, die der Weimarer Geist im Laufe seines schier nicht enden wollenden Lebens einheimste; ein anderer zählte die Leichen der Überlebten, die des Dichters Erdenpfad pflasterten, getreu dem unsterblichen Dichterwort: «Lange leben heißt gar vieles überleben (...).» Fast jeder der Jubiläumsgrüße hätte es verdient, genannt zu werden, und jeder der Jubelnden hat es verdient, je nach Höhe der Auflage der Zeitung, für die er schrieb. Aber einen muß ich hier, pars pro toto, doch noch nen­nen, weil sich an diesem Beispiel zeigen läßt, daß der Dichter dann besser noch in der Gosse erörtert wird als auf einem Podest. Ich meine Reinhard Baumgart und sein Oeuvre «Eine Liebeserklärung». Dasselbe enthält die bedeutungsschweren Worte, Goethe habe «nahezu alles gesagt» und deshalb «zu allem auch scheinbar das Gegenteil gesagt». Das Elend der Dialektik! «(...) immer dieser eine arme Goethe! Weil er zehnmal mehr begriffen hat als die andern Deutschen, soll er gleich alles gewußt haben» (Ludwig Hohl). Baumgart also nimmt Platz auf einem Wipfel deutscher Kultur, setzt zum Sprung an und landet – wer hätte das gedacht? – bei Frankfurt am Main mitten auf der Startbahn West. Dort bricht er sodann in die folgende Sentenz aus: «Nun bin ich zwar ganz darauf gefaßt, daß er (Goethe – B. N.) uns in diesem Jahr vorgeführt werden wird mit Hinweis auf die Philemon-und-Baucis-Szenen im zweiten –Teil? des? – >Faust< als ein Gegner der Startbahn West, aber wir müssen eben auch darauf gefaßt sein, daß uns mit Hinweis auf die gleichen – dieselben? – Szenen bewiesen wird, wie tragisch notwendig Goethe der Ausbau des Frankfurter Flughafens erschienen ist.»

Aha! Also müssen wir ob solch schlechter sophistischer Späße gefaßt bleiben. Und deshalb sollten wir nicht gleich mit der zweiten Faust auf den Tisch nieder-, vielmehr im zweiten Teil des Faust nach­schlagen. Dort zeigt sich nämlich, daß Goethe, aller Bildungsbürgerlektüre zum Trotz, keinen Gemischtwarenladen eröffnet hat, in dem sich jeder bedienen kann, wie er gerade lustig ist. Faustens Trachten nach der bescheidenen Startbahnhütte von Philemon und Baucis – nebst «mor­schem Kirchlein» und den schönen «Linden» im Besitz der beiden Alten – hat nämlich gar nichts mit der paranoiden Platzangst des Betonfachmanns (und 1982 in Hessen amtierenden Ministerpräsidenten) Holger Börner gemein. Faustens Streben nach dem beschaulichen Refugium der antiken Alten entspringt auch keinen spätzivilisatorischen Fortschrittsphantasien, vielmehr handelt es sich um eine Art Grundstücksmaklermentalität, wie sie bei Vettern aller Neuen Heimat üblich ist. Faust will, was die Hütte der beiden Alten angeht, weder die Nordsee eindeichen noch den Frankfurter Flughafen ausbauen, vielmehr treiben ihn Neid und Besitzgier: Er will das letzte Stück Land an sich raffen, das er noch nicht sein eigen nennt:

Die Alten droben sollten weichen,

Die Linden wünscht ich mir zum Sitz,

Die wenig Bäume nicht mein eigen,

Verderben mir den Weltbesitz.

Dort wollt’ ich, weit umherzuschauen,

Von Ast zu Ast Gerüste bauen,

Dem Blick eröffnen weite Bahn,

Zu sehn, was alles ich getan.

Faust will also auf die Bäume klettern, um die Aussicht zu genießen. Das heißt aber nicht, daß ihm die «Linden (...) die Aussicht auf seinen Besitz versperren», wie Mattenklott («Deutsche Literatur», Bd. 6, Reinbek 1980) behauptet. Ganz im Gegenteil, lieber Literaturfreund! Und das soll nun aber nicht heißen, daß Goethe heute nicht als Grüner im Frankfurter Stadtparlament säße. Schreibt er doch, als Werther getarnt, im gleichnamigen Briefroman unter dem Datum vom 15. September das Abhauen «herrlicher Nußbäume» in einem alten Pfarrgarten betreffend: «Ich sage dir, dem Schulmeister standen die Tränen in den Augen, da wir gestern davon redeten, daß sie abgehauen worden – abgehauen! Ich möchte toll werden, ich könnte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat. Ich, der ich mich vertrauern könnte, wenn so ein paar Bäume in meinem Hof stünden und einer davon stürbe vor Alter ab, ich muß zusehen (...). Das ganze Dorf murrt, und ich hoffe, die Frau Pfarrerin soll es an Butter und Eiern und übrigem Zutrauen spüren, was für eine Wunde sie ihrem Ort gegeben hat. Denn sie ist es, die Frau des neuen Pfarrers (...), ein hageres, kränkliches Geschöpf (...), eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt zu sein (...), eine ganz zerrüttete Gesundheit hat und deswegen auf Gottes Erdboden keine Freude. So einer Kreatur war es auch allein möglich, meine Nußbäume abzuhauen.» Börne hin – Pfarrersfrau her: den Baum, den gibt’s nicht mehr.

Um den Zusammenhang, in dem Goethe-Feiern und politische Kultur in unserem Lande zu sehen sind, hat sich der erwähnte Holger Börner im Goethejahr 1982 verdient gemacht. So nahm er im Großen Schwarzen als Repräsentant anläßlich einer Goethe-Feier im Festsaal einen der Plätze in der ersten Reihe ein, die so gut geeignet sind, des Abends den Politikerschädel im handelsüblichen Format über die Mattscheibe flimmern zu lassen. Und wenig später demonstrierte er dann in einem Interview mit einer bunten Illustrierten, was ihm vom Geiste Goethes geblieben ist; da äußerte er sich zu «gewalttätigen» Startbahngegnern: «Ich bedauere, daß es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen eins in die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit Dachlatten erledigt.» Ich meine, solche Worte, in einem Goethejahr gesprochen, sind verdienstvoller, als es ein Festsaal voller Kulturangestellter, Feuilletonisten, Verlagsleiter, Papierverkäufer und Literaten je sein könnte, weisen sie doch nach, daß die Börners in Reihen Kolonnen, links wie rechts, kommen und gehen, während Goethe zum Denkmal erstarrt, um ohne Folgen für die politische und sonst welche Kultur in unserem Lande zu bleiben bzw. auf Marktplätzen herumzustehen.

Und die Ironie der Geschichte? Die Goethe-Linde am Hirschgraben hinter des Dichters Geburtshaus wurde just im Goethejahr 1982 vom Frankfurter Gartenbauamt als altersschwach ausgemacht. Es heißt aber auch, sie hätte einer Baumaßnahme im Wege gestanden. Also kletterte ein Beauftragter des Gartenbauamts mit einer Kreissäge auf den Baum und fing an Holz zu fällen. Aus dem Nachbarhaus wurde er von Angehörigen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gesichtet, der dort sein Domizil hat. Sie kamen und schlugen den Säger mit zornigem Gebrüll in die Flucht. In diesem Fall war der Deutsche Buchhandel, dem ansonsten – und sei es nur zum Zwecke der Laudatio auf den Dichter – kein Holz zu schade ist, um es als bedrucktes Papier zu verwerten, im Innersten getroffen. Der eilends herangekarrte Oberbürgermeister der Goethe-Geburtsstadt Frankfurt befahl dem Frevel Einhalt. Da stand sie nun, die Goethe-Linde, angesägt, befreit von einem Drittel der knorrigen Äste … Hätten die Deutschen ihrem größten Dichter noch ein denkwürdigeres Denkmal zu bieten?

 

2

Hierbei bekenn’ ich,

daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe:

erkenne dich selbst,

immer verdächtig vorkam,

als eine List geheim verbündeter Priester,

die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren

 und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt

zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten.

Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,

die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.

Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.

Goethe

«<Falschheit nur und Verstellung ist im Umgang der Menschen, / Keiner erscheint, wie er ist!> – Danke dem Himmel, mein Freund!» (Goethe, Xenien) Nein, Goethe war bestimmt nicht so naiv zu fordern, die Menschen sollten ihr «wahres» Wesen entblößen. Der Schein, die Verstellung be­decken gnädig, die Gnade des Himmels bewahrt uns, ins Herz der Menschen zu blicken. Goethe, wiewohl ein großer Psycholog, warnte doch vor allzu intensiv betriebener Psychologie und Introspektion: «Alle gesunden Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden um sie her. Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, das heißt eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge aus einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen» (Maximen und Reflexionen). Wahnsinn, nicht seine Ursache, wohl aber seine unausweichliche Konsequenz, das ist für Goethe gleichbedeutend mit dem Verlust der lebendigen Wechselbeziehungen zur Außenwelt, mit der Hinwendung zur eigenen Person, mit der narzißtischen Selbstbespiegelung, mit dem Starren auf den «hohlen Fleck» im eigenen Gehirn. So schreibt er in den Lehrjahren über den Harfner: «Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien.» Nein, Goethe ist kein Kronzeuge für die Literatur, die nur noch die eigenen Gehirnwindungen abspiegelt, ist nicht zeitgemäß und deshalb auch nicht beliebt bei unse­ren neo-romantischen Ich-Schwärmern. Bloße Introspektion, die mit imaginierten Bildern die Nacht-Räumlichkeit ausfüllt, ist ihm verhaßt. Bei ihm ist es nicht der Schlaf der Vernunft, sondern der Schlaf der Liebe, der die Ungeheuer gebiert. Das Subjekt ist nichts, es sei denn im Objekt; das Objekt ist nichts, es sei denn, es werde zum Subjekt. Das ist die Botschaft der Unterredungen zwischen Suleika und Hatem im Westöstlichen Divan. Also formuliert Goethe in den Maximen und Reflexionen: «Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt und noch etwas mehr.» Das «Mehr», um dessen Gestaltung es Goethe geht, ist die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, ohne die kein (liebender) Dichter denkbar wäre. Also, weder die bloße Innenwelt, die reine Subjektivität, noch das sture Abkonterfeien der äußeren Realität, der literarische Realismus, sind Goethes Metier. Vielmehr: «Die große Schwierigkeit bei psychologischen Reflexionen ist, daß man immer das Innere und Äußere parallel oder vielmehr verflochten betrachten muß» (Maximen und Reflexionen). Goethe also wendet sich seinen Figuren nicht als analytischer Beobachter zu, der sich als Spiegel der Gestalten versteht, die dem hohlen Fleck im Gehirn seiner Helden (Patienten) entspringen. Nicht Neutralität und Abstinenz, sondern Leidenschaft ist die Lösung, in der sich Subjekt und Objekt auf bisher nicht bekannte Weise miteinander zum Kunstwerk verbinden. Fragt sich, was eine psychologische oder psychoanalytische Interpretation solcherart zustande gebrachter dichterischer Bilder denn nun leisten kann, wenn erklärtermaßen nicht Analyse, sondern Synthese am Ausgangspunkt Goethescher Kreativität steht? Führt eine Reduktion des Kunstwerks auf die (pathologische) Persönlichkeit des Künstlers nicht notwendig in die Sackgasse? Goethe selbst notierte in diesem Zusammenhang einen, Rembrandt zugeschriebenen, Ausspruch: «An meinen Bildern müßt ihr nicht schnuffeln, die Farben sind ungesund» (Maximen und Reflexionen). Der psychologische Kunstfreund, der meint, aus einer Analyse der Farben das «Wesentliche» und «Eigentliche» des Bildes zu gewinnen, wird eine bestürzende Entdeckung machen, nämlich feststellen, daß die Substanz der Farben immer dieselbe ist, ob sie nun von Rembrandt, von Hinz oder von Kunz verwendet wurden. Auf seinem Weg, das Besondere zu enthüllen, wird der Schnüffler beim All(er)gemeinsten enden.

Und so bleibt auf diesem Wege von der Fiktion des Genies auch nichts übrig, es sei denn Menschliches, Allzumenschliches. Die psychologischen Elemente, in die sich das Genie auflösen läßt, wären nämlich bei jedem Straßenfeger wiederzufinden. Um einen Ausspruch des heiligen Augustinus zu variieren: Auch Kunstwerke werden zwi­schen Kot und Urin geboren. Eine der Leistungen des Genies besteht darin, solches Wissen vorauszusetzen, nicht es erst entdecken zu wol­len. Solche Entdeckungen bleiben Epigonen und anderen Schnüfflern vorbehalten. Aber immerhin haben auch solche Entdeckungen ihr Gutes: Sie zerstören die Idealisierungen, mit denen der bürgerliche Geniekult das Gefährliche und Gefährdende zu verharmlosen versucht.

Was also nützen uns Ausführungen über das «Pathologische» bei Goethe? Immerhin, sie weisen die andere Hälfte der Welt des Genies (und unserer eigenen Person) auf, sie zeigen, daß die von der bürgerlichen Normalität abgespaltene Pathologie eine Conditio sine qua non für jede Art des künstlerischen Schaffens ist. Mit dieser mittlerweile banalen Feststellung wäre den progressiven Wortmaschinen entgegenzutreten, die den Schizo als den wahrhaft Gesunden feiern und selbsterwählte Anti-Helden wie Hölderlin, Büchner oder Nietzsche wortreich zerfleischen, um einen so scheinbar Gesunden wie Goethe unverdaut auszuspeien. Nein, meine Freunde der Scheinsubversion: So einfach ist es denn doch nicht! Goethe im Museum und Hölderlin im Turm, das sind nur zwei Strategien, sich dessen zu entledigen, was sie uns zu sagen hätten. Mal den einen zum Komplizen der eigenen Dummheit zu machen, mal dem anderen auch noch seinen Wahnsinn zu nehmen, das führt zu nichts. Das «Pathologische» an Goethe wiederzuentdecken, das ist dennoch eine vergleichsweise notwendige Tat. Immerhin ist es ein Versuch, das Standbild Goethes aus dem Schlick des offiziösen Kulturbetriebs zu ziehen und es von dem Kalk zu befreien, den es im Meer der geschwafelten Worte angesetzt hat. Dieses Unternehmen bedeutet aber auch, Goethe als die allseits entwickelte Persönlichkeit vorzustellen, die er war und zu der – allem sozialistischen Spießergefasel zum Trotz – vor allem auch eine entwickelte Psychopathologie gehört. Nur die allseits redu­zierte Persönlichkeit ist von all den Vermögen, Eigenschaften und Leidenschaften befreit, die das bürgerliche Denken ins Reich des Krankhaften abgeschoben hat.

