Bernd Nitzschke

Liebe – Verzicht und Versöhnung

Das Ethos der Entsagung

im Werk des Goethepreisträgers Sigmund Freud

 

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Goethepreisträger Sigmund Freud

Goethepreisträger – ist Freud mit diesem Titel zu charakterisieren? Ist sein „schöpferisches Wirken“ zu Recht „mit einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung“ in Verbindung zu bringen, wie Alfons Paquet (1930, 545), der Sekretär des Preiskuratoriums meinte, als er den 74jährigen Freud über die bevorstehende Auszeichnung informierte? Gewiß, es gibt Bezüge zwischen Freud und Goethe. Wenn Freud psychoanalytische Erkenntnisse absichern wollte, berief er sich gern auf Goethe als „Kronzeuge“ (Marcuse 1956, 82). Den vielfachen Gebrauch Goethescher Sentenzen im Werk Freuds hat Walter Schönau (1968) aufgezeigt. Er wies jedoch ebenfalls nach, daß Freud die Worte des Dichters – zum Beispiel in der Dankesrede anläßlich der Goethepreisverleihung – bisweilen in einer Weise gebrauchte, die ihrem ursprünglichen Sinn nicht entsprach. Beruht die Ehrung Freuds im Namen Goethes also auf einem Mißverständnis?

Freuds Überzeugung (II/III, 443), er habe sich nach dem Anhören eines Vortrags über Goethes „schönen Aufsatz Die Natur“ für „das Studium der Naturwissenschaft“ (XIV, 34) entschieden, war jedenfalls ein Mißverständnis. Der ursprüngliche Text, von dem eine revidierte Abschrift aus Goethes Hand vorliegt, stammt nicht von Goethe. Er erschien erstmals anonym um 1780. Später (1892) wurde Georg Christoph Tobler als Verfasser dieses Text bekannt, indem es über die Natur heißt: „Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig [...]. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geheimnis ab, das sie nicht freiwillig gibt“ (zitiert nach Hemecker 1991, 149f.). Der Ton dieses lyrisch-naturphilosophischen Hymnus imponierte Goethe. Doch was hat dieser Hymnus mit Freuds analytischer Rationalität zu tun? Hat Freud nicht versucht, der Trieb-Natur die Geheimnisse abzuzwingen, die sie nicht freiwillig preisgibt?

Freud erhielt den Goethepreis als Auszeichnung für sprachliche Meisterschaft, für seine Fähigkeit, den „Lemuren Gestalten und Namen zu geben“, die im Dschungel der inneren Natur leben und von Freud ans Tageslicht gebracht wurden. „Dieses Namengeben scheint mir, hat die Menschheit, die Sprache bereichert“, urteilte Alfred Döblin, einer der Preiskuratoren, 1930 (zitiert nach Plänkers 1993, 169). Freud ist zu danken, daß wir vieles von dem, was früher nur zu fühlen und oft genug nur blind in Handlungen auszudrücken war, aus-sprechen und nach-denken können. Seit 1964 verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt denn auch einen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.

Die Versprachlichung des Affekts im Kontext einer dialogisch-therapeutischen Beziehung und die dadurch ermöglichte Vermenschlichung der animalischen Triebnatur, das ist die eine Leistung Freuds, die im Namen Goethes geehrt wurde. Die andere Leistung Freuds, dessen wissenschaftliche Prosa, hatte Arthur Schnitzler anläßlich einer Rezension der deutschen Übersetzung des Buches des französischen Autors Hippolyte Bernheim über „Die Suggestion und ihre Heilwirkung“ (1888/89) lange vor 1930 gewürdigt: „Dr. Freud, der das Buch in ganz mustergiltiger Weise ins Deutsche übertragen, hat sich damit ein besonderes Verdienst für die Sprache erworben, die er auch in einem trefflichen Vorwort persönlich zu vertreten weiß“ (Schnitzler 1889, 215).

Die Diskussion, die der knappen Entscheidung des Kuratoriums voraus­ging, das Freud den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main zuerkannte – sieben Stimmen für, fünf gegen Freud –, zeigt, daß die Frage, ob Freuds Werk im Namen Goethes zu Recht geehrt werden kann, dennoch berechtigt ist. So hatte der Kurator der Frankfurter Universität, Kurt Riezler, seine Entscheidung gegen Freud ausdrücklich mit dem „prägnant Un-Goethischen, ja Wider-Goethischen“ in Freuds Werken begründet. Bei Freud sei eine „Zentrierung des Menschen vom peinlich Krankhaften her“ erfolgt, die Riezler als der „penetrante Gegensatz“ zu allem erschien, „was der Name Goethe bedeutet“ (zitiert nach Plänkers 1993, 171). Die anderen Repräsentanten der Bildungsinstitutionen, die den Namen Goethe verwalteten, schlossen sich diesem Urteil an: Julius Petersen, Vertreter der Goethe-Gesellschaft; Hans Wahl, Direktor des Weimarer Goethe-Museums; und Ernst Beutler, Vertreter des Freien Deutschen Hochstifts. Petersen und Wahl blieben der Feier aus Protest fern, bei der Anna Freud als Vertreterin ihres krebskranken Vaters die Auszeichnung am 28. August 1930 im Frankfurter Goethe-Haus entgegennahm. Was brachte die Gegner der Preisverleihung an Freud so sehr in Harnisch?

