Marina Leitner: Ein gut gehütetes Geheimnis. Die Geschichte der psychoanalytischen Behandlungs-Technik von den Anfängen in Wien bis zur Gründung der Berliner Poliklinik im Jahr 1920. Giessen (Psychosozial-Verlag) 2001

Otto Fenichel: Probleme der psychoanalytischen Technik (hg. von Michael Giefer und Elke Mühlleitner). Giessen (Psychosozial-Verlag) 2001

Am 3. Dezember 1909 schrieb Sigmund Freud an Ludwig Binswanger, der im Sanatorium „Bellevue“ (Kreuzlingen) eine modifizierte psychoanalytische Behandlung durchgeführt hatte: „Ihre Analyse ist ... sehr wertvoll und durchaus richtig. Ihr Mangel, dass sie so unvollständig ist, wird zum Vorzug, insoferne Anfänger in Anstalten Mut bekommen können, um auch in kürzeren Behandlungszeiten praktisch bedeutsame Erfolge erzielen zu wollen. ... Die Technik ist zwar nicht die klassische, aber ich glaube selbst, in einem Falle, der durch Absencen und Delirien ausgezeichnet ist, wird man keine andere anwenden können“ (Freud, Binswanger 1992, S. 31).

Was hatte Binswanger - bei allem „Mangel“ - soviel Lob eingebracht? Nun, Binswanger hatte auf eine Behandlungstechnik zurückgegriffen, die der Methode der freien Assoziation teilweise widersprach; er hatte, anstatt passiv auf die Einfälle des Patienten zu warten, eine aktivere Behandlungsstrategie angewandt, um (bei Umgehung des Widerstands) rascher an das unbewusste Material des Patienten heranzukommen. Zu diesem Zweck hatte er die „hypnotische Technik“ (Freud 1914, S. 45) eingesetzt, mit deren Verwerfung die Psychoanalyse überhaupt erst begann. Freud rechnete die „hypnotische Beeinflussung“ neben der „direkten Suggestion“ deshalb zum „Kupfer“, mit dem man das „Gold“ (Freud 1919, S. 193) der Analyse legieren, das psychoanalytische Behandlungsverfahren modifizieren konnte. Auch als Ferenczi und Rank (1924) ein Jahrzehnt später ein aktiveres Vorgehen des Psychoanalytikers vorschlugen - wenngleich unter anderen theoretischen Prämissen als Binswanger -, bezeichnete Freud dies als ein „Abweichen von unserer >klasssichen Technik<“. Damit seien, so meinte Freud weiter, „mancherlei Gefahren verbunden“. Aber er fügte auch hinzu: „Insofern es sich hier um Fragen der Technik handelt, finde ich den Versuch der beiden Autoren, ob man es nicht zu praktischen Zwecken anders machen kann, durchaus berechtigt (Freud, Abraham 21980, S. 321).

Diese tolerante Haltung Freuds hatte sich schon in einem Vortrag bemerkbar gemacht, den er beim 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest 1918 hielt, als er das Thema der traumatischen Neurosen („Kriegsneurosen“) abhandelte. Dabei sprach Freud über die „Einsicht ..., dass die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt werden können“ (1919, S. 191). Wie auch dieses Beispiele zeigt blieb Freud, bei Eintreten für eine klare Kennzeichnung der „klassischen“ Technik (durch die Methode des freien Einfalls und die damit verbundene vergleichsweise passive Haltung des Analytikers), gegenüber störungsspezifisch bedingten Abwandlungen der psychoanalytischen Behandlungstechnik aufgeschlossen.

Diese flexible Einstellung wich nach Freuds Tod und nach der Vertreibung der Psychoanalyse aus den von den Nationalsozialisten beherrschten mitteleuropäischen Ländern einer rigideren Haltung. Psychoanalytikern im Exil erschien es nun dringlich, eine „reine“ Psychoanalyse von eklektizistischen Psychotherapieverfahren abzugrenzen - gerade weil im NS-Staat der Aufbau einer so genannten „deutschen“ Psychotherapie unter Einbeziehung der dort verbliebenen Psychoanalytiker erfolgte. Anfang der 1950er Jahre entstand so in den USA unter Federführung von Eissler (1953) und in Auseinandersetzung mit anderen Emigranten, die gleichwohl als Abweichler definiert wurden (u.a. Karen Horney, Erich Fromm und Franz Alexander, der eine besonders „aktive“ Technik propagierte), das Bild einer „klassischen“ Psychoanalyse, deren entscheidendes Merkmal nicht mehr die passiv-abwartende Haltung des Psychoanalytikers, also nicht mehr die Methode der Gewinnung des Materials, vielmehr die Art des Umgangs mit dem Material war. Nun wurde die Deutung zum Kennzeichen der „tendenzlosen Analyse“, von der Cremerius wiederum einige Jahre später meinte, sie sei eine Fiktion, einer jener „Fliegenden Holländer“ gewesen, „von denen wir einige konservieren“ (1993).