Die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts entdeckt die Dialektik von Genie und Wahnsinn und eignet sich damit ein Wissen an, das die Künstler selbst niemals verloren hatten. Aber warum denken wir beim Thema Genie und Wahnsinn nicht an den Fortschritt der Naturwissenschaften, der uns in absehbarer Zeit (geschrieben 1981) die geniale Umgestaltung des Planeten Erde in eine gigantische Militärmaschine bescheren wird? In der assoziativen Verknüpfung von Genie und Wahnsinn mit Kunst kommt wohl die Gewißheit zum Ausdruck, daß jede mögliche naturwissenschaftlich-technische Entdeckung prinzipiell wieder-holbar wäre. So genial Newton oder Einstein waren, man ist geneigt anzunehmen, ihre Leistung könnte ein zweites Mal vollbracht werden. Nicht so in der Kunst: Die Odyssee, der Hamlet oder der Faust könnten, gingen sie verloren, kein zweites Mal erschaffen werden, ist die Subjektivität ihrer Schöpfer doch die unabdingbare Voraussetzung des Kunstwerks. Und wie die Subjektivität eines jeden beliebigen Men­schen, so ist auch die eines Homer, eines Shakespeare oder eines Goethe nicht wiederholbar. Deshalb also ist der Geniebegriff so eng mit dem der Kunst verbunden: weil Genie in diesem Zusammenhang die höchste Steigerung der Subjektivität, das ganz persönliche Er-Leben der Realität, die Widerspiegelung der Objekte in den Leidenschaften eines Bestimmten bedeutet. Diese unauflösliche Verflochtenheit mit der lebenden und leidenden Person teilt das Kunstwerk mit der Liebe und dem Wahnsinn.

«Ein Narr, der sich einbildet, ein Fürst zu sein, ist von dem Fürsten, der es in der Tat ist, durch nichts unterschieden, als daß jener ein nega­tiver Fürst und dieser ein negativer Narr ist. Ohne Zeichen betrachtet, sind sie gleich» (Georg Christoph Lichtenberg). Heißt das nun, daß jeder Narr ein Genie ist, nachdem wir auf die Dialektik von Genie und Wahnsinn hingewiesen haben? Heißt das nun, daß jedes erlittene Unglück einen Empfindsamen zum begnadeten Dichter macht? Wenn man auf das «Vorzeichen» verzichtet, das Fürst und Narr trennt, dann kann man solchem Trugschluß wohl aufsitzen. Wenn sich heutzutage jeder begabte Schizo oder nur Artaud-Stammler selbst zum Genie erklärt, dann sollte uns das Beispiel des Heinrich Stieglitz (1801-1849) als Warnung dienen. Den heute vergessenen Lyriker, den Goethe einmal beiläufig lobend in den Gesprächen mit Eckermann erwähnt, können wir als wahrhaft Wertherschen Charakter bezeichnen, der es doch zu keinem Werther, wohl aber zu ein paar romantisch überspannten Lyrismen gebracht hat. Über ihn bemerkt seine Ehefrau Charlotte: «Er hatte – Angst vor dem Sprechen mit Menschen, selbst mit den genauesten Freunden. Dieser passive, nur schlaffe Zustand (...) mochte wohl vier Wochen dauern. Dann wechselte er mit großer Aufmerksamkeit ab; Beklommenheit, Verwirrung, tödliche Unruhe steigerten sich nun, vorzüglich in geschlossener Luft, bis zum Entsetzlichsten (...). Völliger Lebensüberdruß mitten durch das Anerkennen, wie glücklich er sein könnte (...). Für diesen Sommer war er voller Pläne; nun ist alles vernichtet und eine tiefe Melancholie bis zur Menschenscheu an die Stelle des sonst so freudig Schaffenden und klar ins Leben Blickenden getreten (...). Je länger Sie ihn kennen, desto mehr werden Sie diese merkwürdige Ebbe und Flut bei ihm gewahren; nach zeitweiser Dürre schwillt mit einem Male der Nil und befruchtend überschwemmt er den ganzen Stieglitz nach allen Seiten hin; dann dichtet er nicht allein, sondern dann schreibt er Briefe dutzendweise, (...) lebt, liebt, liest (...), sieht sieh und andere klar, und hat alle zerstreuten Kräfte beisammen.» Kein Zweifel, der Mann war vom «Furor Wertherinus» (Lichtenberg) gezeichnet. Er hätte, wie Jerusalem, als Vorbild für Goethes Werther dienen können.

Auch in Goethe selbst steckten Werthers Charakter und Leiden, wie der Dichter an vielen Stellen seiner autobiographischen Mitteilungen und in Briefen an Freunde verlauten ließ. Doch das Erleben der ins Monströse gesteigerten Leidenschaften, das Erleiden womöglich sämtlicher Symptome eines psychiatrischen Lehrbuchs genügen nicht, aus der Qual ein Kunstwerk zu formen. Dazu bedarf es, entgegen aller leidenschaftlichen Unmittelbarkeit, auch der kältesten Distanz, wenigstens nachträglich, zum Erlittenen. In dieser Spaltung und virtuosen Handhabung solcher Spaltung, die man getrost eine Selbstausbeutung, eine Ausbeutung des eigenen Erlebens, nennen könnte, liegt eine zweite unentbehrliche Voraussetzung künstlerischen Schaffens. Schließlich hat sich nicht Goethe, sondern Werther erschossen. Indem er seinen Stellvertreter umbrachte, brachte sich Goethe auch um dessen Erleben, das in dieser Form jedenfalls kein zweites Mal in seiner Dichtung auftaucht. In dieser Spaltung, die den kreativen Prozeß begleitet, liegt ein Stück manipulierter, das heißt gehandhabter Irrsinn, wie der Nervenarzt Möbius, Goethe charakterisie­rend, treffend feststellt: «Wenn jemand imstande ist, jederzeit sich selbst zu beobachten, so ist er einerseits sehr zum <Seelenmaler> geeignet, andererseits aber nicht normal. Der natürliche Mensch ist bei seinen Hauptangelegenheiten <mit ganzer Seele>, er gibt sich hin. Die andauernde Kritik entspricht einer Hypertrophie des Denkens und gehört zur Nervosität. Ich habe nervöse Leute gekannt, die sich in der Brautnacht scharf beobachtet hatten und geneigt waren, gerade im Momente größter Erregung Betrachtungen anzustellen, und andere, die beim Tode der nächsten Verwandten neugierig auf ihre Empfindungen waren. Dem Gesunden ist so etwas geradezu unheimlich (...).»

Es ist also ein Stück Depersonalisation und Derealisation, das den Dichter wie den Analytiker zu seinen Seelengemälden befähigt, wobei sie die Farben für ihre Gemälde aus der latenten (emotionalen) Realität nehmen, die dem Gesunden, das heißt hier: dem unmittelbar Lebenden, so nicht zugänglich ist. In dieser Perspektive betrachtet ist das Streben nach Gesundheit geradezu identisch mit der versuchten Aufhebung der Spaltung, deren höchste Steigerungsform sich in der introspektiven Psychologie dokumentiert: «Wer in sich recht ernstlich hinabsteigt, wird sich immer nur als Hälfte finden; er fasse nachher ein Mädchen oder eine Welt, um sich zum Ganzen zu konstituieren, das ist einerlei» (Maximen und Reflexionen). Vielleicht versucht der Künstler, sich als Ganzheit wiederherzustellen, indem er sich das Kunstwerk als die andere Hälfte seiner selbst gegenüberstellt? Er folgt damit einer Notwendigkeit, um sich vor dem Zerbrechen, also vor dem Wahnsinn zu schützen. Dieser Zug, sich als Einheit zu erhalten oder wiederherzustellen, ist, wie Goethe in der Farbenlehre ausführt, in der Natur allgegenwärtig: «Jedes Wesen, das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unverrückt erhalten. Dies ist eine ewig notwendige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes Einzelne habe Charakter bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt, wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen selbst Charakter zuschreiben: denn er gibt auf, was andere Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu seiner Natur gehört: die Ehre, den Ruhm, nur damit er seine Persönlichkeit erhalte.» Das Fatale ist nur, und wir werden später ausführlich auf diesen Punkt anhand Goethes Leben und Werk zu sprechen kommen: in der Liebe, in der liebenden Vereinigung, ist die Einheit des Individuums aufs äußerste gefährdet. Hier soll sich einer zur Hälfte machen, um sich zu zweit als Einheit zu erleben! Goethe selbst war hierzu, die Kette seiner unglücklichen Liebschaften beweist es, lange Zeit nicht fähig. Er hatte Angst, sich dem Objekt unmittelbar zu nähern. Distanzrituale, physische und psychische Flucht wie kreative Schöpfungen dienten der Selbst-Erhaltung. Erst auf seiner Italienreise, als fast Vierzigjähriger, wird er gewahr, was ihm bislang unmöglich war. An Charlotte von Stein, zu der er über zehn Jahre hinweg ein besonders quä­lend-distanziertes Verhältnis unterhielt, dem er sich durch Flucht aus Weimar entzogen hatte, schreibt er aus Rom (am 8. 6. 1787): «Übrigens habe ich glückliche Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie ganz sind, auch der Geringste, wenn er ganz ist, kann glücklich und in seiner Art vollkommen seyn, das will und muß ich nun auch erlangen, und ich kann’s, wenigstens weiß ich wo es liegt und wie es steht, ich habe mich auf dieser Reise unsäglich kennen lernen.»

Wenn sich die Frau des Heinrich Stieglitz 1834 in Berlin am Schiffbauerdamm im Bette liegend ein Messer in die Brust stieß, um durch solches Leid, wie sie in ihrem Abschiedsbrief schrieb, ihren Mann zu einem genialen Kunstwerk zu inspirieren, so saß sie einem Trugschluß auf. Zwar verfaßte Kyser 1915 das Drama «Charlotte Stieglitz», doch ihr Mann blieb, was er war: ein armer genialer Narr, vom Wertherschen Fieber hin und her geschüttelt, der es nur zu Unbedeutendem brachte. Seine Frau hatte Lichtenbergs Aphorismus über den Narren und den (Dichter-)Fürst wohl zu wörtlich verstanden. Mit der dichterischen Inspiration muß man kunstvoller umgehen: da genügt es nicht, die Flasche der Leidenschaf­ten zu schütteln, bis sie explodiert. Oskar Panizza bezeichnet– im Anschluß an den französischen Psychiater Moreau – das Genie denn auch als «eine Art stehengebliebener Geisteskrankheit». Panizza, zunächst Arzt in einem psychiatrischen Spital, bevor er, in der Mitte seines Lebens, sich in ein solches als Geisteskranker einweisen ließ, beschreibt anschaulich, wie das Genie seinen Wahnsinn bändigen muß, um ihn produktiv zu machen: «Man hat trivial, aber sehr illustrativ, den menschlichen Geist mit einer Flasche Sodawasser verglichen. Die Klarheit der Flüssigkeit entspricht dem normalen Zustand. Bei normaler Geistesverfassung fühlen wir unsere Gedanken nicht als solche (...). Sobald der Stöpsel Luft bekommt, beginnt das Perlen und Sich-Trüben der Flüssigkeit. Der Stöpsel repräsentiert den controllierenden Druck unseres bewußten Aufmerkens, unseres Verstandes. Die aufsteigenden Perlen sind das Freiwerden der Imagination, die Bilder der Phantasie. In diesem Zustand befinden wir uns alle im Schlaf. Unsere Aufmerksamkeit erlischt, und die Phantasie, die stets parat ist, wie die Kohlensäure, sobald der Druck von ihr genommen, emporzusteigen, beginnt ihre Tätigkeit als Traum (...). Im Traum selbst sind wir kritiklos, naiv-zuschauend. Sobald wir erwachen, erblicken wir den Wirrwarr; wundern uns über unsern eigenen Zustand. Und mit dem Einstellen des bewußten Aufmerkens, mit dem Fester-Aufdrücken des Stöpsels, hört der ganze Spuk auf; die Perlen bleiben aus, die Flüssigkeit wird wieder klar (...). Das Ingenium ist dann eine schlecht schließende Flasche, bei der auch Tags über Perlen in größerer oder geringe­rer Menge durchschießen. Diese Perlen, diese Bilder, diese Motive (...) erregen (...) seine gespannteste Aufmerksamkeit, sogar Angst, Unruhe (...); und nun beginnt eine erregte, fieberhafte Tätigkeit; der Verstand ist gezwungen, sich mit den fremden Faktoren abzufinden, sie zu verarbeiten; und das Resultat ist, wenn es gut geht, ein geniales Werk, ein unerhörter Fund, eine barocke Idee, aber immer ein Unicum. Der beginnende Geisteskranke, der beginnende Hallucinant ist dann ebenfalls eine Flasche mit gelockertem Stöpsel, bei der die Perlen immer stürmischer auftreten (...). Auch der beginnende Hallucinant stutzt genau anfangs wie das Genie über den fremden Eindringling, ist in Zweifel, geräth in Unruhe (...); aber meist häufen sich dann die Sinnesbilder so stürmisch, daß der Verstand Controlle und Kritik verliert, und das wilde Meer der Imagination den ganzen Menschen wie ein steuerloses Schiff hin- und herwirft» (Panizza, Genie und Wahnsinn, 1891).

Man sollte glauben, Freud habe diesen von Panizza verfassten Text vor der Abfassung der «Traumdeutung» gelesen. Traum, Wahnsinn und Genialität – schon seit alters her, spätestens seit Platon, miteinander in Verwandtschaft gesehen – sind voneinander nur durch das Ausmaß der Kon­trolle, die der Verstand ausübt, getrennt. Bei Freud ist es der «Zensor», der den «Schlaf» überwacht und der das Wechselspiel zwischen Primärprozeß (= ungebundene Energie, Panizzas perlende Kohlensäure) und Sekundärprozeß (= gebundene Energie, Panizzas klare Flüssigkeit) reguliert. Ohne perlenden «Wahnsinn» keine Genialität, sondern nur Sterilität. Bloßer Wahnsinn aber ist assoziative Beliebigkeit, Subjektivität, die durch keinen anderen Menschen mehr nachvollzogen werden kann, nackte unbehauene, nicht gestaltete Natur.

3

Willst du dich deines Wertes freuen,

So mußt der Welt du Wert verleihen.

Goethe

In einer absurd frühen Zeit,

mit sieben Jahren,

wußte ich bereits,

daß mich nie ein menschliches Wort erreichen würde.