Ihrem Verständnis von sittlicher Vollkommenheit entsprach das Bild, das sie sich von Goethes Menschenideal gemacht hatten, nicht dem Menschenbild, das Freud konzipiert hatte. Die geistreichen Herren wußten sich mit allen einer Meinung, die wie sie nach dem Sittlich-Vollkommenen strebten, also etwa auch mit jenen Damen, die Ende der zwanziger Jahre als „Menschen, die das natürliche Sittengesetz noch anerkennen“, eine „Protesterklärung katholischer Lehrerinnen“ unterzeichnet und damit „aufs schärfste“ gegen Freuds „Pansexualismus“ protestiert hatten (zitiert nach Meng 1928/29). In diesen Chor der Sittlich-Entrüsteten stimmte auch Egon Friedell ein. Im dritten Band seiner 1931 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ charakterisierte er Freud als „Seher und Sänger für die Mächte des Dunkels“. Die Psychoanalyse, so fuhr er fort, verkünde „den Anbruch des Satansreichs“. Friedell selbst gab sich als „Kenner der schwarzen Messe“ aus, der wußte, wovon er sprach, als er vor den Satansanbetern warnte, die „als höchste Heiligtümer“ den „Phallus“ und den „Hintern“ des Teufels anbeteten. Freud habe „eine Reli­gion“ gestiftet. „Diese Religion ist heidnischen Charakters: Naturanbetung, Dämonologie, chontischer Tiefenglaube, dionysische Sexualvergötterung [...]“ (Friedell, zitiert nach Springer 1994, 70).

Wer nun glaubt, solch unfreiwillige Selbstentblößung gehöre der Vergangenheit an und sei deshalb in der Gegenwart allenfalls als Anektode zu zitieren, der irrt. Noch in einem 1986 aufgelegten Buch nahm der ZEIT-Autor Dieter E. Zimmer unter dem ebenfalls unfreiwillig komischen, weil doppelsinnigen Titel „Tiefenschwindel“ mit anstandsdamenhafter Entrüstung Anstoß an der Psychoanalyse, respektive an der „Pimmel-Philosophie“ der Psychoanalytiker! Und einige Jahre später machte Der Spiegel (30/1994) eine Titelgeschichte zum Thema „Gaukler oder Heiler – Was kann die Psychotherapie?“ mit dem Bild eines grinsenden Teufels auf, dem eine harmlos dreinblickende Freud-Maske übergestülpt worden war.

Zurück zu Freud! Er hielt nicht viel von Rousseauisten, die das „Gute“ als Ausdruck der menschlichen Natur bejahen und das „Böse“ als deren Verirrung denunzieren. Hatte Freuds angeblicher „Pansexualismus“ die gesitteten Gemüter schon seit jeher erregt, so ängstigte die in den 1920er Jahren formulierte Theorie Freuds noch mehr, der zufolge es beim Menschen neben einer zeitlebens (zumindest latent) vorhandenen polymorph-perversen Sexualität auch noch einen angeborenen Destruktionstrieb geben sollte. Freud verstand die einfältigen Gemüter, doch er verspottete sie auch – und zwar mit heinescher Ironie: „[...] die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ,Bösen’, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird. Gott hat sie ja zum Ebenbilde seiner eigenen Vollkommenheit geschaffen [...]. Der Teufel wäre zur Entschuldigung Gottes die beste Auskunft [...]. Aber [...] man kann doch von Gott ebensowohl Rechenschaft für die Existenz des Teufels verlangen, wie für die des Bösen, das er verkörpert. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es für jedermann ratsam, an geeigneter Stelle eine tiefe Verbeugung vor der tief sittlichen Natur des Menschen zu machen [...] (Freud 1930 a, 479f.)

Freud zitiert an dieser Stelle (XIV, 480, Anm. 1) nun aber nicht Heine, der das Himmlisch-Ideale den Spatzen, den Göttern und den Philistern überlassen wollte, vielmehr Goethe, der die „böse“ Seite der Natur durch Mephistopheles bejahen ließ: „So ist denn alles, was Ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element.“ Freud entnimmt Goethes Faust auch eine Wegbeschreibung: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. Er zitiert diesen Passus aus dem Faust – „Vorspiel auf dem Theater“ – in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, wenn er davon spricht, „das Höchste und das Niedrigste“ sei­en in der Sexualität „überall“ miteinander verbunden. Ja, so fährt Freud fort, „die Allgewalt der Liebe“ erweise sich ihren „Verirrun­gen“ (V, 61), in den sogenannten Perversionen, am deutlichsten. „Das Höchste und das Tiefste: [...] Hymne und [...]  Schweinstall“ - „Liebe verbindet alles“, heißt es dazu in einem Brief Goethes an Frau von Stein (vgl. Nitzschke 1982, 67).