Das von Marina Leitner vorgelegte Buch zur Geschichte der psychoanalytischen Behandlungstechnik zwingt eine ganze Armada solch „Fliegender Holländer“ zur Landung auf dem Boden der historischen Tatsachen. Schon allein deshalb verdient dieses Buch Lob und Aufmerksamkeit – weil darin zahlreiche Fiktionen, Wunschträume und Dogmatismen mit Fakten konfrontiert werden, die widersprüchlicher nicht sein könnten. So erfahren wir etwa, dass es im untersuchten Zeitraum (von Freuds Zusammenarbeit mit Josef Breuer bis zur Gründung der Berliner psychoanalytischen Politklinik) zwar ein stetes Suchen und Finden, aber kein kodifiziertes Lehrbuch gab, dem man hätte entnehmen können, wie Psychoanalyse „richtig“ zu praktizieren sei. Statt dessen gab es zahlreiche Vorschläge und manche Ratschläge, von denen die wenigsten von Freud stammten. Und wenn sie von Freud stammten, dann beschrieben sie eher, was Psychoanalytiker nicht tun sollten, als das, was Psychoanalytiker tun sollten.

Nach welchen Regeln sollten Psychoanalytiker welchen Zeichen welche Bedeutungen zuordnen? Das wusste keiner so genau. Und so blieben die Antworten auf diese und andere „ein gut gehütetes Geheimnis“. Im Zweifelsfall bestimmte Freud die „richtige“ Technik. Doch eine systematische Darstellung der Deutungsregeln, legte er nicht vor. Und so ist es bis heute geblieben: Es gibt kaum Literatur, in denen die Regeln offenbart werden, denen Psychoanalytiker tatsächlich folgen, aber eine umfangreiche Literatur, in der die Regeln dargestellt werden, denen Psychoanalytiker folgen sollten. Und so ist die Psychoanalyse, was sie immer war: eine „Deutungskunst“ (Freud 1923, S. 215), deren Regeln von Kunsthandwerkern beachten werden - und in der Künstler reüssieren, die Regeln beachten, indem sie sie brechen.

In den frühen Zeiten konnte man sich die Regeln, die man beachten wollte, noch selbst geben. Damals wurde man Psychoanalytiker, indem man sich zu Freud bekannte. Ja, man musste noch nicht einmal Patienten behandelt haben. Marina Leitner zählt fast zwei Duzend Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung auf, von denen nicht bekannt ist, ob sie je Patienten analysierten. Man musste auch keine Lehranalyse absolvieren. Denn die obligatorische Lehranalyse wurde erst in den 1920er Jahren eingeführt. Allerdings konnte man sich schon zuvor von Freud analysieren lassen - wie Eitingon, der seine „Lehr“-Analyse „zweimal die Woche beim Spazieren gehen“ absolvierte; oder wie Ferenczi, der sie bei gelegentlichen Besuchen in Wien, auf gemeinsamen Ferienreisen mit Freud und im Verlauf eines umfangreichen Briefverkehrs durchlief. Man konnte aber auch auf die „Selbst“analyse vertrauen und sich das psychoanalytische Wissen nach eigenem Gusto aus der Literatur zusammensuchen. Am Ende zählten Selbstbekenntnis und Anerkennung scheinbar fundamentaler Wahrheiten mehr als begriffliche Genauigkeit. Dazu heißt es in einem Brief Freuds vom 5. Juni 1917 an Groddeck, der ein besonders „wilder“ Psychoanalytiker war: „Wer erkennt dass Übertragung und Widerstand die Drehpunkte der Behandlung sind, der gehört nun einmal rettungslos zum wilden Heer. Ob er das >Ubw< auch >Es< nennt, macht keinen Unterschied.“

Dieses laxe Verhältnis von Chaos und Regel sollte sich – wie schon gesagt – nach Freuds Tod ändern. Es kam zu einer zunehmend stärkeren Reglementierung. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren, also schon vor Freuds Tod, bemühte man sich um Vereinheitlichung der Theorie und Praxis der Psychoanalyse mit Hilfe der psychoanalytischen Ich-Psychologie. Als richtungsweisende Autoren wären hier etwa Wilhelm Reich (der die Widerstands- und Charakteranalyse systematisierte), Anna Freud (die eine Systematik der Abwehrmechanismen vorlegte) oder Heinz Hartmann (der den wissenschaftslogischen Status der Psychoanalyse zu klären versuchte) zu nennen. Auch Otto Fenichel, Polyhistor seiner Zeit, gehört in diese Reihe. Sein Buch „Probleme der psychoanalytischen Technik“, das auf fünf Vorlesungen zurückgeht, die er zwischen Oktober und Dezember 1936 am Wiener Psychoanalytischen Institut gehalten hat, ist nun endlich auch auf deutsch erschienen (eine englische Ausgabe gibt es seit 1941). Den Herausgebern, Michael Giefer (der die „Einleitung“ verfasst hat) und Elke Mühlleitner (die einen kurzen Beitrag „Zur Biographie von Otto Fenichel“ 1897-1948“ beigesteuert hat), ist für diese längst fällige und in sorgfältiger Gestaltung erschienene Ausgabe zu danken.