Nietzsche

Genie und Wahnsinn am Beispiel Goethes zusammenzudenken, wie Möbius dies versucht, das war am Ende des 19. Jahrhunderts – und es ist wohl auch heute noch so – ein kleines Wagnis. Zwar war die neueste Stimmung im Süden – etwa die in Wien oder die auf dem Berge der Wahrheit in Ascona (der Anarchist Brupbacher notiert 1907 über Ascona: «Hauptstadt der psychopathischen Internationale») – dem Ge­nie- und Wahnsinnsgerede durchaus hold: Kaum noch überschaubare Massen von Abweichlern, Außenseitern, Decadents, Kulturfreaks, Nacktbadern, Anarchisten, Kräuter- und Haschischessern machten sich auf den Weg, dem ausgehenden und dem kommenden Jahrhundert zu beweisen, wie einzigartig einer sein kann, der sich, mit ein wenig Wahnsinn verziert, dem Bürger als Schreck präsentiert – doch an Goethe als Schizo dachte wohl kaum einer. Der «Lizentiat der Rechte», der «Geheime Legationsrat», der «Geheime Rat», der «Wirklich Geheime Rat», der «Staatsminister», den man mit einem Adelsdiplom versehen hatte, der mit dem französischen Kaiser über den Werther parlierte als Franzosenhaß unter deutschen Freigesinnten en vogue war, der Bergwerke, Bibliotheken, Münzsammlungen und das Weimarer Hoftheater gleichermaßen oberbeaufsichtigte – wie sollte man bei dem an Außenseitertum und Wahnsinn denken?

Möbius’ Schrift «Über das Pathologische bei Goethe» (1898) tritt dem Dichter denn auch nicht zu nahe. Zwei Seelen müssen wohl in der Brust des Leipziger Bildungsbürgers und Gelehrten miteinander gekämpft haben, bevor er sich, eingedenk des gelassenen Goetheschen Wortes «Wo viel Licht ist, ist starker Schatten», ein Herz nahm, um die seit Lombroso vertretene psychiatrische Lehre von der «Entartung» des Genies am Beispiel Goethes zu exemplifizieren. Möbius’ Psychiatrisierung Goethes fällt doch eher vorsichtig aus. Die Hauptlast des Pathologischen entdeckt Möbius an den Figuren des Dichters: am depressiv-manischen Werther, am paranoiden Tasso, an der hysterisch-anorektischen Ottilie usw. Ein übriges Maß an Entartung bekommen Goethes Frau Christiane und der Sohn August zugeteilt, die des Dichters schleichenden Alkoholismus ein wenig dreister praktizierten. Dazu die «Tanzwut» der Christiane und der von Möbius angedeutete Selbstmord des August in Italien, das ergibt genügend Beweis für die Entartungslehre, zu deren Vertretern zuletzt noch Gottfried Benn zählte, der weiß, daß «die Stunde des Genies» schlägt, wenn nach «Generationen der Tüchtigkeit der Abstieg beginnt, der wirtschaftliche Konkurs, der Selbstmord, die Kriminalität». Eine solche Stunde des Genies hatte freilich nicht geschlagen, als Möbius sich aufmachte, Goethes Pathologie zu enthüllen. Aber doch eine Stunde der psychiatrischen Tüchtigkeit und des Fleißes, Lorbeeren, die der Fachmann Möbius dem Dichter Goethe nicht gerade zu bescheinigen hat. Nach Begutachtung Goethescher Helden kommt Möbius zu dem traurigen Schluß, deren Konzeption stimme mit psychiatrischen Lehrbuchmeinungen nicht durchweg überein. Goethe hätte «im psychiatrischen Examen nur mäßig gut bestehen, eine weniger gute Note als Shakespeare» davontragen können, weiß unser Gewährsmann.

Es muß wohl an einer inneren Hemmung des Bildungsbürgers Möbius gelegen haben, die es ihm versagte, dem Bildungsheros Goethe eine profunde Geisteskrankheit zu bescheinigen. Leichter tat er sich in seinem anderen Werk: «Nietzsche» (1902). Hier konnte Möbius in die vollen greifen, wußte doch alle Welt, daß der arme Nietzsche Jahre in geistiger Nacht vor sich hingedämmert hatte. Nietzsche gab Möbius die Gelegenheit «Über Entartung» (1900) zu referieren, die ihm Goethe in diesem Ausmaß nicht geboten hatte. Möbius konstatiert im Falle Nietzsches eine ursprünglich krankhafte Anlage, die «man etwa einem Fermente vergleichen (könnte), das bei der Entstehung des Nietzsche-Gehirns eigenthümliche Kombinationen hervorrief (und) verhinderte, daß Nietzsche wie seine Vorfahren ein ehrsamer Pfarrherr wurde (...)». Nietzsche, der sich seine Anhänger immer nur als Nullen hinter einer 1 vorstellen konnte, hat wohl zuwenig an seine Widersacher gedacht. Als solcher entpuppt sich Möbius, wenn er Nietzsche-Adepten warnt, als handle es sich bei ihnen um die Kundschaft eines Falschmünzers: «Wenn ihr Perlen findet, so denkt nicht, daß das ganze eine Perlenschnur wäre. Seid mißtrauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker», bramarbasiert Möbius über Nietzsche.

Vollends um die Nietzsche-Forschung hat sich unser Gewährsmann verdient gemacht durch die Einführung der hier erstmals so genannten «Dr. Möbius’schen Honigprobe», ein Verfahren, das sich als quasi naturwissenschaftlich-experimentelle Technik zur Einführung in die literarische Textanalyse empfiehlt. Und das geht so: Im Zarathustra entdeckte Dr. Möbius neben vielen anderen «Geschmacklosigkeiten» die folgende Zungenqual: «gelber weißer guter eisfrischer Waben-Goldhonig». Diesen Nietzscheschen Leckerbissen läßt sich Dr. Möbius nicht entgehen. Er schreibt: «Eis-Honig kommt (in diesem Text – B. N.) wiederholt vor. Abgesehen davon, daß in Zarathustras Höhle und auf den Bergen kein Eis ist, kühlt kein Verständiger den Honig auf Eis. Ich habe es experimenti causa gethan; es geschah, was zu erwarten war: der Honig verlor sein Aroma und schmeckte wie Syrup.» Diese Entdeckung, vor allem aber deren sprachliche Darbietung, qualifiziert Dr. Möbius zur Teilnahme an der eingangs vorgestellten «Nationalmannschaft» deutschsprachiger Zungenvirtuosen, zumal ihm, wie Möbius unter strengem Verweis auf Nietzsche gesteht, «geschwollene Reden äußerst unsympathisch» sind.

Möbius, der sich auch «Über Schopenhauer» (1899), und, dessen vermeintlichem Weiberhaß folgend, «Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes» (1901) geäußert hat, verstand sich stets pointiert auszudrücken. Nun sollte uns das Lächeln über ihn allerdings vergehen, wenn wir daran denken, daß die psychoanalytische Lehre von der moralischen Minderwertigkeit des Weibes – dessen neidischer Charakter getreu der Freudschen Geschlechtsphobie an einem Stück Penis festzumachen wäre – Generationen von Psychoanalytikerinnen (nach ein paar hundert Stunden Lehranalyse) sehr wohl eingeleuchtet hat. Ich meine, was Freud recht ist, sollte Möbius billig sein: Anerkennung. Freud zollte sie dem Kollegen Möbius bereitwillig, den er in einem Brief an Fließ «den besten Kopf unter den Neurologen» nennt. Und selbst in Amerika, wohin er reiste, um an der Clark University Vorlesungen zu halten, lobt Freud den Dr. Möbius noch über den grünen Klee. In einem Interview mit dem Boston Evening Transcript (11. 9. 1909) nennt er ihn – neben Liébault und Bernheim – als einen der Pioniere der modernen Psychotherapie. Übrigens: das waren noch Zeiten, als die Psycho-Gurus von Europa nach Amerika reisten und nicht, wie heute, die umgekehrte Richtung einschlugen!

Freud hatte mit seinem Urteil keineswegs unrecht. Möbius war tatsächlich ein führender Kopf, der – wie etwa auch Bleuler – für die Reformierung der Psychiatrie eintrat. Vor allem wollte Möbius den monistischen Standpunkt überwinden, den die «Somatiker» einnahmen, die behaupteten, psychische Krankheiten seien organisch bedingt. Möbius versuchte hingegen an der Tradition der «Psychiker» anzuknüpfen, wonach psychologische Faktoren bei der Verursachung psychia­trischer Leiden zu berücksichtigen wären. Möbius’ Hysterie-Lehre kann als fortschrittlich angesehen werden, behauptete er doch, Hysterie sei keine reine Gehirnkrankheit, vielmehr eine durch falsche Vorstellungen (Imaginationen) mitbedingte Störung.

Diesen «psychophysischen Parallelismus», zu seiner Zeit keineswegs selbstverständlich, versuchte Möbius auch in seinem Goethe-Buch anzuwenden, wenngleich er dabei auf halbem Wege steckenblieb. Immerhin lehnte er den «plumpen Materialismus» der herrschenden Psychiatrie konsequent ab. Möbius geht sogar so weit, von jedem Arzt psychologisches Wissen zu verlangen, da auch bei der Behandlung bloßer Organkrankheiten psychologische Faktoren eine Rolle spielten. Doch am Ende bekommt Möbius dann wieder Angst vor seiner eigenen Courage. Wenn er auch betont, daß «zwischen Gesundheit und Geisteskrankheit keine scharfe Abgrenzung anzunehmen sei», zieht er in seinem Goethe-Buch aus dieser mutigen Erkenntnis doch nicht die notwendigen Konsequenzen. Aber, wie gesagt, für seine Zeitgenossen waren viele seiner Äußerungen einigermaßen unerhört. Und so lobte die damalige Fachkritik Möbius’ Goethe-Werk: «Ein hochangesehener, vielerfahrener Nervenarzt geht hier den Spuren des Pathologischen in Werken und Wesen unseres größten Dichters nach. Da in der großen Goetheliteratur ein ähnlicher Versuch noch nicht vorhanden war, verdient die Schrift erhöhte Aufmerksamkeit» (Deutsche Litteraturzeitung). Ein anderer Rezensent feiert das Buch «als die inhaltsreichste Frucht der Goetheforschung der jüngsten Jahre» (Litterarisches Centralblatt).

Wenn Möbius die Konsequenzen seiner aufrührerischen Einsichten auch nicht selbst vertritt, so läßt er sie durch vorurteilsloses Zitieren doch von dem Dichter aussprechen. Dessen Ansichten über die Zerrüttung der geistigen Gesundheit korrekt herausarbeitend schreibt Möbius über Goethe: «Der Wahnsinn ist ihm die Wirkung oder eigentlich der höchste Grad der Leidenschaft. Im Sinne des Dichters ist Einer um so mehr wahrer Mensch, je stärker er empfindet. Der leidenschaftliche Mensch ist der eigentlich Gesunde, gerade ihm aber droht die Gefahr des Wahnsinns. Eben deshalb hat der Dichter Interesse am Wahnsinne und sozusagen Respect vor ihm (...). Macht nicht die unglückliche Liebe oder Kummer, Sehnsucht wahnsinnig, so ist der Wahnsinn dichterisch überhaupt nicht brauchbar.» Wie gut hat Möbius Goethe verstanden! Besser als die meisten, die Goethe als einen mittelmäßigen, angepaßten Allzu-Gesunden abstempeln. Aber dann nimmt Möbius wieder den Standpunkt im psychiatrischen Ordinationszimmer ein und kanzelt den Dichter ab: «In Wirklichkeit liegen die Dinge freilich anders.» Wie denn? Na – so: «Die <Leidenschaftlichkeit> ist nicht eine Eigenschaft des gesunden Menschen. Bei diesem sind leidenschaftliche Erregungen selten (...). Ein wirklich gesunder Mensch wird nie durch Leidenschaften oder Gemüthserschütterungen geisteskrank werden, denn die gesunde Natur wehrt sich gegen das Übermaaß, stößt das Traurige, Feindliche hinaus, wie der Körper einen eingedrungenen Splitter.» Das ist die Beschreibung gesunder Normalität, die hält, was sie verspricht, auch wenn alles ringsumher in Scherben fällt. Gesunde Normalität – darin ist Möbius recht zu geben – bekämpft das «Traurige» und «Feindliche»: Sie verfolgt es an anderen und vernichtet es an Andersartigen. Nach «tausend» Jahren weiß jeder, wie diese Selbstverteidigungs- und Vernichtungsstrategie funktioniert.

4

Ich lese einen Roman von Goethe,

der mir gar nicht gefällt –

weitläufig, ennuyant, keine Liebe, nichts als Tugend, Entsagen auf alles.

Eine einzige Seite ist im ganzen Buch;

es kommt mir vor, wie ein dummes Stammbuch,

wo viele hineinschreiben –

der Roman heißt: die Wahlverwandtschaften.

Pauline Wiesel an Rahel, 1810

Die Zerstörung von Sinnlichkeit, Emotionalität und Leidenschaft, die Konsequenz des Wahnsinns als Ausdruck einer verlorenen Liebe, das Zugrundegehen an psychischen Verletzungen, die unter dem Deckmantel verlogener Moral und Sittlichkeit verabreicht werden: das sind die Themen Goethescher Dichtung. Und das ist, zum guten Teil, Goethes eigenes Schicksal.

Hier taucht nun ein Goethe auf, der selbst anders ist, jedenfalls anders als der, den uns die Feuilleton- und Literaturgeschichte zurechtgeschrieben hat. Folgen wir K. R. Eissler (Goethe. A Psychoanalytic Study, Vol. l-II, Detroit 1963), so erkennen wir einen Goethe, der mit dem unglücklichen Lenz die Hypersensibilität, die kaum kontrollierbare Emotionalität, die affektive Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit teilt; ein Goethe, der, im Unterschied zu Lenz, gerade noch der schizophrenen Psychose entgeht; ein Goethe, der zeitlebens unter paranoiden Ängsten, vor allem unter (unausgelebten?) homosexuellen Wünschen zu leiden hat. So gesehen, kann man den Faust auch als das Drama eines homosexuellen Verführungsversuchs lesen, ein Versuch, der am Ende glückt: Am Schluß hält Mephisto den Körper des Faust in seinen Armen, während dessen pietistisch-herrnhuterische Seele von dannen und in den Himmel schwebt, aus dem die tröstlichen, in diesem Falle jedoch gänzlich unglaubwürdigen Worte ertönen: «Das EwigWeibliche zieht uns hinan». Wie wenig dieser fromme Spruch auf Faust zutrifft!