Goethe hat die Themen ‚Scheitern am Begehren’ und ‚Erlösung vom Begehren durch Verzicht’ vielfach variiert. Ich nenne einige Beispiele: Im Werther reagiert der unglückliche Held auf den ihm zugemuteten Ver­zicht mit Verzweiflung und Selbstmord. In zwei der Haupthandlung beigegebenen Skizzen werden Mord und Wahnsinn als weitere Möglichkeiten des Scheiterns am unerfüllten Begehren dargestellt. In den Wahlverwandtschaften entzieht sich Charlotte den Wirrnissen der „erotischen Chemie“, indem sie schließlich sowohl auf den Ehemann wie auf den Geliebten verzichtet. Dieser freiwillige Verzicht gilt als Zeichen ihrer Tugend. Im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, der den Untertitel „Die Entsagenden“ trägt, begegnet der Held in der „Turmgesellschaft“ Menschen, die Maß und Begrenzung als höchste Ziele preisen. Und „in seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der Iphigenie“ (Freud 1930 b, 548), zeigt Goethe, daß der Zyklus immer neuer Schuld nur zu beenden ist, wenn der Wiederholungszwang gebrochen, auf Rache verzichtet werden kann. Und schließlich legt im Faust Gretchen einen Weg zurück, auf dem sie von der Verfehlung zur Entsühnung und zur Versöhnung gelangt – und dieser Weg führt von der sinnlich-irdischen zur himmlisch-reinen Liebe. Goethe redet dem Ethos der Entsagung in seinen Werken also immer wieder das Wort. Doch Freud? War und ist er nicht dafür bekannt, ja berüchtigt, das genaue Gegenteil, die Entfesselung der Triebwünsche, also das „prägnant Un-Goethische, ja Wider-Goethische“ propagiert zu haben, wie Riezler es ausgedrückt hat, weshalb er die Ehrung Freuds im Namen Goethes 1930 so entschieden ablehnen mußte?

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„Sexuelle Revolution“ oder Ethos der Entsagung

Freuds Standpunkt

Die Kronzeugen der Revolteure von 1968 hießen Karl Marx und Sigmund Freud. Oder etwa nicht? Einer, der es wissen muß, der vormalige SDS-Theoretiker Reimut Reiche, der den Nagel mit Hammer und Sichel auf den Kopf getroffen hatte, als er 1968 sein Buch Sexualität und Klas­senkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung vorlegte, erinnerte sich zwanzig Jahre später so: „Es gab ein Ideal, einen ,Anspruch’, den ‚ganzen Marx’ [...] zum Fluchtpunkt und Korrektiv unseres Denkens und Handelns zu nehmen. Einen vergleichbaren Anspruch durfte Freud bei uns natürlich niemals reklamieren. Die Psychoanalyse wurde eher über Herbert Marcuse und Wilhelm Reich ,rezipiert’, als daß Freud selbst studiert worden wäre. Der Psychoanalyse wurde niemals die Ehre zuteil, sie gleichsam werkgetreu, in ihrem historischen, klinischen und methodischen Entstehungszusammenhang verstehen zu wollen (Reiche 1988, 49).

Beide – Wilhelm Reich und Herbert Marcuse – beriefen sich auf Freud, beziehungsweise auf das, was sie dessen Denkgebäude entnommen hatten: Anleitungen zur sexuellen (Selbst-) Befreiung, die von den „antiautoritären“ 68ern zum utopischen Projekt, genannt „sexuelle Revolution“, verdichtet wurden. Wilhelm Reich, Psychoanalytiker und KP-Mitglied, der 1933/34 aus den psychoanalytischen wie aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen worden ist (vgl. Nitzschke 1997), hatte den Begriff „sexuelle Revolution“ geprägt. Eines seiner Bücher, das 1930 unter dem Titel Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral. Kritik der bürgerlichen Se­xualreform erschienen und 1936 unter dem Titel Die Sexualität im Kulturkampf (ein schöner Gleichklang mit Reiches Titel Sexualität und Klassenkampf!) erneut aufgelegt worden war, hatte anläßlich der (veränderten) amerikanischen Neuauflage 1945 noch einmal einen neuen Titel erhalten: The Sexual Revolution. 1966 erschien es in deutscher Rück-Übersetzung unter dem Titel Die sexuelle Revolution (im folgenden zitiere ich nach der deutschen Ausgabe von 1966). Damit war eine Kapitelüberschrift, die sich in früheren Ausgaben des Buches auf die libertäre Sexualpolitik in der Sowjetunion Anfang der zwanziger Jahre bezogen hatte, zum neuen Haupttitel des Buches geworden. Reichs Hoffnung einer Befreiung des Sexuellen durch die Russische Revolution war im real existierenden Stalinismus untergegangen; also wurde die Utopie nun neu formuliert und für die künftige (sexuelle) Revolution in den westlichen Industriestaaten reklamiert.

