Volker Breidecker

Eine gewisse Grundverrücktheit

Wie geht es eigentlich der Psychoanalyse? Und wie geht sie mit Dissidenten
und ihrem politischen Schweigeprogramm um?
Ein aufschlussreiches Treffen zum 70. Geburtstag von Bernd Nitzschke.

Süddeutsche Zeitung, 17. Juni 2014, Seite 11

 

Diese Worte Sigmund Freuds sind heute aktueller denn je: „Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, dass die Psychoanalyse“, so schrieb deren Begründer, „von der Medizin geschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde“ – dort „im Kapitel Therapie“ als eine unter mehreren konkurrierenden Techniken. Just diese Befürchtung ist eingetroffen: Mit dem Aufstieg zum kassenlizensierten Heilverfahren einher ging ein enormer Bedeutungsverlust der Psychoanalyse, die – wie Freud 1927 weiterschrieb – „ein besseres Schicksal“ verdient hätte: „Als ‚Tiefenpsychologie‘, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.“ Das ist nicht wenig.

 

Der Anspruch auf die Rolle einer universalen Deutungsmacht über die Moderne ist vergleichbar nur dem originären Impuls des Marxismus, mit dem die Freudsche Psychoanalyse das Ziel der Emanzipation des Menschengeschlechts teilt – und des frühen Marx’ „kategorischen Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Hier wie dort steht am Anfang die Erkenntnis, wonach die Menschen nicht Herr im eigenen Hause sind.

 

Die Biologisierung gehirnphysiologischer Prozesse und die dramatische Zunahme jener Tendenz, normales menschliches Unbehagen und Unglück zu pathologisieren und ihm rein medikamentös zu begegnen, sind nicht die einzigen Gründe für den Bedeutungsschwund der Psychoanalyse sowohl als therapeutische Option als auch im Blick auf ihr kulturelles, intellektuelles und wissenschaftliches Ansehen. Durch Trivialisierung und Banalisierung sind die psychoanalytischen Begriffe zur Karikatur ihrer selbst geworden, sind ihre originären kulturkritischen Antriebe unkenntlich geworden. Ihre Vertreter selbst sind daran nicht unschuldig, denn seit den Anfängen vor mehr als hundert Jahren herrscht unter ihnen der sektiererische Geist priesterlichen Kasten-, Kader- und Proselytenwesens mit strengen Ritualen der Initiation und Inklusion sowie im Gegenzug der Exklusion aller Abweichungen von der Orthodoxie. Als eine dissidente Wissenschaft sui generis bringt die Psychoanalyse kraft ihrer Unabgeschlossenheit – Freud war sie „work in progress“ – fortwährend ihre eigenen Dissidenten und Grenzgänger hervor. Im Umgang mit diesen ist sie allerdings selbst nicht frei von jenen autoritären Anmaßungen, destruktiven Aggressionen und rituellen Zwangshandlungen, deren Aufklärung und Therapie sie sich doch verschrieben hat.

 

Der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke gehört zur raren und unverwüstlichen Sorte derer, die sich solcher selbstaufklärerischen Potenziale bewusst sind und ihr eigenes Dissidententum auch dafür einsetzen, die Dissidenz anderer zu rehabilitieren. Diesem personifizierten Stachel im Fleisch einer – nach eigenen Worten – „zur Ideologie von Verbänden herabgestuften Psychoanalyse“ wurde jetzt zur Feier von Nitzschkes 70.Geburtstag ein Symposion im Kreise von Kollegen, Freunden und Weggefährten zuteil. Das Thema: Grenzgänger und Grenzgänge in der Geschichte der Psychoanalyse. Bertram von der Stein, der Gastgeber vom Düsseldorfer Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie, wollte diesen Fokus noch weiter ausgedehnt wissen, denn „eine gewisse Grundverrücktheit“ gehöre zur psychoanalytischen Ausbildung einfach dazu.