Kollege Schiller teilt Aufschlußreiches über sein homophiles Begehren mit, das sich auf Goethe richtet, der es aber versteht sich zu zieren, abzuwehren, weshalb Schiller frustriert ist. «Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen (...). Er besitzt das Talent, die Menschen zu fesseln, und durch kleine sowohl als große Attentionen sich verbindlich zu machen; aber sich selbst weiß er immer frei zu behalten. Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben – dies scheint mir eine konsequente und planmäßige Handlungsart, die ganz auf den Genuß der höchsten Eigenliebe kalkuliert ist (...). Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen.» Schillers psychologischer Scharfblick erweist sich, sobald wir (weiter unten) auf das Verhältnis des Tasso zu seinem Demütiger Antonio zu sprechen kommen.

Nein, Goethe ist nicht der Frauenheld, den uns die erotische Phantasie unserer Deutschlehrer vorgaukelte und den uns Goethes kunstvoll zwischen Dichtung und Wahrheit arrangierte Liebschaften suggerieren sollten. Folgen wir Eisslers tiefgründiger psychoanalytischer Interpretation, hatte Goethe vor allem Angst (vor Frauen?), die er erstmals auf einer Reise in den Süden überwand. Hier, in Italien, in Rom, glückt Goethe, der jetzt fast vierzig Jahre alt ist, ein befriedigender heterosexueller Koitus. Mit einer mehr oder weniger wohlfeilen Schankwirtin, die in den Römischen Elegien als Faustina gefeiert wird, findet er sein spätes Glück. Vorher litt er an Kastrationsangst, Impotenz, Ejaculatio praecox, die – laut Eisslers vielleicht doch etwas vordergründiger Interpretation? – auf Hypersensibilität zurückzuführen wären.

Über Italien schreibt Goethe, das spätere Gerede von «Eiszeit» und «Packeis» in den nördlichen Gegenden vorwegnehmend: «Es ist mir als wenn ich hier geboren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt, von einem Walfischfang zurückkäme.» Grönland, das ist das Herzogtum Weimar, dem Goethe zehn Jahre lang gedient hat, dessen höfische Verlogenheit er im Tasso schildert; das ist jenes Weimar, das er nach zehnjähriger Distanz-Himmelei zur frigiden Frau von Stein fluchtartig verlassen hat. Im südlichen Rom begegnet Goethe einem anderen Völkchen, Künstlern (wie dem Sprayer von Zürich in Gestalt des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein). Solche Leute wissen zu feiern – und der Geheime Legationsrat feiert, zunächst zögernd, dann aber überschwenglich mit. Auf sein sexuelles Martyrium, sein qualvolles Streben nach sittlicher Reinheit, auf seine Flucht vor der «Schuld» (wenn er sich einem Mädchen näherte, meinte er, sich zu versündigen) zurückblickend schreibt der Dichterfürst in den Römischen Elegien über Gott Amor: «Wer sie (die Tugend) am höchsten verehrt, den weiß er (Amor) am besten zu fassen, / Und den Sittlichsten greift er am gefährlichsten an. / Will ihm einer entgehn, den bringt er vom Schlimmen ins Schlimmste. /Mädchen bietet er an; wer sie ihm töricht verschmäht, / Muß erst grimmige Pfeile von seinem Bogen erdulden, / Mann erhitzt er auf Mann, treibt die Begierden aufs Tier, / Wer sich seiner schämt, der muß erst leiden (...).» Und gelitten hatte der Dichter unter diesem grausamen Gott, weiß Amor, genug! Doch bevor Goethe den Weg zu «jener buschigen Myrte» findet, die «ein heiliges Plätzchen» «beschattet», muß er Ängste überwinden, die sich bei ihm vornehmlich als Furcht vor Ansteckung mit der «französischen» Krankheit maskieren.

Tastend pirscht Goethe sich in Italien an die öffentlichen Schönen heran, diese zunächst aus der Ferne bestaunend: «Ich habe sie alle recht scharf angesehen und in denen acht Tagen nicht mehr als Eine gesehen, von der ich gewiß sagen mögte daß ihre Reitze feil sind«, notiert er in Venedig (am 25. 9. 1786) in das Reisetagebuch. Wenn das kein göttergleiches Bild ist, unser großer Dichter als venetianischer Eckensteher, der die schönen Kanaljungfrauen mit scharfem Blick mustert, um herauszufinden, unter welchem Rock sich eine Hure verbirgt! Dieses Bild macht ihn uns etwas menschlicher. Schon dreister geworden notiert er (am 1. 10. 1786): «Heut hat mich zum erstenmal ein geiler Schatz bey hellem Tage in einem Gässgen beym Rialto angeredet.»

Faustina, die römische Schankwirtin, verwitwet, Mutter eines Sohnes, hat unseren Dichter in Rom dann so recht zur Brust genommen. Gleich jubelt er stolz und pfeift Gott Priapus ein Loblied: «Nicht das Mädchen entsetzt sich vor mir, und nicht die Matrone, / Häßlich bin ich nicht mehr, bin ungeheuer nur stark. / Dafür soll dir denn auch halbfußlang die prächtige Ruthe / Strozzen vom Mittel herauf, wenn es die Liebste gebeut. / Soll das Glied nicht ermüden, als bis ihr die Dutzend Figuren / Durchgenossen wie sie künstlich Philänis erfand.» Jetzt scheinen die Sexualängste und der Wahn überwunden zu sein, mit einem erigierten Phallus häßlich zu wirken; ein Wahn, den eine schizoide Mutter einimpfen und ein sittlich-hysterisches Bürgermädchen nur allzu leicht bestärken konnte. Die sinnenfrohe Faustina muß anders empfunden haben. Und so ähnlich war wohl auch Christiane, das Blumenkind, die Tochter aus dem Volk, die Goethe nach seiner Rückkehr aus Rom in Weimar kennen, lieben und schätzen gelernt hatte, sehr zum Mißfallen des Hofes, besonders aber der Frau von Stein, die sich, ob dieser unstandesgemäßen (in Goethes Erleben aber doch wohl standesgemäßen) Beziehung, indigniert zurückzog.

Christiane, zärtlich und unverblümt, wie sie nun einmal ist, spricht in ihren Briefen an den Staatsminister dessen halbfußlang-prächtige Rute hinfort allerliebst, nämlich als «Herr Schönfuss» an. Und in den posthum veröffentlichten Epigrammen jubelt Goethe über seinen «Bettschatz» Christiane: «Lange sucht ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen, / Endlich erhascht ich dich mir Dirnchen, da fand ich ein Weib.» Als hätte er Goethes Christiane vor Augen, heißt es später in einem Traktat Baudelaires über die «den Literaten gefährlichen Frauen» (gemeint sind «anständige Frauen» wie der Blaustrumpf): «Nur zwei Klassen von Frauen sind möglich: die Dirnen oder die dummen Frauen: die Liebe oder der Suppentopf. – Brüder, bedarf es einer Darlegung der Gründe?» Das ist die Dichter-Männerphantasie von der anständigen Hure, von der Mutter als Hure und von der Hure als Mutter, die Freud analysierte. Und Goethe schrieb gelegentlich: es sei leicht aus einer Göttin eine Hure, aber schwer, aus einer Hure wieder eine Göttin zu machen. Nun, die Lösung dieses Paradoxons scheint ihm dennoch gelungen zu sein. Und ein zweites Rätsel löste er auf seine Art gleich mit, nämlich das, wie man(n) homosexuell-anale Bedürfnisse mit der Hilfestellung einer Frau befriedigen kann: «Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen, / Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch» (nachgelassene Epigramme).

So sinnenfroh wie in diesem und anderen Sprüchen geht es in Goethes Romanen und Dramen leider nur selten zu. Die Frauen, mit denen seine Helden zu tun haben, sind von Format; also sind sie keine Blumenkinder. Eine Ausnahme macht vielleicht Egmonts Klärchen. Aber auch sie nimmt am Ende ein Schlückchen Gift, weil in Goethes Welttheater Sinnesfreuden auf Erden ohne Reue und Strafe nicht genossen werden dürfen. Dem Egmont, der sich mit dem Sohn seines Feindes Alba in einer Gefängniszelle verbrüdert, erscheint Klärchen am Ende des Dramas «in himmlischem Gewande» als Freiheitsstatue. Womöglich will uns der Dichter damit kundgeben, glückliche Ehen werden doch nur im Himmel geschlossen? Das war nun aber selbst für den Kollegen Schiller ein zu starkes Stück, weshalb er von einem «Salto mortale in die Opernwelt» sprach. Idealische Purzelbäume schlägt Goethe in seinen Werken, leider, allzu oft. Und immer wieder feiert er den großen Tod als Sieger über den kleinen. Die Mehrzahl der erdichteten Goetheschen Weiber erweist sich am Ende denn auch – trotz gelegentlicher skandalöser Neigungen – als sittlich gefestigt, würdig, idealisch, himmlisch, eben ganz dem bürgerlichen Geschmack entsprechend. Und die zugehörigen Erbauungssprüche grenzen nicht selten an sentimentalen Kitsch, weshalb Arnim seinen Dank für die sittenfrohe Botschaft der Wahlverwandtschaften an «unsern Herrgott und seinen Diener Goethe» abstattete. Und Bettina kritisierte in einem Brief an den Meister, «daß Deine Charlotte das Herz eines Weißfisches hat», womit sie wohl auf das Verhalten der Edlen anspielte, die in den Wahlverwandtschaften ihrem Gatten wie ihrem Geliebten gleichermaßen entsagt.

Auch Wilhelm Meister ist, so möchte ich meinen, ein Stockfisch, der sich in den zwei Bänden eines «Entwicklungs»romans kein Stück von der Stelle rührt, vielmehr am Ende ebenso säuerlich in die Welt der Liebesfreuden blickt wie zu Anfang. Das ist der Goethe, den uns unsere Deutschlehrer, gewissermaßen zu Recht, als Sittenprediger hohen und ersten Ranges präsentiert haben, wenngleich der Geheimrat seine Episteln nicht immer so platt gereimt unters Volk brachte wie Herr Professor Schiller: «(...) soviel Edelmuth, wie der einzige Marquis Posa darbietet, ist in Goethes sämtlichen Werken zusammengenommen nicht aufzutreiben (...)» (Schopenhauer). Nietzsche nannte Schiller deshalb den «Moraltrompeter von Säckingen» (in Anlehnung an Viktor von Scheffels «Der Trompeter von Säckingen», 1854). Mit Nietzsche dürfen wir annehmen, daß dort, wo Ideales und Idealisches im Übermaß angeboten werden, Grund genug vorhanden ist, das Gegenteil anzunehmen, das sich in seiner wahren Gestalt nicht zeigen darf. Wie Goethe sagte: des Himmels Gnade verdeckt das wahre Herz des Menschen.

Vom Sittlich-Moralischen wurde Goethe spätestens nach seinen Leipziger Studentenjahren angefallen. Nicht zuletzt mag die un­glückliche Liebe zu Käthchen Schönkopf dazu geführt haben, die in der Leipziger Kneipe ihres Vaters als Bedienung arbeitete (gewissermaßen eine Vorgängerin der römischen Faustina). Goethe verliebte sich in Käthchen – und geriet in einen desolaten Zustand: «Verflucht sey die Liebe», schreibt er an den Jugendfreund Behrisch (Nov. 1767). Alsdann kehrte er aufgelöst ins Elternhaus nach Frankfurt zurück. Eissler spricht von einer psychotischen Episode, die mit Depersonalisationserscheinungen einhergegangen sein soll. Man weiß, daß solche Zustände körperlicher und geistiger Schwäche ideale Voraussetzungen für religiöse Erweckungserlebnisse sind. Und da Goethe in Frankfurt von Susanna Katharina von Klettenberg, die von Pietismus und Herrnhuterscher Reinheit erfüllt war, gesund gepflegt wurde, dürfen wir wohl ihr die nachhaltige Förderung idealischer Züge in Goethes späterem Werk zuschreiben. Der «Frankfurter Zustand» führte zu Goethes «mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen» und wies ihm den Weg «in dunkle Regionen», in denen die «erotische Chemie» zuhause ist, die in den Wahlverwandtschaften ebenso wie in Fausts Bemühen wiederzufinden ist, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Vorerst machten die in Frankfurt erlittenen pietistischen Attacken Goethe erst einmal unfähig, halbwegs erdnahe Beziehungen zu Frauen einzugehen. Schon wenig später, in Straßburg, verließ er, als die sittliche Gefährdung zu hautnah zu werden drohte, fluchtartig Friederike Brion: «Hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue (...) höchst peinlich, ja unerträglich», dichtete Goethe später die schnöde Wahrheit aus, die er anders nicht verstehen wollte. Diese Wahrheit lautete schlicht: selbst die Tochter eines Pfarrers besteht weit mehr aus Fleisch, Blut und Begierden denn aus sittlichen Idealen.

Fürs erste verlegte sich der junge Rechtsgelehrte auf das Entfernt-Lieben von Frauen, die bereits vergeben waren. Nach Freud wäre dies ein Beweis für inzestuös-ödipale Wünsche. Doch diese Wahl, die einen Dritten (Rivalen) als Liebesbedingung einschließt, deutet auch auf prä-ödipale Wünsche hin: Ein Dritter möge kommen, um den Mann als Kind vor der verschlingenden Frau zu retten, um ihm die Ablösung von der Mutter zu ermöglichen. Für Goethe bedeutete der Dritte (Verlobte, Ehemann) die sichere Gewißheit, nicht in eine zu gefährliche und zu ängstigende Nähe zur angeschwärmten Geliebten zu geraten. Den damit verbundenen Wertherschen Liebeskummer und Weltschmerz konnte er zu dieser Zeit eher ertragen als die Gefahren, die eine leidenschaftliche Vereinigung mit der Geliebten für ihn gebracht hätte.

Goethe fand – und das war kurze Zeit später für ihn wahrscheinlich unbegreiflich – dennoch den Mut, sich zu verloben: mit Anna Elisabeth Schönemann aus Frankfurt. Sie war aber kein sozial weit unter Goethe stehendes Blumenmädchen (wie Christiane), vielmehr war sie die Tochter aus feinem, wenn nicht gar besserem Hause. Goethe versagte (sich) alsbald – und floh. Anders gesagt: er ließ die Verlobte sitzen. Und das, obgleich – oder gerade weil – er sie liebte, «tief und wahrhaft liebte». Ja, Anna Elisabeth sei «die letzte gewesen», die er jemals liebte, gesteht Goethe im Alter, «und doch ging sie mir verloren». Das klingt wie Schicksal – und das ist auch Schicksal, das Schicksal eines jungen Mannes, der zärtliche und sinnliche Liebe nicht vereinbaren kann: «Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, lieben sie nicht» (Freud).