Anders als die Kritiker, die gegen Freud den Vorwurf des „Pansexualismus“ erhoben hatten, wußte Reich nun allerdings, daß Freud nicht nur in seinem eigenen (sehr bürgerlichen) Leben, sondern auch in seiner Theorie und (therapeutischen) Praxis ein eher asketisch-spartanisches Programm befolgte. Reich kritisierte denn auch den „kulturphilosophischen Standpunkt“ Freuds, demzufolge „die Kultur ihr Entstehen der Triebunterdrückung bzw. dem Triebverzicht“ (Reich 1966, 39) verdanke sollte. Dieser Freudschen Auffassung setzte Reich die Überzeugung entgegen, jede Art des Verzichts auf Ausleben „natürlicher“ sexueller Bedürfnisse sei unnötig, ja schädlich. Seien die gesellschaftlichen Voraussetzungen erst einmal vorhanden, werde die Befreiung des Sexuellen nicht mehr lange auf sich warten lassen. In einer „Arbeitsdemokratie“ sei die kulturelle Zwangsmoral, die solange gebraucht werde, wie es die – nach Reichs Auffassung – sekundären, durch Triebunterdrückung und Triebverzicht entstandenen „perversen“ Triebwünsche gebe, nicht mehr nötig. Denn die eine Seite falle mit der anderen: an die Stelle zwangsmoralischer Beherrschung pervers verzerrter Triebbedürfnisse trete dann die (be-)freie Sexualität – die „natürliche“ Selbststeuerung „natürlicher“ Triebe.

So weit, so schön. Aber es kann schon vor der Zeit des großen gesellschaftlichen Umbruchs so schön kommen, und zwar dann, wenn die Utopie im konkreten Einzelfall realisiert wird, in der therapeutischen Praxis nämlich. Zu diesem Zweck hat Reich eine Therapiekonzeption erarbeitet, die der Freuds in zentralen Punkten widerspricht. Bei Freud sollte der Patient vor allem lernen, wie der – nach Meinung Freuds für das Zusammenleben von Menschen notwendige – Triebverzicht auf nicht-neurotische Art zu bewältigen wäre. Reich versprach seinen neurotisch gehemmten und (oder) unfrei-„pervers“ agierenden Patienten hingegen, er könne sie wieder in „orgastisch potente“ Wesen zurückzuverwandeln, die sie ja schon einmal, als Kinder nämlich, vor dem Einbruch der Zwangsmoral gewesen sei­en. Reichs diesbezüglicher Optimismus war grenzenlos. Nach einer erfolgreichen Therapie werde, so behauptete er, „der frü­her unerläßliche Mechanismus der Selbstbeherrschung“ nicht mehr nötig sein. Denn dann gibt es „[...] wenig mehr, das beherrscht werden müßte. Der Gesunde hat praktisch keine Moral mehr in sich, aber auch keine Impulse, die eine moralische Hemmung erfordern würden [...]. Käuflicher Geschlechtsverkehr wird eine Unmöglichkeit; vorhandene Lustmordphantasien verlieren ihre Kraft und Bedeutung. Einen Partner zur Liebe zu zwingen oder zu vergewaltigen, wird fremd und unausdenkbar. Ebenso früher etwa vorhanden gewesene Impulse Kinder zu verführen. Anale, exhibitionistische und andere Perversionen weichen regelmäßig vollkommen, dadurch weichen auch die sozialen Angst und Schuldgefühle. Die inzestuöse Bindung an Eltern und Geschwister verliert an Interesse [...]“ (Reich 1966, 35).

So schön kann das Leben sein! Es muß also nicht so düster sein, wie Freud es sah. Wenn Freud die „Natur“ des Menschen zur Hälfte als grausam, böse, aggressiv und in Hinsicht auf „pervers“-sexuelles Begehren als schwer bezähmbar einschätzte, so bleibt die „Natur“ des Menschen, die Reich imaginierte, als Ganzes gut, solange man sie der „natürlichen Selbststeuerung“ überläßt. Helmut Dahmer hat Reich wegen dieser Auffassung als „wahren Sozialisten“ bezeichnet. Er hat ihn damit jenen Schwarmgeistern zugerechnet, deren idyllische Gesellschaftsentwürfe Marx und Engels als „deutsche Ideologie“ so kritisiert hatten: „Der wahre Sozialist geht von dem Gedanken aus, daß der Zwiespalt von Leben und Glück aufhören müsse. Um für diesen Satz einen Beweis zu finden, nimmt er die Natur zu Hülfe und unterstellt, daß in ihr dieser Zwiespalt nicht existiere, und hieraus schließt er, daß, da der Mensch ebenfalls ein Naturkörper sei und die allgemeinen Eigenschaften des Körpers besitze, für ihn dieser Zwiespalt ebenfalls nicht existieren dürfe. Mit viel größerem Rechte konnte Hobbes sein bellum omnium contra omnes aus der Natur beweisen [...]“ (1845/46, 460).