 

Vorträge über die Popstars unter den Renegaten wie Otto Gross (Albrecht Götz von Olenhusen), Wilhelm Reich (Andreas Peglau) und Georg Groddeck (Galina Hristeva) nahmen die Auswüchse des Vereinslebens als zwanghafte Wiederholungen patriarchalischer Familienstrukturen unter die Lupe und legten die blinden Flecken der Disziplin frei, deren Folgen noch heute in undurchsichtigen Vereinsstrukturen fortleben. Wilhelm Reichs Untersuchung über die „Massenpsychologie des Faschismus“ und sein politisches Engagement berührten den kritischsten Punkt in der Geschichte der Disziplin: das von Freud geduldete, wenn nicht geforderte politische Abstinenzgebot, das für nichtjüdische Psychoanalytiker dann zum wohlfeilen Alibi eines Überwinterns wurde, das weder frei von opportunistischer Anpassung noch von Anbiederung an das NS-Regime war.

 

Die Zerstörung jener Legende, wonach in Deutschland und Österreich zurückgebliebene Zunftvertreter per se auf der Seite des Widerstands gestanden hätten und die Psychoanalyse als solche – und nicht nur ihre jüdischen Vertreter – unter Verfolgung gelitten hätte, trug Helmut Dahmer, dem damaligen Herausgeber des publizistischen Flaggschiffs Psyche, in den 80er-Jahren den Ruf des „Nestbeschmutzers“ ein. Die Zurückgebliebenen rächten sich durch Verdrängung und Vergessen aber auch an jenen exilierten jüdischen Psychoanalytikern, die sich wie die Wienerinnen Else Pappenheim und Marie Langer dem politischen Abstinenzgebot vor und nach 1933 energisch widersetzt hatten. Aus ihrem argentinischen Exil musste Langer in den 70er-Jahren erneut fliehen, als eine Todesschwadron ihr nach dem Leben trachtete. Von beider Briefwechsel berichtete der Grazer Historiker Karl Fallend.

 

Den Anspruch auf eine „Restitution der Psychoanalyse“ durch „Provenienzforschung“ und durch Rückbesinnung auf das vergessene „Junktim von Therapie und Kulturkritik“ vertrat Helmut Dahmer entschieden: In der „Medizinisierung“ der Psychoanalyse, ihrer Blindheit gegenüber der sozialen und politischen Außenwelt wirke das in die Nachkriegsära übertragene „heimliche Schweigeprogramm“ noch immer fort. Demgegenüber aktuell bleibe Freuds Projekt einer „Kultur, die keinen mehr unterdrückt“. Restitution der Psychoanalyse bedarf aber auch der Revision ihrer Irrtümer: Passé ist, wie Brigitte Boothe aus Zürich mit Humor und Ironie ausführte, die für die Psychoanalyse einst „geradezu peinliche Weiblichkeit“ im Sinne vermeintlich biologisch bedingter Versehrtheit und Vulnerabilität. Körperlich behindert fühlten sich heute eher Männer, wenn sie nicht schwanger werden könnten.

 

Ein lohnendes Terrain für eine kulturtheoretisch restituierte Psychoanalyse bietet die Erforschung der Fremdenfeindlichkeit. Oliver Decker, Ko-Autor der Leipziger Studie über aus der Mitte der Gesellschaft kommende rechtsextreme Einstellungen, revidierte das Konzept des „autoritären Charakters“ unter nachpatriarchalischen Verhältnissen. „Stabiler“ geworden sei die „Mitte“ im Jahr 2014 nur deshalb, weil unter der ökonomischen Insellage dieses Landes der Wohlstand als „narzisstische Plombe“ fungiere, worunter fremdenfeindliche Ressentiments verdeckt blieben und zurückgehalten werden. Gegenüber singulären Gruppen wie Asylbewerbern, Sinti und Roma sowie Muslimen ließen die Deutschen in ihrer Mehrheit aber einem „sekundären Autoritarismus“ freien Lauf. Im Flottieren dessen, was Freuds Traumlehre „sekundäre Bearbeitung“ nannte, sei jener beim Setzen entsprechender Impulse auch mit „sekundärem Antisemitismus“ kompatibel. Unter schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen könne dieser wiederum die Plombe bersten lassen.