Die zehn Weimarer Jahre mit Charlotte von Stein, die Goethe später, aus der Perspektive römischer Ausgelassenheit zurückblickend, als «schmerzlich» und «lästig» bezeichnete, hatten ihm, gerade weil die verheiratete Hofdame jeder körperlichen Vereinigung abhold war, (frustrierende) Sicherheit garantiert. Er konnte in der Weimarer Zeit schwärmen und darben, wie es sich für einen idealischen Dichter gehört, und doch war er sicher. Eissler meint, Goethes Beziehung zur Frau von Stein sei als «Übertragungsbeziehung» anzusehen. Also sei sie wie eine quasi-thera­peutische Beziehung zu werten, in deren Verlauf Goethe alte Kindheitslie­ben – zur Mutter, zur Schwester – reaktivierte, jedoch keine körperliche Befriedigung im Hier und Jetzt zu fürchten hatte. Goethe scheint seine wahn-sinnige Beziehung zur Frau von Stein halbwegs begriffen zu haben. In einem Gedicht, das er ihr widmete (1776), schreibt er: «Ach, du warst in abgelebten Zeiten / meine Schwester oder meine Frau.» Und bei anderer Gelegenheit bemerkte er: «Ich kann mir die Bedeutsamkeit – die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung. – Ja, wir waren einst Mann und Weib!» Einst – nur nicht hier und heute. Der mystische Spuk sitzt tief und fährt Goethe in alle Glieder. «Sie hat meine Mutter, Schwester und Geliebten nach und nach geerbt (...)», gesteht er, Frau von Stein betreffend. Das heißt, die zielgehemmte Liebe war der therapeutische Hebel, mit dessen Hilfe sich Goethe von konflikthaften Fixierungen zu befreien versuchte. Letztlich aber machte sich Goethe durch Flucht – nach Italien – von der magischen Macht frei, die ihn an die Frau von Stein fesselte. Diese Frau verdankte ihre magische Macht ihrem Herzen aus Stein, das es ihr gestattete, den Dichter immer gerade so weit zu erhitzen, daß er an sie gebunden blieb, ohne ihm irgend etwas zu gewähren, das ihn befreit und erlöst hätte. Die zielgehemmte Liebe ist am Ende die beständigste, während der sinnliche Genuß in seiner Befriedigung Erschöpfung findet.

 

5

Vergleichen Sie nicht die innere Vision des Künstlers

mit der des wirklichen Halluzinärs.

Ich kenne beide Zustände vollkommen.

Ein Abgrund gähnt dazwischen.

Flaubert

Am Vorabend der Französischen Revolution, die die Vernunft als Göttin (abendländischer Zweckrationalität) endlich inthronisierte, erschien der Werther. In diesem Buch wird ein Feuerwerk der Leiden­schaften abgebrannt. Enthusiasmus und Depressionen wechseln einander ab, bevor sich der Held, nicht ohne ausgeklügelte Aggression gegen Charlotte und Albert (die Pistolen stammen von Albert, Charlotte überreicht sie Werthers Diener), per Kopfschuß verabschiedet. Was ist gegen dieses Monstrum an Narzißmus ein «Märchenprinz» aus unserer Zeit? Wieso konnte dieses «Drama eines begabten Kindes» schon damals geschrieben werden? Wieso wirkt dieser zweihundert Jahre alte Held so wenig angestaubt, so taufrisch, daß er auf den ersten Blick wie ein «neuer Sozialisationstyp» erscheint? Lassen wir diese Fragen!

Werther ist, jenseits aller psychologischen Deutung, zunächst ein­mal der Anwalt einer leidenschaftlichen, unsinnigen, vernunftwidri­gen und daher auch unnützen Liebe. Seit Werther – spätestens – ist jede wahre Liebe eine unglückliche Liebe. Lieben, das heißt deshalb leiden. Und die menschliche Leidensfähigkeit hat Grenzen, wie Werther dem vernünftigen Albert gegenüber versichert: «Die menschliche Natur (...) hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt.»

Das Fieber unserer Leidenschaften kann uns ebenso hinraffen wie das der Malaria, das ist Goethes Botschaft. Und die Bekämpfung beider Arten des Fiebers ist Kulturarbeit. Freud stellte das fest, als er die Überwältigung des Es (der Leidenschaften) mit der Trockenlegung der Zuydersee verglich; und Frantz Fanon stellte das fest, als er «Die Verdammten dieser Erde» beschrieb und die Trockenle­gung afrikanischer Sümpfe, die Vernichtung der Malariafliege und die Bekämpfung magisch-zauberischer Riten des Eingeborenen als Ausdruck ein und derselben Strategie entlarvte: der Strategie kolonialistischer Landnahme. Zu solcher Weisheit gehört die Möbius’sche Feststellung, Leidenschaften seien bei einem gesunden Menschen über das normale Maß hinaus nicht anzutreffen. Bei Geisteskranken dagegen – und Werther ist ein solcher – findet man die Krankheit der Leidenschaft, die in der Hei­lung vernichtet werden soll.

Im Werther werden drei Unglückliche vorgeführt, mit dreierlei möglichem Schicksal. Da ist Werther selbst, der seine narzißtische Wut gegen sich lenkt, wenngleich er weiß, daß der Ausdruck der Aggressionen nach außen weniger schaden würde. So notiert Werther anläßlich einer durch einen Höfling erlittenen Demütigung: «Ich wollte, daß sich einer unterstünde, mir’s vorzuwerfen, daß ich ihm (dem Höfling) den Degen durch den Leib stoßen könnte; wenn ich Blut sähe, würde mir’s besser gehen. Ach, ich habe hun­dertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen. So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit verschaffte.»

Wie häufig hat sich einer die Ader geöffnet, der – wäre er mutiger, weniger gehemmt gewesen – lieber einem anderen eine Kugel in den Wanst geschossen hätte! Aber Werther gehört nicht zu dieser Sorte Natur-Mensch. Dafür ist er von des Gedankens Blässe, von zivilisatorischer Vernunft und Selbstbeherrschung, zu sehr angekränkelt. Alles, was Werther zustande bringt, ist die Schwärmerei für einen Bauernburschen, der als literarisches Pendant im Roman auftaucht. Dieser Bauernbursche ist in leidenschaftlicher Liebe zu seiner Dienstherrin entbrannt, die ihm geschickt «kleine Vertraulich­keiten erlaubt», sein Feuer schürt, ohne es zu löschen. Er reagiert naturgemäß und bringt seinen Nebenbuhler um. Werther-Goethe preist die Tat des Naturburschen so: «Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also keine dichterische Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von Menschen, die wir ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten – zu Nichts Verbildeten!»

Und der dritte unglücklich Liebende im Roman, der im Hause Charlottes gedient, sich in diese verliebt hat, zeigt, jenseits von Selbstmord und Mord, den dritten Weg ins Unglück: den Wahnsinn. Weil er unerhört liebt, landet er «an Ketten im Tollhause». Er wird «rasend», verfällt in ein hitziges Fieber, bevor er sich schließlich in seinem Wahn akkommodiert und in einer anderen Welt mit der Unglücklich-Geliebten wie «mit Königen und Kaisern zu schaffen macht».

Gewiß, der Werther ist ein Stück von des Dichters eigen Fleisch und Blut. Über den Werther bemerkt Goethe zu Eckermann: «Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe (...). Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging.» Und an Zelter schreibt Goethe, nachdem sich dessen Stiefsohn umgebracht hatte: «Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natür­lichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran läßt <Werther> wohl niemanden zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, da­mals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem späteren Schiffbruch auch mühsam rettete und mühselig erholte (...). Ich getraute mir, einen neuen <Werther> zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehn sollten als über den ersten.»

Dieser andre Werther heißt: Tasso. Ihn könne man, meint Goethe, als «gesteigerten <Werther>» bezeichnen. Auch Tasso erleidet Schiffbruch: in den Armen des Antonio. Zunächst ist Tasso aber ein Werther im nichterschossenen Zustand, also vielleicht der Mensch, der Werther geworden wäre, hätte ihn der Dichter weiterleben lassen. Tasso laboriert noch immer an Werther’schen Kon­flikten, versucht aber, damit zurechtzukommen. Tassos Haupt­übel ist die Illusion, er könne sich die Liebe einer Frau per Kunstwerk verschaffen.

Im Stück lechzt Tasso nach dem Herzen der Herzogin. Antonio, der Höfling, Diplomat und Weltmann, erkennt Tassos Verwundbarkeit nur zu genau. Just in dem Augenblick, in dem die Herzo­gin ihren Hofdichter und heimlichen Verehrer mit einem Lorbeerkranz für gelungene Dichtung schmückt, erscheint Antonio und zerstört Tasso mittels ausgesucht heimtückischer Niedertracht, die sich, in Worte gekleidet, wie eine Kette von Komplimenten anhört. Der para­noid-schizoide Tasso, der introvertiert in seinem Ich hockt und Erlösung durch die Herzogin erhofft, reagiert, wie es sich in einem solchen Falle gehört: er dekompensiert. Im Theaterstück sagt er über An­tonio und über die durch ihn erlittene Demütigung: «Sein Wesen, seine Worte haben mich / So wunderbar getroffen, daß ich mehr / Als je mich doppelt fühle, mit mir selbst / Auf’s neu’ in streitender Verwirrung bin.» Und das sollte ja auch bewirkt werden: Die Strate­gie der gezielten psychischen Verletzung zielt darauf, das Opfer in Konflikte zu treiben, in denen es sich verwirrt, zerklüftet und zerspaltet. Hinter dem Drama der unglücklichen Liebe Tassos zur Herzogin spielt sich aber noch ein Drama im Drama ab, dabei geht es um die homosexuell-masochistische Unterwerfung des Tasso vor Antonio. Der psychologische Blick der Prinzessin hat das schnell erkannt: «Zwei Männer sind’s, ich hab es lang gefühlt, / Die darum Feinde sind, weil die Natur / Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte».

Die homosexuelle Flucht zum Manne ist oft eine Flucht vor dem Weibe, wird Freud später sagen; sie ist oft eine Reaktion auf enttäuschte Liebe zum Weibe, sollte man hinzusetzen. Tatsächlich wirft sich Tasso dem Antonio erst in die Arme, nachdem ihm die Herzogin eine gründliche Abfuhr erteilt hat. In einem Anfall von Leidenschaft hatte sich Tasso der Herzogin um den Hals gehängt, diese, eine «Schülerin des Plato» (!), weist ihn jedoch schnöde ab. Tasso verfällt daraufhin einem von Goethe ganz richtig psychologisch motivierten narzißtischen Wutanfall. Er rast und «kommt von Sinnen». Das ist die Stunde des Antonio, der seinen allerliebsten Feind nun so weit hat, wie er ihn haben wollte. Tasso bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Schicksal und Antonio zu übergeben. Der Schiffbruch (der heterosexuellen Liebe) ist perfekt: «(...) berstend reißt / Der Boden unter meinen Füßen auf! / Ich fasse dich mit beiden Armen an! / So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte».

Man ist jetzt geneigt, Werther zu seinem Selbstmord Glück zu wünschen, ist ihm dadurch doch das demütigende Schicksal homosexueller Unterwerfung erspart geblieben, das sich andeutete, als sich Werther Alberts «Pistolen» kommen ließ. Ein anderes Selbstbild des Dichters, Clavigo, läßt sich vom Degen seines «Gegners» Beaumarchais immerhin durchlöchern, bevor er dann Hochzeit feiert: auf dem Sarg der dahingeschiedenen geliebten Marie (Beaumarchais’ Schwester). Clavigos Worte zu Beaumarchais in dieser Szene lauten: «Ich danke dir, Bruder (für den Degenstoß – B. N.)! Du vermählst uns.» Das ist durchaus zweideutig gemeint.

Einmal kann man dabei an die Hochzeit zweier Leichen denken, der des Clavigo und der der Marie (wie Goethe die himmlische Hochzeit ja überhaupt gerne im Leichenhaus feiern läßt – so auch die von Eduard und Ottilie); dann kann man aber auch noch an die nicht im Himmel, sondern soeben auf Erden vollzogene homose­xuelle Verbrüderung zwischen Clavigo und Beaumarchais denken, die von sadomasochisti­schen Assoziationen begleitet wird. Schon im ersten Akt des Schauspiels teilt Clavigo seine Meinung über Frauen, speziell die über sein Lieb­chen, Marie, mit: «(...) man wird der Weiber gar bald satt». Dar­aufhin fällt Carlos, dem Freund Clavigos, der Satz ein: «(...) die Weiber, die Weiber! Man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen». Das Schauspiel ist auch insofern interessant, weil auch hier eine Frau durch die Schuld eines Mannes stirbt. Hat sich je einer die Mühe gemacht, die Legion der gemeuchelten, vergifteten, an Kummer gestorbenen Frauen in Goethes Romanen und Dramen zu zählen? Es ist eine sublime Form der Aggression, die in Goethes Werken gegenüber Frauen zum Ausdruck kommt – und dieser Hinweis führt uns noch etwas näher an die Psychopathologie des Dichters heran.

6

Aber dieser Goethe war so ganz Realist,

daß es ihm durchaus nicht zu Sinne wollte,

daß die Objekte als solche nur da seien,

insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden.

Was, sagte er mir einst, mit seinen Ju­pitersaugen mich anblickend,

das Licht sollte nur da sein, insofern Sie es sähen!

Nein, Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie nicht sähe.

Schopenhauer

Zunächst zeigt der Clavigo noch ein anderes, bei Goethe in vielen Va­riationen immer wiederkehrendes Motiv: das des Bruders, der seiner Schwester beispringt, um sie gegen einen ehrlosen Liebhaber zu verteidigen. Hinter solch ehrenvollem Handeln verbirgt sich der Neid des Bruders auf den Liebhaber, der bekommt, was dem Bruder versagt bleiben muß. Eissler meint denn auch, die inzestuöse Bindung Goethes an seine Schwester Cornelia gehöre zum psychopathologischen Kernpro­blem des Dichters. Schon vor Eissler fiel Otto Rank («Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens», 1926) Goethes «Geschwisterkomplex» auf, dem er ein eigenes Kapitel (XVI) widmete. In einer Geschwister-Erzählung Goethes kommt die Wunscherfüllung sehr deutlich zum Ausdruck, doch der Konflikt findet eine glückliche literarische Lösung: Die einander liebenden Geschwister stellen fest, daß sie nur vermeintlich Bruder und Schwester, tatsächlich aber nicht blutsverwandt sind. In Wilhelm Meisters Lehrjahren hat der Geschwister-Inzest hingegen fatale Folgen. Der Harfner, der ihn begeht, wird wahnsinnig. Die Schuld, die ihn quält, ist eine Schuld, für die es keine Vergebung gibt. Und Mignon, die Frucht des Inzests, ist ein unglücklich-hermaphroditisches Geschöpf, das zeitlebens nicht weiß, ob es Knabe oder Mädchen sein will, und schließlich an unglücklicher Liebe stirbt.