In seinem Buch Eros and Civilisation (das im folgenden nach der deutschen Ausgabe von 1971 zitiert wird) hat Herbert Marcuse die „Freisetzung von Sexualität“ im Sinne Reichs einen „verallgemeinernden Primitivismus“ (1971, 235) genannt. Er hat dem Entwurf Reichs eine eigene Utopie entgegengesetzt, die – anders als die Reichsche – nicht auf Reinszenierung einer angeblich repressionsfreien Urgesellschaft abzielt, sondern auf eine künftige Gesellschaft, die sich von den Zwängen der Natur soweit emanzipiert hat, daß es auf dem Höhepunkt der zivilisatorischen Möglichkei­ten nun endlich doch noch zu einer Versöhnung des Menschen mit einer (Trieb-)Natur kommen kann. Anders als Reich, der in den sexuellen Perversionen die Abirrung vom „natürlich“ Gewollten erkannte und glaubte, diese Abirrungen verschwänden in einer nicht-repressiven Gesellschaft, glaubte Marcuse an die Möglichkeit des spielerischen Auslebens und ästhetischen Genus­ses des „perversen“ Sexus. So, als habe er nie bei de Sade gelesen, welch harte „Arbeit“ und welche zweckrationale Vernunft nötig sind, um ein perverses Ritual in Szene zu setzen, weil Nähe ohne die Anstrengung der peinlichen Beachtung subtiler Distanzvorschriften nicht zu genießen ist; so, als habe er nie vom Zwang und der Sucht gehört, die das perverse Ritual beherrschen, und zwar Wollust, aber weder die Freiheit noch Glück zulassen; so als wisse er von all dem nichts – verherrlicht Marcuse die Perversionen als Ausdruck „von Freiheit und Glück“ (1971, 54). Mit Freud unterstreicht Marcuse dann aber wieder die Sprengkraft der Perversionen. Deren allgemeinstes Ziel umschreibt er als „Suche nach endgültiger und integraler Erfüllung“, bei der der Sexus „vom Lustprinzip zum Nirawanaprinzip“ regrediere (1971, 55), eine Gefahr, die – wie Marcuse meint – von der Kultur erkannt worden sei, weshalb Perversionen in der repressiven Gesellschaft verpönt seien. In einer vom Arbeitszwang befreiten Gesellschaft könnten sie hingegen als selbständige Ausdrucksformen anerkannt und ausgelebt werden.

Heute lassen sich diese zu Beginn der 1950er Jahre von Marcuse formulierten Thesen nicht mehr als Vision einer utopisch freien Gesellschaft mißverstehen; vielmehr lassen sie sich als Vorwegnahme einer den Zerfall des bürgerlichen Subjekts trotzig bejahenden „postmodernen“ Ideologie erkennen. Marcuse hat denn auch als einer der ersten die Rede vom Geschlecht gehalten, das nicht „eins“ ist. Er hat die „postmoderne“ Theorie vom Wechsel der Identitäten, der Fluktuation der Geschlechterrollen und dem Zerfall des Genitalprimats vorformuliert. Anders als viele seiner Zeitgenossen – anders vor allem als Adorno und Horkheimer – hat er den gesellschaftlichen Wandel nicht kulturpessimistisch kommentiert, sondern als Chance für eine neue – „individualisierte“ – Freiheit akzeptiert. Am Ende war er, anders als er von sich selbst glaubte, kein marxistisch-freudianisch argumentierender Gesellschaftskritiker, sondern der Prophet der Möglichkeiten, die das kapitalistische System im Zeitalter der „Globalisierung“ jenen bietet, die ihre Frei-Zeit „postmodern“ genießen können.

