Josef Christian Aigner: Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex. Giessen (Psychosozial-Verlag) 2001 Das Buch enthält mehr, als man aufgrund des Titels erahnen kann: Es geht dem Autor nämlich nicht nur um die Darstellung und kritische Würdigung der umfangreichen psychoanalytischen Literatur zu den Themen Väterlichkeit und Männlichkeit. Es geht ihm immer auch um die historische Einordnung und um die (sozial-)politischen Hintergründe von Männlichkeitsklischees, um deren ideologische Bedeutung und um die Kritik dieser Klischees, also um eine Diskussion gelebter Männlichkeit und (soweit empirisch ermittelbar) erlebter Väterlichkeit im Kontext gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dieser umfassende Ansatz begründet die Fülle des Materials, das Aigner vor dem Leser ausbreitet, der angesichts der Heterogenität der vorgestellten psychoanalytischen Theoreme allerdings manchmal den Eindruck gewinnen mag, Psychoanalytiker könnten alles - Gott und die Welt und auch noch alles, was dazwischenliegt - erklären. Das können sie natürlich nicht. Aber sie beherrschen als virtuelle Gemeinschaft virtuos die Kunst, das Begriffsklavier so zu spielen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Und am Ende sieht und hört man dann nur noch das, was einem vorgespielt worden ist. Der mentalen Hygiene ist es deshalb sehr bekömmlich, wenn ein Autor Schneisen ins Dickicht des Begriffsdschungels schlägt. Und das macht Aigner, der das Netz der Geschlechterbeziehungen, die als „private“ Beziehungen erlebt werden, zwischen den harten Pflöcken der öffentlichen Welt ausspannt. Und so finden sich Väter und Mütter, Eltern und Kinder unter den Bedingungen, die von der Arbeitswelt diktiert werden, wieder in einer Welt aus ökonomischen Interessen. Und so werden die Wege erkennbar, die von den Vater- und Männerbildern der frühkapitalistischen Gesellschaft zu den Bildern des „fernen“, des „fehlenden“ oder auch des „neuen“ Vaters führen, die im Zeitalter von Globalisierung und Individualisierung entstanden sind. Auf diesem Weg von der „patriarchalen“ zur „vaterlosen“ und gar zur „elternlosen“ Familie begegnet uns all das, was wir schon einmal wussten, dann aber wieder vergessen haben: Freuds Vater und das Vaterbild seiner Tochter Anna; Karen Horney, Melanie Kleins und Winnicotts theoretische Missachtung des Vaters; C. G. Jungs Archetypenlehre; Lacans „dritte“ und „vierte“ Position; Gérard Mendels Vaterimago als Institution; und einiges mehr. Die geläufigen psychoanalytischen Auffassungen vom ödipalen und vom - inzwischen bedeutsamer erscheinenden - präödipalen Vater werden dabei vor allem im Hinblick auf die Sozialisation und Psychogenese der Söhne erörtert. Denn das übergreifende Anliegen des Buches besteht im Aufzeigen des komplexen Bedingungsgeflechts, das zur Entstehung rechtsextremer Gewalt bei Jugendlichen führt – und in der Suche nach alternativen Bedingungen. Aigner schlussfolgert: „Es scheint, als hätten wir mit der stärkeren Gewichtung des ‚negativ’-ödipalen (Freud) bzw. des dyadischen, gleichgeschlechtlichen Geschehens (Blos) zwischen Vater und Sohn sowie mit der stärkeren Berücksichtigung des Paradigmas der intersubjektiven Anerkennung (Benjamin) genügend theoretisches Instrumentarium bereit, mit dem die Bedeutung der frühen und frühesten Vatererfahrung in ein neues Licht gerückt werden kann.“ Es bedarf allerdings mehr, soll mehr als ein Wunsch nach einem alternativen Vater(bild) entstehen: „Aus der fundamentalen Kritik der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und ihrer herrschaftsbedingten Aufteilung zwischen den Geschlechtern folgt aber auch, dass es einer sozialpolitischen Wende bedürfte, wollte man männliche Kinder schrittweise zu anderen Söhnen und letztlich zu anderen Vätern hin sozialisieren.“ Solange diese Wende ausbleibt, bleibt es beim konstatierten Mangel und bei den aus diesem Mangel resultierenden Sehnsüchten. Diesem Sachverhalt kann man sich bei der Lektüre der drei lebens- und praxisnahen Portraitskizzen von Jugendlichen nähern, die früher der Skin-Szene angehörten und so endlich standfeste Männlichkeit gewinnen wollten. Ihre Antworten werden im letzten Kapitel vorgestellt – darunter die eines Automechanikers, der eine „gute Köchin“ als Mutter, drei ältere Schwestern, die ihn immer wieder körperlich „züchtigten“, und einen Vater hatte, der Alkoholiker war, für den er sich zeitlebens schämte. Inzwischen ist „Olaf“ 23 Jahre alt und selbst Vater. Von der Mutter seines Sohnes lebt er getrennt. Alles Glück dieser Welt verspricht er sich nun von seinem zweieinhalbjährigen Sohn, den er so beschreibt, als wäre er sein Zwilling: „Der Bub genügt mir, wenn er einmal älter ist, möcht` ich (...), ich mein’, er ist gleich wie ich, er steht nur auf Motorräder, so ein Biker von klein auf, und da möchte’ ich dann mit ihm einmal auf Urlaub, nach Amerika und so fahren und so richtig mit meinem Sohn auch leben.“ Ja, so sind Väter, wenn sie schwärmen. Und manchmal gehen sie ins Kino. Dann sehen sich den Film „Casablanca“ an (oder dessen Replik „Mach’s noch einmal, Sam“). Und dann schwärmen sie wieder – diesmal von einer schönen Frau. Und am Ende sind sie schon zufrieden, wenn sie das Rollfeld der Wirklichkeit mit einem guten Freund verlassen können. Bernd Nitzschke, Düsseldorf Die Rezension ist erschienen in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 5, 2001, S. 238 f. |