Als Eckermann in einem Gespräch mit Goethe bemerkt, die Liebe zwischen Bruder und Schwester sei die reinste, weil unsinn­lichste, die man sich vorstellen könne, stimmt Goethe zu, wobei er die bedachte Ein­schränkung anfügt: «Wir müßten denn nicht wissen, daß unzählige Fälle vorgekommen sind, wo zwischen Schwester und Bruder, bekannter- oder unbekannterweise, die sinnlichste Neigung stattgefunden hat.» Und in seiner Autobiographie schreibt Goethe über seine Beziehung zur Schwester Cornelia: «Jenes Interesse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, (...) die sich in sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber, die uns eher verdüstern als aufklä­ren, wie ein Nebel das Tal, woraus er sich emporheben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und Verwirrungen, die daraus ent­springen, teilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand (...).»Tatsächlich finden sich überzeugende Hinweise für Goethes intensive emotionale Bindung an die Schwester, ein Verhältnis, das wohl enger war, als gemeinhin eins unter Geschwistern ist. Inzestuöse Praktiken über das herkömmliche Maß hinaus können für die Kindheit der beiden angenommen werden. Goethes Schwester Cornelia hat als erwachsene Frau denn auch deutliche Ähnlichkeit mit Charlotte von Stein oder mit der Romanfigur Ottilie: Sie ist in ihrer Ehe mit Schlosser frigide, ja sie ekelt sich vor körperlicher Intimität, wie der Gatte nach dem frühen Tode seiner Frau in einem autobiographisch motivierten Drama kundgab.

Wir dürfen annehmen, daß der Ausgangspunkt der von Goethe in den Wahlverwandtschaf­ten konzipierten «erotischen Chemie» in der «Chemie» primärer Verwandtschaftsbeziehungen liegt. Die Unfähigkeit zur körperlichen Intimität nach der Pubertät ist ja auch nur eine Re-Aktion. Den inzestuösen Objekten wird durch Verwei­gerung einer Beziehung zu späteren Objekten die Treue gehalten, auch wenn es so aussieht, als seien Schuldgefühle die Ursache von Frigidität und Impotenz. Ein Schuldgefühl spielt nach der Pubertät aber gewiß eine Rolle: der Bruch der Treue zum Inzestobjekt würde Trennungsschuld erzeugen – und davor schützt die sexuelle Hemmung.

Freud zitiert anläßlich der Verleihung des Goethepreises, den er 1930 erhielt, als Kronzeugen der psychoanalytischen Theorie des Ödipuskomplexes Goethe. Und auf die von Goethe in den Wahlverwandtschaften konzipierte «erotische Chemie» bezogen führt Freud aus: «Ja, vielleicht ist es mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn er in den <Wahlverwandtschaften> eine Idee aus dem Vorstel­lungskreis der Chemie auf das Liebesleben anwendete, eine Beziehung, von der selbst der Name der Psychoanalyse zeugt» (Herv.: B. N.).

Erweitern wir «erotische Chemie» zur «erotischen Physik», dann sind wir im Zentrum von «Magie» und «Dämonie», Mesmerismus und Hypnotismus angelangt, im Reich des Universums der unheimlichen und gefährlichen Imaginationen, die der «unbewußten» Emotionalität entspringen. Goethe spricht an ungezählten Stellen von der «Dämonie» des Liebeslebens, von einer geheimnisvollen, gleichsam schicksalhaften Verknüpfung der Menschen, gegen die jeder einzelne machtlos sei. Freimütig und naiv bekennt er (am 7. 10. 1827) Eckermann gegenüber: «Wir haben alle etwas von elektrischen und magnetischen Kräften in uns und üben, wie der Magnet selbst, eine anziehende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem wir mit etwas Gleichem oder Ungleichem in Berührung kommen.» Wem fiele bei dieser Bemerkung nicht der «animalische Magnetismus» Franz Mesmers ein? Wer dächte dabei nicht an die physikalisch-mathematischen Gleichungen, die Otto Weininger im Hinblick auf Männlich-Weiblich konzipiert hat? Oder an die phantastischen Imaginationen, die Daniel Paul Schre­ber in den «Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken» mitteilte? Oder an Schopenhauers «Geschlechtsmetaphysik» (ganz zu schweigen von den Libidokonstruktionen Freuds und Jungs oder von Wilhelm Reichs Orgon­theorie)? «Es ist nur Schein, daß wir vollkommen getrennte Individuen sind», schreibt Möbius in seinem Goethe-Buch. Der Dichter hätte ihm zugestimmt.

Wenn unsere These von der Treue dem primären inzestuösen Objekt gegenüber zutrifft, wenn also Besessenheit bedeutet, daß der Besessene tatsächlich psychischer Besitz eines Objekts der frühen Kindheit ist, und wenn solcher Besitz das Scheitern späterer Liebe unausweich­lich macht, das Schicksalhafte daran tatsächlich ein Schicksal ist, das keine freie Liebeswahl zuläßt, dann fragt sich, wie solcher Bann gebrochen, wie solche Gefangenschaft beendet werden könnte. Freuds Entwurf, Übertragungsbeziehungen herzustellen, durchzuarbeiten und aufzulösen, ist ein Versuch, solche Fixierungen aufzuheben. Nun war Goethe aber kein Psychotherapeut, sondern Dichter. Sein Versuch, sich aus inzestuösen Verstrickungen zu befreien – Goethe verglich sich selbst mit einem Vogel, «der sich in Zwirn verwickelt hat: Ich fühle, daß ich Flügel habe und sie sind nicht zu brauchen» –, das ist, wie ich meine, die therapeutische Katharsis, der er sich unterzog, als er die Iphigenie schrieb. Nun ist dieses klassisch­-kühle Schauspiel, das dem Motto «Klassik ist Gesundheit, Romantik ist Krankheit» zu folgen scheint, auf der vordergründigen Ebene auch ein Bruder-Schwester-Drama. Es handelt, angelehnt an den anti­ken Stoff, von zwei Schwestern und einem Bruder, wobei wir in der einen Schwester (Elektra) die «böse», Leidenschaften bis zum Mord anstachelnde Schwester, kurz die präödipale Ge­liebte erblicken, während die andere Schwester, Iphigenie, die jeder sinnlichen Lust entsagende, idealisch-geistige Priesterin ist, der es gelingt, den schuldbeladenen, wahnsinnigen Orest zu entsühnen. Auf ihrem Altar wird er der Göttin nicht geopfert. Iphigenie verweigert das Blutopfer des Orest. Auch dies dürfen wir psychologisch-symbolisch interpretieren, ist doch der erste Altar, auf dem der Mann einer Göttin opfert, sein eigen «Blut» (sprich: Sperma) vergießt, der Altar der Göttin Baubo. Iphigenie ist die nicht-inzestuöse Schwester, die den Bruder vom Wahnsinn heilt, weil sie ihn freigibt, nicht zum Opfer zwingt.

Die tiefere Problematik, die die klassische Gestalt des Orest verkörpert, den Goethe auf dem Weimarer Hoftheater selbst spielte, ist, jenseits der Geschwisterdramatik, jedoch der Muttermord. Orest bringt – angeblich um den Vater zu rächen – Klytaimnestra, die Mutter um. Orest ist also kein Ödipus, der die Mutter beschläft und den Vater tötet. Orest ist ein umgekehrter Ödipus. Während Ödipus archai­sche, ursprüngliche Triebimpulse in die Tat umsetzt, ist Orest ein «neuer Sozialisationstyp», der zum «gelähmten», zu keiner raschen Tat mehr fähigen Hamlet überleitet. Orest ist nicht der Held, der dem Vater die Mutter im offenen Kampf streitig macht; er ist ein «Weichling», der sich aus der Gewalt der verschlingenden, zerstückelnden Mutter nicht anders als durch Muttermord befreien kann. Das ist sein Ausweg aus der Symbiose, und der Fortschritt zur Schwester (zunächst zu Elektra, später zu Iphigenie) ist sein Fort-Schritt in Richtung Trennung von der allmächtigen Mutter und Individuation.

Der Homunkulus im zweiten Teil des Faust, ein künstlich Gezeugter, der vergeblich nach Individuation, nach Mensch-Werdung verlangt, orakelt den auch: «Wer zu den Müttern sich gewagt, / Hat weiter nichts zu überstehen.» Faust wird von Mephisto ins Reich der Mütter geschickt, ins Reich ohne Ort, ohne Zeit, ins Reich des Wahnsinns, in dem sich die Körper- wie die Zeit-Grenzen auflösen; in dem jede Individualität erlischt: «Göttinnen thronen her in Einsamkeit, / Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; / Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. / Die Mütter sind es!» Wenn das unendliche Wasser, das Meer, von alters her ein Symbol des Wahnsinns ist, dann belehrt Mephisto den Faust, daß das Reich der Mütter noch weniger, noch leerer, noch un-heimlicher, noch un-faßba­rer ist als das Meer: «Und hättest du den Ozean durchschwommen, / Das Grenzenlose dort geschaut, / So sähst du dort doch Well’ auf Welle kommen, / Selbst wenn es dir vorm Untergange graut. / Du sähst doch etwas.» Im Reich der Mütter ist dieses Etwas: Nichts. «Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, / Den Schritt nicht hören, den du tust, / Nichts Festes finden, wo du ruhst.» Um ins Reich der Mütter zu gelangen, erhält Faust von Mephisto einen «Schlüssel», «das kleine Ding»: «Er wächst in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!» Mit diesem Schlüssel soll Faust im Reich der Müt­ter einen «Dreifuß » berühren. Damit soll er das magische Dreieck sprengen: «Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß, / Und gehe grad’ auf jenen Dreifuß los, / Berühr ihn mit dem Schlüssel!» Also doch: der Mut­terinzest ist die höchste Gefahr, aber auch aller Rätsel (und Bindungen) Lösung.

Nach dem durchlebten Inzest ist Faust fähig Helena zu begatten – sie ist die Schwester der Klytaimnestra (und beide sind in ihrer ältesten antiken Gestalt Priesterinnen der matriarchalischen Mondgöttin) – und einen Sohn mit ihr zu zeugen. Biographisch gewendet: Nach der quasi-therapeutischen Beziehung zu Charlotte von Stein und der folgenden quasi-inzestuösen Beziehung zur römischen Faustina (Mutter eines Sohnes), ist Goethe endlich in der Lage zu heiraten (Christiane) und einen Sohn zu zeugen (der allerdings zu Goethes Lebzeiten ebenso stirbt wie der mit Helena gezeugte Euphorion zu Lebzeiten des Faust). Und mit dem Faust schließt sich der Kreis. Faust beginnt dort, wo der Werther endet: Werther beendet sein Leben durch Selbstmord, während es ein Selbstmordversuch ist, der Faust zum Leben erweckt.

Das Thema des Todes ist bei Goethe durchweg aufs innigste mit der Liebe, und mit dem Koitus im engeren Sinne, verbunden. So wird im Prometheus der Tod mit der orgiastischen Vereinigung direkt identifiziert: «Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde / Du ganz erschüttert alles fühlst, / Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen, / Im Sturm dein Herz erschwillt, / In Tränen sich erleichtern will und seine Glut vermehrt, / Und alles klingt an dir und bebt und zittert, / Und all die Sinne dir vergehn, / Und du dir zu vergehen scheinst / Und sinkst, und alles um dich her / Versinkt in Nacht, und du, in inner eigenem Gefühle / Umfassest eine Welt: / Dann stirbt der Mensch.» So belehrt Prometheus die Pandora, die auf einer Wald­wiese die geschlechtliche Vereinigung zweier Liebender beobachtet hat, sich dabei heftig erregt und von Prometheus nun wissen will, was das für Gefühle seien, die sie da erlebt. Und auch im Amyntas wird der Koitus als eine Art schöner Tod geschildert, wobei der Mann mit einem Baum und die Frau mit dem Efeu verglichen werden, das sich um den Baum rankt, um ihn umschlingend zu ersticken. Ich meine, daß die archaischen Phantasien vom Koitus als wechselseitig tödlicher Verletzung, die als Männerphantasien im Bild der verschlingenden Mutter oder im Bild der kastrierenden Va­gina dentata wiederkehren, in Goethes Erleben große Bedeutung hatten. Als er sich als junger Mann und Stu­dent nach Leipzig verabschiedet, widmet er seiner Mutter das folgende an den christlichen Opfertod mahnende Gedicht: «Das ist mein Leib, nehmt hin und esset. / Das ist mein Blut, nehmt hin und trinkt. / Auf daß ihr meiner nicht vergesset / (...) / Bei diesem Wein, bei diesem Brot / Erin­nert Euch an meinen Tod.» Christus hatte keinen (irdischen) Vater – und konnte sich deshalb nie von der Mutter lösen.

Die archaischen Phantasien von der prä­-ödipalen Mutter, die ihren Sohn verschlingt, das heißt: ihn wieder in sich aufnimmt, das Leben zurückfordert, das sie ihm geschenkt hat, machen den Kern der inzestuösen Ängste aus. Diese nicht über­wundenen Ängste fordern vom erwachsenen Mann, wenn er sich einer Frau und deren Körper nähert, Distanz- und Sicherungsri­tuale, weil jeder Frauenkörper die regressive Wiederbelebung der mütterlichen Symbiose und damit die virtuelle Psychose einleiten könnte. Diese männliche Ur-Angst vor dem Schoß der Frau drückt sich in Schillers Ballade vom Taucher so aus: «Und schwarz aus weißem Schaum / Klafft hinunter ein gähnender Spalt, / Grundlos, als ging’s in den Höllenraum / (...) / Denn unter mir lag’s noch bergestief / In purpur­ner Finsternis da, / Und ob’s hier dem Ohre gleich ewig schlief, / Das Auge mit Schaudern hinuntersah, / Wie’s von Salamandern, Molchen und Drachen / Sich regt in dem furchtbaren Höllenrachen» (zur psychoanalytischen Deutung dieses Gedichts s. Horney, «Die Psychologie der Frau», 1977).