Wenn „die vorherrschende historische Form des Realitätsprinzips“ – die Marcuse „Leistungsprinzip“ (1971, 40) nennt – erst einmal verschwunden sei, werde sich auch das Sexuell-Perverse von den Fesseln befreien, in denen es gefangen lag, solange die purita­nische Arbeitsmoral des traditionellen Kapitalismus nicht nur die Welt der Produktion, sondern auch die der Begierden behrrschte. Wenn das Realitätsprinzip „nicht (mehr) die Arbeit beherrscht“, dann habe es „nichts (mehr) in der Realität zu beherrschen“ – meint Marcuse (1971, 216). Es ist erstaunlich, wie sehr ein Philosoph, der sich ausdrück­lich auf Freud beruft – Marcuse gibt seiner Abhandlung den Untertitel „Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud“ –, die psychoanalytische Begrifflichkeit mißverstehen kann! Laut Freud hat das Realitätsprinzip nämlich keine historische Form. Vielmehr ist von einem „Prinzip“ die Rede, das unter allen historischen Bedingungen gleich bleibt, wenn es auch von Fall zu Fall – im glücklichen wie im un­glücklichen Fall – außer Kraft gesetzt werden (d. h. dem Lustprinzip weichen) kann.

Das Realitätsprinzip dient unter allen historischen Bedingungen der Selbsterhaltung. Das Individuum lernt, die unmittelbare Erfüllung seiner Wünsche zurückzustellen und all jene Formen des Lustgewinns aufzuschieben, zu modifizieren oder aufzugeben, durch die es seine vitalen Bedürfnisse, seine körperliche Integrität oder seinen Selbstwert gefährdet sieht. Es lernt also, die Unlust in Kauf zu nehmen, die der Sicherung seiner existentiellen (auch seiner narzißtischen) Interessen dient. Von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden, also historisch wandelbar, sind die Verbote oder Einschränkungen, die den Triebwünschen gelten, sowie die Formen, in denen diese Wünsche zum Ausdruck gebracht werden können. Nach dem Lustprinzip in dem von Freud gemeinten Sinn – also im Sinne spontaner Triebbefriedi­gung oder Wunscherfüllung, im Sinne unmittelbarer Abfuhr des hier und jetzt auftretenden Affekts – kann unter keinen historischen Bedingungen gelebt werden. Und da die narzißtische Kränkung oder die Bedrohung des Selbstwertgefühls in der Beziehung des Menschen zu Menschen auftritt, wird es auch in einer „idealen“ Gesellschaft genügend Anlässe für das Bemühen geben, die Sicherung des narzißtischen Gleichgewichts (der psychophysischen „Stabilität“, um mit Fechner zu reden) unter Beachtung des Rea­litätsprinzips aufrechtzuerhalten.

Ein Beispiel, das Marcuse anführt, zeigt, worum es beim Realitätsprinzip geht, auch wenn Marcuse meint, gerade dieses Beispiel eigne sich nicht als Beleg für die These, daß das Realitätsprinzip unter allen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen Gültigkeit besitzt: „Wenn ein Kind das Bedürfnis empfindet, jederzeit beliebig über die Straße zu laufen, so wäre die Unterdrückung dieses Bedürfnisses keine Unterdrückung menschlicher Möglichkeiten“ (1971, 221). Das Beispiel zeigt jedoch gerade, daß Triebkontrolle lebensnotwendig ist, das Kind den Fortschritt vom Lust- zum Realitätsprinzip also lernen muß. Im genannten Beispiel geht es um den Wunsch des Kindes, spontanen Bewegungsimpulsen in dem Augenblick, in dem sie auftreten, freien Lauf zu lassen. Dieser Wunsch muß eingeschränkt, der Impuls muß kontrolliert werden. Soweit das Kind hierzu in der Lage ist und zur vernünftigen Beurteilung der Situation und der Möglichkeiten kommt, die es in dieser Situation hat (um nicht vom Auto überfahren zu werden, wenn es über die Straße läuft), reguliert es seine Wünsche (beziehungsweise deren Erfüllung) nach dem Realitätsprinzip.

Dem spontanen Ausleben unserer Triebimpulse sind nicht nur in diesem Fall Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Wunscherfüllung werden durch die Umwelt, die Gesellschaft, durch Gewissen (Moral, Scham und Ekel) – vor allem aber durch den Wunsch des anderen gesetzt. Nur in seltenen Fällen können wir die „Identität von Freiheit und Glück“ erleben, von der Marcuse spricht – und zwar deshalb, weil unser Wunsch nur in seltenen Fällen mit dem Wunsch des anderen, der un­seren Wunsch erfüllen soll, identisch ist. Und auch dessen Wünsche an uns sind nicht immer mit unserem Wunsch identisch, die Wünsche des anderen zu erfüllen.

