Han Israëls: Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 1999

„Sherlock Holmes-artig“ habe er versucht, „den Sachverhalt zu erraten“, schrieb Freud einmal an C.G. Jung, nachdem sich Sabina Spielrein, eine Patientin, mit der Jung eine unglückselige Liebe verband, hilfesuchend an Freud gewandt hatte. Aber auch sonst verglich der Urvater aller Psychoanalytiker seine Methode, Lebens- und Liebesgeschichten zu rekonstruieren, gerne mit der des Detektivs. So heißt es in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: „Wenn Sie als Kriminalbeamter an der Untersuchung einer Mordtat beteiligt sind, erwarten Sie dann wirklich zu finden, daß der Mörder seine Photographie samt beigefügter Adresse am Tatort zurückgelassen hat, oder werden Sie sich nicht notwendigerweise mit schwächeren und undeutlicheren Spuren der gesuchten Persönlichkeit begnügen?“ Dieses Bild aufgreifend könnte man Freud auch als Fährtenleser charakterisieren, der den Aufenthaltsort des Wildes, dem er nachjagt, anhand der Spuren zu erraten hofft, das es hinterlassen hat.

Es war ein scheues Wild – die unbewußte Konfliktdynamik eines Menschen, dessen „geheime“ Persönlichkeit – dem Freud nachforschte. Zu diesem Zweck richtete er seine Aufmerksamkeit auf Nebensächliches, auf die Brüche und Widersprüche, die die bewußt erzählte, also die im Dienst der Abwehr konstruierte Lebensgeschichte eines Menschen enthält. Der Historiker Carlo Ginzburg hat das Freudsche Verfahren deshalb dem Indizienparadigma zugerechnet, dem am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur der Kriminalroman in der Literatur, sondern auch das von Giovanii Morelli (eigentlich: Ivan Lermolieff) entwickelte Verfahren gefolgt sei, mit dessen Hilfe Kunsthistoriker echte von gefälschten Gemälden unterscheiden lernten. Und tatsächlich bezieht sich Freud in seiner Studie über den Moses des Michelangelo auch explizit auf Morelli. Der habe auf „Kleinigkeiten“ geachtet, die der Kopist nachzuahmen vernachlässigt, und die doch jeder Künstler in einer ihn kennzeichnenden Weise ausführt“. Es sind diese scheinbar blassen Spuren, die zur Aufklärung der Wahrheit führen, wenn man sie nur aufmerksam verfolgt.

Es ist nicht verwunderlich, daß diese Methode fasziniert, mit deren Hilfe aus vielen kleinen Mäusen – Auslassungen, Widersprüchen und Verfälschungen –ein großer Elefant – also die „ganze“ Wahrheit eines Menschen - zu gewinnen ist. Und noch faszinierender ist es offenbar, wenn dieses Verfahren auf Freuds Lebensgeschichte und Persönlichkeit angewandt wird. Das haben schon viele Biographen Freuds versucht – und nun hat sich auch Han Israëls an diese Arbeit gemacht.

Akribisch untersucht er das Material, das die Forschung der letzten Jahrzehnte über jene Zeit in Freuds Leben erbracht hat, in der Freud mit Kokain experimentierte und darüber publizierte, in der er gemeinsam mit Josef Breuer die „Studien über Hysterie“ veröffentlichte und – daran anschließend - die sogenannte „Verführungstheorie“ vortrug. Es geht also um die Zeit vor Erscheinen der „Traumdeutung“ (1900), mit der, laut Freud, die Psychoanalyse im engeren Sinn beginnt. Bei der Rekonstruktion dieses Abschnitts aus Freuds Forscherleben benutzt Israëls auch bisher unbekannte Abschnitte aus Briefen Freuds an seine damalige Verlobte Martha Bernays, ein Fund, den Israëls insbesondere für die kritische Diskussion der von Freud durchgeführten und als Erfolg verkauften Behandlung eines Morphinisten heranzieht, eine Behandlung, die jedoch mißglückte, weil Freud nicht rechtzeitig erkannte, daß Kokain kein Mittel ist, den Morphiumentzug zu gewährleisten, vielmehr selbst süchtig macht.

Soweit Israëls Widersprüche aufdeckt, die sich in Freuds Selbstdarstellungen und in der offiziösen und teilweise hagiographisch überhöhenden psychoanalytischen Literatur über jene Zeit finden, ist die Lektüre seines Buches bereichernd. Doch die Sorgfalt, mit der Israëls sich den Details zuwendet, wird entwertet durch die Einfalt, mit der das Gesamtergebnis seiner Untersuchung präsentiert: Freud war ein Lügner. Er hat immer und überall die Wahrheit verfälscht. Und so werden keine Schlüsse, vielmehr wird ein großer Schlußstrich gezogen: „Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge“ – so lautet der Untertitel des Buches von Israëls.

Mag der Detektiv, mag der Psychoanalytiker, mag der Biograph auch noch so sorgfältig die Details untersuchen, den Rahmen, in die er sie einfügt, bringt er offenbar immer schon mit. Der Detektiv mag sich mit der Identifizierung des Täters begnügen. Von der Erzählung des Psychoanalytikers und der des Biographen aber ist mehr zu verlangen. Sie sollten der Komplexität einer Persönlichkeit gerecht werden .- und die ist nie aufgeklärt, wenn am Ende alles Schwarz auf Weiß feststeht. Schließlich hängt die Qualität einer Biographie von der Komplexität der Perspektiven ab, die sie zur Erklärung des dargestellten Materials anbietet. Und die liegt in jedem Fall jenseits von Gut und Böse. Das wissen wir – nicht erst seit Freud.

Als Freud seine frühen Theorien über Kokain, Hysterie und Verführung vorlegte, befand er sich in einer Phase des Umbruchs, der enttäuschten Erwartung (einer akademischen Karriere) und der hochfliegenden Pläne. Es war ein Zeitabschnitt des Suchens und Verwerfens, des Experimentierens. Freud wollte damals das neurotische Elend, die Hysterie, aus einem Punkte kurieren. Später wurde er vorsichtiger .- und doch gab er seine kühnen Spekulationen niemals auf. Noch als er 1920 seine Arbeit „Jenseits des Lustprinzips“ publizierte, führte er aus: „Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung würdigen oder vernachlässigen wird.“ Jeder mag also sein Urteil fällen - über Freuds Spekulationen, Irrtümer und Schwächen.

Die Arbeit des Detektivs ist zu Ende, wenn er alles auf einen Punkt gebracht hat. Dann fängt die Arbeit des Richters oder des Biographen aber erst an. Je komplexer deren Sicht ist, desto überzeugender und gerechter wird das Urteil ausfallen. Und so folgt denn auch hier ein Urteil: Israëls ist ein guter Detektiv –aber ein schlechter Richter, also ein ungenügender Biograph.

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung, 4 (Heft 7), 2000, S. 125 f.