Baudelaire, dessen heimlich-unheimliche Bindung an die Mutter wohl bekannt ist, die ihn schließlich entmündigen läßt, einen Vor-Mund für ihn bestellt, dieser Dichter des «Bösen» schreibt: «Die Angst vorm Schlaf ist wie die Angst vor einem Schlund, / Den wüstes Grauen füllt und ohne festen Grund.» Und nach dem Er­wachen schreibt er eines Tages gehetzt stichpunktartig einen Alptraum nieder: «Spalten, Risse. Feuchtigkeit, die aus einem Behälter ganz dicht beim Himmel kommt.» Es ist, als wollte die gemeine Pornographie, die dem Blick des männlichen Betrachters das weibliche Genitale in allen Win­keln und anatomischen Einzelheiten enthüllt, das «dritte», das «unbewußte» Auge des Beschauers beruhigen: Sieh her, die gefürchteten Salamander, Molche und Höllendrachen findest du hier nicht! Sie bevölkern einzig und allein das Reich deiner Imaginationen! So gesehen, verfolgt die platte Pornographie, die es immer und überall gab, neben der sexuellen Stimulation – vor allem: Beruhigung.

7

Nach der Vollkommenheit zu streben,

einem Werk eine unbegrenzte Arbeitszeit zu schenken,

sich – wie es Goethe wollte – ein unmögliches Ziel zu stecken,

das sind doch Vorhaben,

die das System des modernen Lebens zu elimi­nieren trachtet.

Paul Valery

«In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen» (Maximen und Reflexionen). Das gilt einmal von jener Trennung, die not­wendig ist, soll der Mensch sich entwickeln, also von der Trennun­g von den primären Objekten und den mit diesen verbundenen archaischen Bewußtseinszuständen. Das trifft aber auch auf spätere Trennungen von geliebten Menschen zu, mit denen ein Stück unserer eigenen Persönlich­keit verschwindet, nämlich gerade jenes Stück unseres Selbst, das in der lebendigen Wechselbeziehung mit diesem einzigartigen und nicht wie­derholbaren Menschen gelebt und erlebt hat, ein Stück, das wir nach der Trennung in unserer Innenwelt, in Imaginationen, nicht mehr jedoch in der Außenwelt wiederfinden können. Und das gilt zuletzt von den großen historischen Trennungen, die die Menschheit im Lauf ihrer Gesamtentwicklung vollzogen hat, als deren wichtigste die Trennung der instrumentellen Vernunft von der Leidenschaftlichkeit anzusehen ist, die sich mit der Neuzeit endgültig etabliert. Die Trennung vom Objekt und von den damit verbundenen Ich-Zuständen bedeutet: vorübergehende Verwandlung des Individuums in ein «emotionales Radikal», das in diesem Zustand der Unverbundenheit nach neuer Bindung sucht. Solche Umbruchsituationen sind Stunden ra­dikaler Subjektivität, in denen das Subjekt mit sich und sei­nen imaginierten Objekten allein ist. So beschreibt Goethe den Zustand, in dem sich Eduard befindet, als er sich von Charlotte trennt: Da bricht «alles, was in seiner Natur gebändigt war, (...) los».

Wenn der Fortschritt der Zivilisation die Kultivierung der Emotio­nalität, wie sie der archaische Kult, wie sie das magische Ritual ermöglichten, zerstört und die Triebe der Fabrik- und Gefängnismaschine unterwirft, dann bedeutet der Ausbruch aus diesem Gefängnis, der Bruch der Ketten, die Rückkehr zur Animalität, zur ursprünglich-unkultivierten Natur, also Rückfall in die Barbarei. Die Zivilisation vernichtet die Animalität nicht; sie verstümmelt sie bloß – und sie reizt sie bis zur Raserei. In der Novelle schildert Goethe, wie anläßlich eines Feuersturms ein Tiger und ein Löwe dem Käfig entfliehen können, in dem sie auf dem Jahrmarkt zur Schau gestellt wurden. Die Gewalt der Natur, die der geordneten Bürgerwelt nun in Gestalt der Tiere ent­gegenspringt, wird zunächst durch Gewalt, durch Totschlag des Tigers, gebannt. Anders das Kind, das noch mit der Natur verbunden lebt und sich deshalb vor dem Tier, der Animalität nicht fürchten muß: Der Knabe besänftigt den Löwen mit einem Flötenspiel. Gott Pan hat Macht über beide – über das Kind und über das Tier.

Dieses schöne Bild utopischer Versöhnung des Menschen mit der Natur ist dahin, seit sich die instrumentelle Vernunft, die Zweckrationalität, von allen Fesseln lösen konnte. Goethe wählt den Faust-Stoff eben aus jener Zeit, in der sich die Vernunft emanzipiert: Im 15. und 16. Jahrhundert wird das vernünftige Wissen manipulierbar; es wird allseits zweckvoll einsetzbar. Die Stunde der Wissenschaft ist auch die Stunde des Scharlatans (vgl. Francesco, «Die Macht des Charlatans», 1937). Ein Scharlatan, Astrolog, Wunderheiler, Quacksalber, Prahler und Markt­schreier ist der historische Faust. Er lebt in einer Zeit, in der die «heidnische» Magie als Zauberkunst verteufelt wird. Es ist dies eine Epo­che des Zerfalls: die Einheit der Kirche und des Glau­bens ist dahin, die Hierarchie der Stände erfährt in den Bauernkriegen erste Sprünge, der Planet Erde verliert durch die Erkenntnisse des Kopernikus seinen festen und überschaubaren Platz im All, die großen Entdeckungen der Weltumsegler sprengen jede bis dahin bekannte Geographie. Es ist die Zeit, in der die Vernunft ihr radikales Gegenstück, Magie und Zauberei, in den Hexen und Hexenmeister wiederfindet. Sie werden nun mit ausgeklügelten, wahrhaft teuflischen Foltermethoden verfolgt. Es ist die juristisch-theologische Wissenschaft, die ihre spitzfindige Rationalität aufbietet, um den Aberglauben, dem sie durch ihre Dogmen wider die Hexen selbst frönt, mit Hilfe perverser, sadomasochistischer Praktiken auf den Leib zu rücken. Von den Scheiterhaufen der Inquisition bis zum Gulag und zu Ausch­witz wird das Feuer der zivilisatorischen Vernunft nicht mehr erlö­schen.

Es ist dies auch die Zeit der großen Spaltung des Bildes der Frau im Kopf des Mannes: Die übelsten Hexenjäger, die Dominikaner, sind glühende Marienverehrer. Es geht jetzt nicht mehr um die Frage, wie man eine Göttin zur Hure macht, sondern darum, wie man Göttin und Hure/Hexe säuberlich  trennen kann. Hierfür werden Gottesproben erfunden. Wichtig ist, was Teufelspakt und Hexensabbat in den Köpfen der fortschrittlichen Vernunft bedeuten: Der Olymp wird zum Blocksberg. Hinfort feiern antike Götter in Gestalt von Teufeln, was die Menschheit auf dem Weg ins Reich der Vernunft verwirft. Im Mittelpunkt der wüsten Orgie steht: der Inzest. Der Hexentheoretiker DeLancre schildert anhand des erpreßten Geständnisses eines Opfers der Folter, wie man sich die Orgie beim Hexen­sabbat vorzustellen hat: «Die Frau treibe ihr Spiel in Gegenwart ihres Ehemannes ohne Argwohn und ohne Eifersucht, er sei dabei oft sogar der Kuppler; der Vater defloriere die Tochter ohne Scham, die Mutter raube die Unberührtheit ihres Sohnes ohne Scheu, der Bruder die der Schwester; man sähe dort die Väter und Mütter ihre Kinder bringen und anbieten.»Und weiter bezeugte die Hexe, «daß jedermann sich auf inzestuöse Weise und gegen alle Ordnung der Natur vermischt habe».

Wenn man Faust-Mephisto als Doppelgestalt, als zwei See­len in einer Brust betrachtet, kann man Goethes Schauspiel als gigantischen – und vorerst letzten – Versuch interpretieren, noch einmal zu vereinigen, was bürgerliche Vernunft und Sittlichkeit nun in zwei Hälften (der Welt und des Menschen) aufspalten. Faust, der es in der vernünftig-wissenschaftlichen Erkenntnis zu allem gebracht hat, was möglich ist, erkennt endlich, daß er nichts wissen kann, solange er, dem wissenschaftlichen Credo folgend, die Welt (der Erkenntnis) in zwei Hälften teilt. Deshalb paktiert er mit dem Teufel, mit der anderen, mit der sinnlich-animalischen Hälfte seiner selbst, um auf diesem Wege endlich wieder ganzer Mensch zu werden.

Betrachten wir die Walpurgisnachtszenen im Faust: Der Aufstieg zum Brocken ist der Abstieg in die Höllen der eigenen Person. Faust findet nichts außer sich, was er nicht in sich trüge. Und so ist die Hexe, der er dort oben begegnet, niemand anders als Gretchen – oder sagen wir: es ist die andere Hälfte Gretchens, die Hälfte, die sie nicht bei sich wahrnehmen will. Gretchen ist zur Hure geworden und wird am Ende des Schauspiels deshalb auch wie eine Hexe dem Scharfrichter zugeführt. Daß sie in den Himmel entschwebt, von dannen sie kommen wird, um Faust zu erlösen, dieser Einfall ist pietistischer Weisheit und dem letzten Wunsch nach Trost entsprungen. Die Wahrheiten des Blocksbergs sind einfacher; sie sind naturgemäß und unverstellt. Den Männern verkündet der Satan (in der nachgelassenen Fassung der Walpurgisnachtszene): «Euch gibt es zwei Dinge, / So herrlich und groß: / Das glänzende Gold / und der weibliche Schoß. / Das eine verschaffet / Das andre verschlingt.» Und den Weibern ruft der Satan zu: «Für euch sind zwei Dinge / Von köstlichem Glanz / Das leuchtende Gold / Und ein glänzender Schwanz / Drum wißt euch, ihr Weiber, / Am Gold zu ergötzen / Und mehr als das Gold / Noch die Schwänze zu schätzen!» Mephisto stimmt dieser Weltsicht zu: «Seid reinlich bei Tag / Und säuisch bei Nacht! / So habt ihr’s auf Erden / Am weit’sten ge­bracht.»

In der hier zitierten (nachgelassenen) Fassung wird Gretchen denn auch noch (als Hexe) von «Franziskaner- und Dominikaner-Inquisitoren» zum Richtblock geschleppt. In der offiziellen Faust-Fassung ist die Verbindung Gretchen/Hexe nicht mehr so offensichtlich, aber die Dialektik des weiblichen Charakters ist erkennbar: hier die Blocks­berg-Hexen – dort das kirchenfromme Gretchen; hier die geilen verfüh­rerischen Weiber, die den Mann auffordern, einen «rechten Pfropf» bereitzuhalten, «wenn Er das große Loch nicht scheut» – und dort das scheue, naive Gretchen, das durch sämtliche Zauberkünste dieser Welt zum Sinnengenuß erst einmal verführt werden muß. Warnt der «Hexenhammer» vor der geschlechtlichen Gier und der Unersättlichkeit der Weiber – «darum haben sie auch mit den Dämonen zu schaffen, um ihre Begierden zu stillen» –, so ist das Bürgertum zu Goethes Zeiten längst dabei, die pietistisch-frigide, von Geschlechtsangst erfüllte Hysterikerin heranzuzüchten. Sprüche wie der, den Goethe der Frau von Stein in einem Brief schreibt, gehören sich im 19. Jahrhundert nicht mehr: «das Höchste und das Tiefste: (...) Hymne und (...) Schweinestall. Liebe verbindet alles.» Bald verbindet Liebe nichts mehr. Noch nicht einmal die Liebenden. Übertriebene Leidenschaft gehört nun zur Patholo­gie, wie Möbius, die Auffassungen seiner Zeit korrekt wiedergebend, schreibt. Im Hexentaumel vernünftiger Rationalität verbrennen keine Leidenschaften mehr. Die eiskalt kalkulierende Vernunft wird zur Leidenschaft. Und sie verbrennt die Körper, die mit Akribie und büro­kratischer Gründlichkeit aussortiert, abgesondert, abgeschrieben worden sind. Dabei ist kein Sadismus, wohl aber Zynismus am Werk.

Goethe, der die Zeit begleitet, in der die Vernunft Hoch-Zeit feiert, wendet sich ab – und schreibt über weite Strecken nur noch Erbauliches, Himmlisches, Idealisch-Kitschiges. «Bei Goethes Kaloka­gathie ist der am Ende mörderische Umschlag unverkennbar» (Adorno, Negative Dialektik). Vielleicht, nein ganz sicher, hat er das nötig gehabt, dieses Narkotikum, mit dem er sich die Sinne umnebelte, um deren schneidender Schärfe zu entgehen, die er so besonders gut kannte. So schlug Goethe einen (seinen) «Salto mortale in die Opernwelt». Dort angekommen wurde er – in «mißverstehender Verehrung» (Hans Mayer) – zu dem, als der er uns in Festvorträgen, im Schulfunk oder sonstwo wie ein Affe an der langen Leine der Kultur vorgeführt wird.

Zu fragen also wäre, was heute, unter der Bedingung herrschender Kultur, ein Werthersches Schicksal sein könnte? Oder das seines Dich­ters? Gewiß kein stracks gefertigtes Lied aus der Küche, gewiß nicht die neuen Leiden des Herrn W. (in Jeans & jenseits der Mauer). Aber ganz dicht bei der Mauer, am Bahnhof Zoo, da könnte man Werthers Leiden wiederfinden. Er wäre jetzt, dem Emanzipationsproporz folgend, ein junges Mädchen. Und seine unglückliche Liebe wäre eine gänzlich unmög­liche Liebe geworden. So bliebe die Liebe zur Droge. Und die Liebe wäre Konsumartikel, wie das Erleben des Mäd­chens Christiane F., das auf den Babystrich geht, sich die Adern für den schnellen Schuß öffnet und einen begabten Reporter über ihr Leben berichten läßt, als sei’s ein Leben aus einer anderen Welt, woraufhin sich die Leser des Berichts wie Blutegel auf sie stürzen. Der Erfolg wäre so sensationell wie weiland der des Werther; und wie einst Goethe seinem Buch die privi­legierte Stelle am Weimarer Hof verdankte, so landete Christiane F. dank ihres Erfolgs auf einen andern Stern. Tatsächlich hat die Illustrierte Stern Christiane F. als «Anregerin für den Unterhal­tungsteil» eingestellt, eine Formulierung, die authentisch ist, und die alles sagt, was heutzutage über Werthers Leiden zu sagen bleibt.