Nur dann aber, wenn die Grenzen aufgehoben sind – können wir grenzenlos glücklich sein. Nur dann dürfen wir für einen kurzen „unhistorischen Augenblick“ (Nietzsche) vergessen, daß wir in der Kultur, also mit anderen Menschen zusammenleben, die wir für unsere Wunscherfüllung notwendig brauchen (vgl. Nitzschke 1991). „Das Unbehagen in der Kultur“ (Freud 1930a) entzündet sich ja gerade daran, daß wir an einem Ort jenseits von Eden leben, an dem die Erfüllung unserer Wünsche nicht ohne weiteres mit der Erfüllung der Wünsche des anderen identisch ist. Zu dieser Kultur gehört eine „,kulturelle’ Sexualmoral“ (Freud 1908), die sich historisch bedingt ändern mag, jedoch niemals – es sei denn für einen kurzen „unhistorischen Augenblick“ – gänzlich aufgehoben werden kann, solange Sexualität in Gemeinschaft mit anderen Menschen gelebt wird, also Rücksicht auf deren Wünsche zu nehmen ist. Hieran entzündet sich die – im Unbewußten niemals endende – Rebellion gegen die „Kultur“, die der Zwang zum Zusammenleben mit anderen Menschen auslöst. Dieser lebenslängliche Protest ist wiederum Ausdruck unseres eigen­sinnigen Beharrens auf ursprünglicher Wunscherfüllung nach den Re­geln des Paradieses oder der Utopie, also nach dem Lustprinzip.

Freud war Realist. Das heißt, er war, „anders als Reich, Marcuse und einige französische Ideologen des Begehrens“, nicht davon überzeugt, daß „der freie Ausdruck unserer Wünsche und Triebe zu universellem Glück führen könnte“. Im Gegenteil. Für den – hypothetischen oder utopischen – Fall, wir könnten unseren Wünschen freien Lauf lassen, hielt Freud den „universellen Mord“ für das wahrscheinlichere Ereignis als das universelle Glück (Costoriadis 1996, 907). Freuds Menschenbild und Kulturtheorie haben also einen gemeinsamen Bezugspunkt: Es ist dies die Überzeugung, daß sich ein Mensch, der seine Triebwünsche jederzeit nach dem Lustprinzip regulieren wollte, „im Hader mit der ganzen Welt“, insbesondere aber im Konflikt mit allen anderen Menschen befinden würde. Ein Leben nach dem Lustprinzip ist „daher überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung [...] und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich“ (Freud 1930a, 434).

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Liebe Verzicht und Versöhnung

Den Begriff „Lustprinzip“ übernahm Freud vermutlich von Gustav Theodor Fechner (vgl. Nitzschke 1989). Fechner, Begründer der Psychophysik, war Naturwissenschaftler, aber auch Metaphysiker. Und als solcher war er – im Gegensatz zu Freud, dem der Konflikt als Prinzip allen Lebens galt - von der grundsätzlichen Harmonie der Schöpfung und deshalb auch davon überzeugt, daß Lust und sittliche Liebe einan­der nicht ausschließen müssen, vielmehr identisch seien: „In der That ist es eigentlich nur im Streit, ob es richtiger ist, Liebe zu etwas oder Lust zu etwas zu sagen“, heißt es in Fechners Abhandlung „Ueber das Lustprinzip des Handelns“ (1848, 12).

Für Freud sind Lust und Liebe schwer miteinander vereinbar. Liebe gilt ihm als Derivat zielgehemmter Lust, und die Fähigkeit zur dauerhaften Bindung setzt seiner Ansicht nach weitgehenden Verzicht voraus. Betroffen von diesem Verzicht sind nicht nur Inhalte, vielmehr auch die archaischen Formen der Befriedigung sexueller und aggressiver Triebwünsche. Dennoch spricht Freud – seinem Selbstverständnis gemäß – weder als Metaphysiker noch als Moralist, wenn er von der Notwendigkeit des Triebverzichts oder der Modifikation der Formen der Triebbefriedigung, vom Realitätsprinzip also, spricht. Freud, der das Ethos der Entsagung bejaht und als Naturwissenschaftler das Prinzip beschreibt, das menschliches Zusammenleben ermöglicht und auf Dauer sichert, trägt als Moralist sozusagen einen (natur)-wissenschaftlichen Talar.

In diesem Zusammenhang ist auch Freuds Auseinandersetzung mit „einer der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft“ interessant, die „gewiß älter als das Christentum“ (Freud 1930a, 468), nämlich jüdisch-alttestamentarischen Ursprungs ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst / Denn ich bin der HERR“ (3 Moses 19, Vers 18). Freud fragt, seinem Selbstverständnis zufolge, wiederum nicht als Moralist, vielmehr als Forscher nach: Wie soll mir das gelingen – den anderen so zu lieben wie mich selbst? „Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgend eine Art verdienen [...]. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben [...]. Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß [...]. Wenn es ihm Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen [...]. Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgend eine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dies Benehmen gegen mich von ihm erwarten [...] ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: Liebe deinen Nächsten wie dein Nächster dich liebt, dann würde ich nicht widersprechen [...]. Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn ange­griffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus, wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (Freud 1930a, 468ff.).