Über Christiane F. aber kann man nur das Beste berichten: Beim Stern hielt sie es nicht lange aus; sie verzichtete bald wieder auf die Rolle bei Hof. «<Diese faschistischen Demokratiewichser>, klassifizierte sie ihre ehe­maligen Kollegen Redakteure. <Was haben die denn schon im Kopf? Doch nur: Wer bumst mit wem! Und überhaupt: Diesen Stern-Stil kann ich doch gar nicht schreiben. Und keiner hat sich neben mich gesetzt und mir geholfen – (Zeit 29/ 1982). Goethe hingegen blieb, wohin ihn der lite­rarische Erfolg gebracht hatte, und verfing sich in dem goldenen Käfig, in den er sich als bunter Vogel hatte sperren lassen. So kann man ihn heute, seinen inneren Gang verkennend, als Kron­zeugen bürgerlicher Fortschrittskultur feiern. Daß dies überhaupt möglich ist, daß Goethe zum Denkmal erstarren konnte, ist nicht zuletzt seiner eigenen fast unerschütterlichen Verhül­lung anzulasten, die er staats- und selbsterhaltend betrieb, um der Qual der Leidenschaften zu entkommen. Als die 63jährige Charlotte Kestner, geb. Buff, das lebende Vor-Bild von Werthers Lotte, in späten Tagen einmal nach Weimar reiste (man hatte sich 44 Jahre lang nicht gesehen), erblickte sie einen Goethe, der nach außen das Zeremoniell, die Steifheit und die Erstarrung pflegte. Nichts vom Sturm und Drang der Wetzlarer Zeit war mehr zu erkennen. Enttäuscht schrieb (Char-)Lotte an ihren Sohn: «Ich habe die Bekanntschaft eines alten Mannes gemacht, welcher, wenn ich nicht wüßte, daß er Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hat.»

«Es ist eine große Thorheit, um nach außen zu gewinnen, nach innen zu verlieren, d. h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit ganz oder großen Theils hinzugeben. Dies hat aber Goethe gethan», notierte Schopenhauer aus seiner einseitigen Sicht, nachdem er von Goethe zunächst honett empfangen worden war. Beide hatten sich darauf geeinigt, gemeinsam an Goethes Farben­lehre weiterzuarbeiten. Als der Dichterfürst – «man (nennt) mich gern den Dichterfürsten» (Goethe über Goethe) – dann aber Schopenhau­ers Schrift «Über das Sehn und die Farben» (1816) vor Augen bekam, müssen ihm Blässe und Röte abwechselnd das Gesicht gefärbt haben, denn der junge Schopenhauer hatte es gewagt, selbständig weiter zu den­ken. Solche Selbständigkeit wußte der alte Zaubermeister wenig zu schätzen. Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, das endete in einem jähen Zerwürfnis. Die Beziehung zwischen Schopenhauer und Goethe war abgebrochen und sie blieb es auch.

«Wenn der Deutsche aufhört Faust zu sein, ist keine Gefahr größer als die, daß er ein Philister werde», heißt es bei Nietzsche, und doch ist das wohl kaum eine Charakterisierung Goethes selbst, der zwar in der Öffent­lichkeit – auf der Hut seiend – immer mehr den Konformisten spielte, doch – einsam – in der Studierstube und am Schreibpult weiter seinem Werk nachging. «Die Meisterschaft gilt oft als Egoismus», konstatierte Goethe. Aber das ursprünglich Lebendige, das Heidnische wollte er nicht mehr: «Ich heidnisch?» verteidigte er sich gegen die immer noch zu gegenwärtigenden höfischen Denunziationen Weimarer Spießergeistes: «Nun, ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilien verhungern lassen, ist denn das den Leuten nicht christlich genug? Was wollen sie noch Christlicheres?» Der alte Spötter! Da spricht der Geist des Mephisto aus des Dichters Mund: Christlicheres gibt es, weiß Gott, nicht, als zwei Mädchen, die außerhalb von Sitte und Ordnung zu lie­ben wagen, der Hinrichtung und dem Hungertod preiszugeben. Für­wahr, so gesehen ist Goethe der allerchristlichste Dichter abendländischer Liebesverteufelung. Als Weimarer Staatsrat setzte er seine Unterschrift unter ein Todesurteil für eine Kindsmörderin, die der Herzog hatte begnadigen wollen!

Goethe verteidigt die Hierarchie. Chaos, Aufruhr, Unruhe sind ihm zunehmend verhaßt. Die Französische Revolution bedeutet ihm Anarchie. Mit den preußischen Truppen – denen sich Danton bei Valmy entgegenwirft, um sie zu besiegen – nimmt Goethe an einer Strafexpedition (Kampagne in Frankreich) gegen das Revolutionsheer teil. Später wird er die russischen Truppen, die sich an den Befreiungskriegen gegen Napoleon beteiligen, wenig freudig begrüßen, schätzt er doch den Kaiser und Im­perator Napoleon überhaupt höher als jeden aufständischen Revoluzzer gegen überkommenes Fürstenrecht. Immerhin hat sich Goethe sein Adelsdiplom von Kaiser Joseph II. ausstellen lassen, damit bekundend, daß er nichts gegen allerhöchste Weihen hatte, und auch nichts gegen geweihte Herrschaft einwenden wollte. Das doppeldeutige Bild des Charakters Goethes: hier der leidende, mitleidende, dem anarchischen Chaos der Leidenschaften Gestalt verleihende Dichter – dort der allerchristlichste, staatstragende, mit dem moralischen Zeigefinger sich schmückende Poet, das ist die Realität eines (durch psychologisches Verstehen auflösbaren) Widerspruchs.

Empfindsamkeit, höchste Sensibilität, Leiden können – auch alternierend – zu zwei gegensätzlichen Haltun­gen führen: zur Auflösung, zum Chaos der Empfindungen, zur Rebellion und Revolte (im Werther, im Götz, in vielen anderen Arbeiten Goethes deutlich spürbar); dann aber auch zur Verhärtung, zur Ab­grenzung: Zum «unfaßlichen grandiosen rätselhaften kalten G.» (Benn). Etwas von dieser Hartherzigkeit Goethes kündigt sich bereits früh an; nennen wir als Beispiel Goethes Bekanntschaft mit dem unglücklichen Lenz. Der war in Straßburg mit Goethe noch so eng verbunden, daß er von «unserer Ehe» sprechen konnte – womit Lenz die Seelenfreundschaft mit Goethe meinte. Die Verwandtschaft des später schizophrenen Dichters mit dem später zum Weimarer Staatsminister avancierten Dichterkollegen ist in Straßburger Zeiten so eng, daß selbst belesene Zeitgenossen Stücke von Lenz, die anonym erschei­nen, Goethe zuschreiben. Als Lenz dann später in Weimar auftaucht, und die alten Bindungen zu Goethe wiederaufzunehmen versucht, kommt Goethe dem Jugendfreund entgegen. Er unterstützt ihn finanziell. Doch dann muß sich Goethe vom Pathologischen (also von Lenz) unerbittlich abgrenzen, vermutlich, weil Goethe zuviel davon in sich selbst verspürte. Zum Anlaß nimmt er einen peinlichen Vorfall, den Lenz mit Charlotte von Stein initiiert hat. Sie hatte den morbiden Lenz für ihre eigenen Zwecke im erotischen Kampfspiel mit Goethe eingespannt. Lenz darf also mit der Frau von Stein englische Konversation treiben. «Mit dem Eng­lischen gehts vortrefflich. Die Frau von Stein findet meine Methode besser als die deinige», berichtet der entnervte Lenz dem eifersüchtigen Goethe. Das ist zuviel. Auf Anordnung Goethes muß Lenz Weimar umgehend verlassen.

Das war der letzte Anstoß für den Ausbruch des Lenz’schen Wahnsinns. Goethe erwies sich hier nicht als Seelenarzt. Wenn er auch später in Meisters Wanderjahren so schön über die Päd­agogische Provinz zu plaudern versteht, hier, im wirklichen Leben, fand er nicht zur pädago­gisch-therapeutischen Geste. Nur weg mit Lenz! So lautete Goethes letztes Mittel des Selbstschutzes. Natürlich war in Lenzens Bemühen um die Frau von Stein auch jenes Stück Homosexualität im Spiel, das sich oft sublim in der Beziehung zweier Män­ner zu einer Frau, im Verkehr mit einer gemeinsamen Freundin, realisiert. Lenz war schon lange Zeit auf den Spuren von Goethes Frauen, Charlotte von Stein ist da nicht die einzige. Mit verzehrende­r Leidenschaft hing er an Goethes Schwester, aber auch an Friederike aus Sesenheim, der er schmachtende Liebeshymnen widmete. Hätte der gute Lenz nur geahnt, daß Goethe bei all seinen Geliebten, bis hin zur Frau von Stein, keineswegs der Draufgänger war, den Lenz in ihm vermutete!

«Goethes Liebesleben – es ist ein seltsames Kapitel» (Thomas Mann). Eines dieser Kapitel füllte der unglückliche Lenz. Goethe hat es seinen Verehrern und Bewunderern – sieht man einmal von den durchschnittlichen Geistern ab – also nicht leichtgemacht. Viele von ihnen witterten, besonders wenn sie Schriftsteller waren, die Brüche in seiner Entwicklung. So notiert Franz Kafka in seinem Tage­buch (31. 1. 1912): «Plan eines Aufsatzes <Goethes entsetzliches Wesen>», um nur wenige Wochen später (17. 3. 1912) hinzuzufügen: «Goethe, Trost im Schmerz.» Und Thomas Mann, der ein Stück Selbststilisierung mit Goethe betrieb, entwirft ein recht unkonventionelles Goethe-Bild, zeigt er uns den Heros doch mit Fehlern und trotz seiner Schwächen: «Es sind in Goethe, blickt man genauer hin, sobald die Unschuld der Jugendzeit vorüber ist, Züge eines tiefen Grames und Mißmuts, einer stockenden Unfreude (...). Es gibt da eine eigentümliche Kälte, Bosheit (...). Und viele Zeitgenossen, die ihm begegnen, bezeugen das Elementare, Dunkle, Boshafte und Verwirrende, ja Teuflische, das aus seinem Wesen ge­sprochen habe» («Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters», 1932).

Schon die Überschrift des Artikels, in dem die Mann’schen Verdikte erscheinen, deutet an, was ich im Verlauf meiner Argumen­tation herauszuarbeiten versucht habe: Die Leidenschaften eines empfindsamen Naturburschen verkommen bei einem Repräsentanten bürger­licher Kultur, ist er erst einmal ins Korsett der Staatsrä­son eingeschnürt, notwendig zur Grausamkeit und Bosheit. Denn Hei­dentum ist in der allerchristlichsten Welt nun einmal Bosheit und wenn es keine ist, dann wird es dazu gemacht. Aus diesem Dilemma entkommt man, wenigstens zeitweise, wenn man in die psychische Krankheit flüchtet oder aber Mittel und Wege kennt, das Einge­schnürte im kreativen Akt zu entfesseln. Über das Genie spricht Goethe aus innerster Erfahrung: «Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimmen der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine solche Organisation im Konflikt mit der Welt und ihren Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht mit größter Sensibilität eine außerordentliche Zähigkeit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen» (Gespräche mit Eckermann). Der alte Merlin wußte Bescheid; er kannte den Zusam­menhang von Sensibilität, Leidenschaft, Kreativität und Pathologie. Am Ende waren es Goethes Idiosynkrasien, wenn er sich von den Men­schen immer mehr zurückzog und im Alter immer verbitterter und einsa­mer wurde. Es ist, so befremdlich das auch klingen mag, das Leiden an der bürgerlichen Welt, das Goethes Unmut, Rückzug und Konzession an die gängige Normalität erzwungen hat. Und es ist ebendiese Konzes­sion, dieses mitunter abgefeimt anmutende Verschleiern der eigenen Katastrophen (Benn hat das einmal als rücksichtsvolle Größe gedeutet: «diese Größe aber wäre tödlich, andern voll gezeigt u. ins Gesicht ge­halten, sie mußte sich dämpfen, sie brauchte dies Opfer der Humanität»), die es Festrednern und anderen Flachgängern seither jeher und bis heute ermöglicht, sich (selbst mißverstehend) auf Goethe zu berufen, als sei er einer ihresgleichen. Ein anderer verhinderter Selbstmörder der Litera­turgeschichte, Harry Haller alias Hermann Hesse alias der Steppenwolf, hat diesen Widerspruch gespürt. Im Hause eines scheintoten Professors und Goethefreundes, den er besucht, fällt sein Blick auf ein «gerahmtes» Goethe-Bild. Es ist dies das Goethe-­Bild, das unsere Kultur – unsere? – erstellt hat und nun vor sich her­trägt, als hätte man des Dichters Kopf abgeschlagen, um aller Welt zu beweisen, daß selbst dieser Titan zu Boden stürzen muß, wenn man versteht, ihn zum Denkmal zu erniedrigen: «<Hoffen wir>, sagte ich (der Steppenwolf – B. N.), <daß Goethe nicht wirklich so ausgesehen hat! Diese Eitelkeit und edle Pose, diese mit den verehrten Anwesenden liebäugelnde Würde (...). Man kann ja viel gegen ihn haben, auch ich habe oft viel gegen den alten Wichtigtuer, aber ihn so darzustellen, nein, das geht doch zu weit.> Die Hausfrau schenkte den Kaffee voll­ends ein, mit einem tief leidenden Gesicht, dann eilte sie aus dem Zim­mer, und ihr Mann eröffnete mir, dies Goethebild gehöre seiner Frau und werde von ihr ganz besonders geliebt. <Und selbst, wenn Sie objektiv recht hätten, (...) durften Sie sich doch nicht so kraß ausdrücken.> <Da haben Sie recht>, gab ich zu. <Es ist leider eine Gewohnheit, ein Laster von mir, mich immer für den möglichst krassen Ausdruck zu entscheiden, was übrigens Goethe in seinen guten Stun­den auch getan hat. Dieser süße spießige Salongoethe freilich hätte nie einen krassen, einen echten, unmittelbaren Ausdruck gebraucht. Ich bitte Sie und Ihre Frau sehr um Entschuldigung – sagen Sie ihr, dass ich Schizophrener bin. Und zugleich bitte ich um Erlaubnis, mich empfeh­len zu dürfen>.» (Hesse, Der Steppenwolf).

Der vorstehende Text ist unter dem Titel Goethe ist tot, es lebe die Kultur als Einleitung zur Neuausgabe (Matthes & Seitz, München 1982, S. 9-75) des (erstmals 1898 in Leipzig aufgelegten) Buches von P. J Moebius: Über das Pathologische bei Goethe erschienen. In veränderter Fassung (die vorstehend nochmals leicht überarbeitet wurde) erschien der Text später in: Bernd Nitzschke: Die Liebe als Duell … und andere Versuche, Kopf und Herz zu riskieren, Reinbek 1991, S. 177-223.