Wilhelm Reich und Herbert Marcuse hatten diesen Mut. Freud besaß ihn nicht. Ihn zeichnete eine andere Art Mut aus. Er wollte vor der sexuellen und aggressiven Triebnatur des Menschen nicht fromm die Augen verschließen. Also suchte er nach Möglichkeiten für einen vernünftigen Umgang mit der Triebnatur. Wo Es war, soll Ich werden. Dieser oft zitierte Satz, der Freuds therapeutisches Programm charakterisiert, benennt die Möglichkeit, an die Freud dachte: An die Stelle animalischer Befriedi­gungsformen sollen Formen modifizierter Wunscherfüllung treten.

Und so wird auch verständlich, warum Freud die von ihm konzipierte Therapie als Nacherziehung bezeichnen konnte. Nachträglich erreicht werden soll, was anhaltende neurotische Konflikte und unbewältigte Traumata verhindert haben: Triebkontrolle. An die Stelle neurotischer Triebhemmung oder antisozialer Triebenthemmung sollen Möglichkeiten der Triebbefriedigung treten, die selbst- und fremdschädigendes Verhalten ausschließen. Mit anderen Worten: Ein­sicht in die Notwendigkeit des Triebverzichts und die Fähigkeit, diesen Verzicht psychisch so zu bewältigen, daß keine psychopathologischen Formen des Ressentiments zurückbleiben – auch so ließe sich Freuds Therapieziel umschreiben. Kein Wunder, wenn Freud den Vorwurf ka­tholischer Betschwestern, verklemmter Kulturpäpste oder journalisti­scher Radaubrüder, er habe das ungehemmte Ausleben der Triebwün­sche propagiert, wiederholt scharf zurückgewiesen hat. Zum Beispiel so: „Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Be­schwerden vom ‚freien Ausleben’ der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war“ (Freud 1923, 227).

Man darf Freud wohl in die Reihe der Erzieher des Menschengeschlechts einordnen. Obgleich er überzeugter Atheist war, identifizierte er sich mit einem Religionsstifter – mit dem Mann Moses (vgl. Nitzschke 1996). Freud begrüßte den geistig-sittlichen Fortschritt, den der jüdische Monotheismus mit sich gebracht habe. Das „Mythische, Magische und Zauberische“ (Freud 1937-39, 122), das die vormonotheistischen Religionen verehrten, die Rituale der Triebvergötterung – die sexuelle Orgie und den Opfermord – praktizierten, sei dadurch gebannt worden.

Doch wie jede andere, so kritisierte Freud auch die jüdische Religion. Da Religionen Triebkontrolle als Erfüllung eines göttlichen Gebots und nicht als Konsequenz vernünftiger Einsicht in die Notwendigkeit aus­weisen, behindern sie die Emanzipation, blockieren sie die vernünftige Selbststeuerung des Menschen. Erst die Ersetzung Gottes durch Vernunft und die Emanzipation des Ichs von einem grausam strengen Über-Ich vollenden das Projekt der Freudschen Aufklärung!

Noch ein Nachsatz: Unlängst stritten sich zwei professionelle Freudianer, also zwei Psychoanalytiker. Der eine meinte, der Begriff „Versöhnen“ sei ein „eminent wichtiger Begriff“ für die psychoanalytische „Konfliktpsychologie“ (Ruff, Winkler 1990, 11). Der andere behauptete hingegen, dieser Begriff eigne sich überhaupt nicht für die „Freudsche Konzeption eines verhaltenskonstitutiven Konfliktgeschehens“, „es sei denn, wir haben ihn reflektiert und unmißverständlich gemacht“ (Ruff, Winkler 1990, 17). Ich hoffe, ich habe Freuds Konzept der Versöhnung verständlich machen können? Dieses Konzept verleugnet die prinzipielle Diskrepanz zwischen dem Wunsch und seiner Befriedigung nicht und zeigt die Konflikte, die aus dieser Diskrepanz resultieren, aber auch die Möglichkeiten ihrer Bewältigung auf. Mit anderen, mit Freuds Worten ausgedrückt: „Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien“ (1907, 118). Wohl gemerkt: Liebe – nicht Lust!

Der Kulturmensch soll sein animalisches, prähistorisches, infantiles Triebrepertoire, das Fremde, im Verlauf des Zivilisations- und Sozialisationsprozesses Fremd-Gewordene, als Eigenes wiedererkennen – um es dann mit Hilfe vernünftiger Einsicht erneut hinter Grenzen zu verbannen. Ist das nicht paradox? Anstatt die fremdgewordene Triebnatur am anderen wiederzuerkennen und sie an anderen stellvertretend zu verfolgen und zu vernichten, soll sie als eigene erkannt und pazifiziert werden: Diese Formulierung klingt schon etwas weniger paradox.

 

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Der Text ist erstmals in dem von Hans-Georg Pott herausgegebenen Band „Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen“, Fink Verlag, München 1997, 139-153, unter dem Titel Liebe – Verzicht und Versöhnung Das Ethos der Entsagung im Werk des Goethepreisträgers Sigmund Freud erschienen. Er wurde vorstehend leicht überarbeitet.