Fenichels systematisiert in diesem Buch das triebpsychologische wie ich-psychologische Wissen seiner Zeit und leitet daraus eine Theorie der psychoanalytischen Behandlungstechnik ab. Nach seinen eigenen Worten sucht er einen Weg zwischen „der Skylla des Redens statt Erlebens“ (auf Seiten des Patienten wie des Therapeuten) und „der Charybdis des Unsystematischen“ (der methodisch nicht ausgewiesenen Deutung des Materials). Erweitert könnte man auch sagen, Fenichel zeigt in seinen Vorträgen einen gangbaren Weg zwischen dem Zwang (der Skylla intellektualisierenden Deutens) und dem Chaos (der Charybdis intuitiven Bescheidwissens) auf. Er legt eine praxisbezogene Theorie der psychoanalytischen Behandlungstechnik, die er vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Literatur diskutiert. Und da er seine Vorträge auch verschickt und darauf von mehreren Kollegen Erwiderungen erheilt, auf die er wiederum einging, lässt sich nun auch diese Diskussion in einem Kapitel verfolgen.

Von den übrigen Beigaben zum vorliegenden Band greife ich abschließend nur noch Fenichels Stellungnahme zu einem in Chicago 1942 anberaumten Treffen von Lehranalytikern heraus, die unter dem Titel „Überlegungen zur Einheit der psychoanalytischen Bewegung“ nachzulesen ist. Fenichel geht darin von der „Gefahr einer Spaltung der American Psychoanalytic Association“ aus, bekämpft dann „die neueren Versuche, Freuds Grundannahen zu widerlegen“, und endet schließlich bei der Aufstellung von Verboten und der Forderung nach Reglementierung im Namen der reinen Freudschen Lehre: „Ich weiß, dass unter gegenwärtigen Umständen eine Annahme dieser Vorschläge die Gefahr einer Spaltung innerhalb der American Psychoanalytic Association mit sich bringen würde, Ich bin aber der Meinung, dass diese Gefahr durch Kompromisse nicht vermieden werden kann.“

Und die Ironie der Geschichte? – Sie besteht darin: Im Sommer 1936, kurz bevor Fenichel seine Vorträge über Psychoanalyse in Wien zu halten begann, hatte er selbst noch in einem seiner „Rundbriefe“ an die mit ihm verbündeten Linksfreudianer geschrieben: „Man vergesse nicht, wie unangenehm es wäre, wenn solche Rundbriefe in unberufene Hände fielen! Ich habe im allerersten Rundbrief darum gebeten, diese nach Lektüre zu verbrennen. Wer das tun will, hebe sie wenigstens so sorgfältig auf, dass sie niemand Unberufener zu Gesucht bekommen kann!“ (1998, S. 353). Zu diesen „Unberufenen“ gehörten auch jene Funktionäre der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), die mit ihren deutschen Verbündeten (Felix Boehm und Müller-Braunschweig) den Kompromisskurs gegenüber dem NS-Regime abgesprochen hatten, gegen den Fenichels langjähriger Kampfgefährte Wilhelm Reich protestiert hatte. Reich war deshalb 1934 aus der IPV ausgeschlossen worden, während Fenichel damals kompromissbereit blieb, um die Einheit der psychoanalytischen Bewegung zu „retten“ (vgl. Fallend, Nitzschke 1997). Und nun, ein knappes Jahrzehnt später, forderte Fenichel, der als Linksfreudianer jahrelang selbst Angst haben musste, aus der IPV ausgeschlossen zu werden, den kompromisslosen Kampf: gegen Andersdenkens. Und das geschah wieder - im Namen der „reinen“ Lehre.

Literatur

Cremerius, J. (1993). Die tendenzlose Analyse hat es nie gegeben, sie ist einer jener „Fliegenden Holländer“, von denen wir einige konservieren. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin 39, S. 215-218.

Eissler, K. R. (1953). The effect of the structure of the ego on psychoanalytic technique. J. Am. Psychoanal. Ass. 1, p. 104-143.

Fallend, K., Nitzschke, B. (Hg.) (1997). Der >Fall< Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).

Fenichel, O. (1998). 119 Rundbriefe, Bd. 1. Frankfurt a. M. / Basel (Stroemfeld).

Ferenczi, S., Rank, O. (1924). Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Leipzig / Wien / Zürich (Int. Psa. Verlag).

Freud, S. (1914). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X, S. 43-113.

Freud, S. (1919). Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII, S. 183-194.

Freud, S. (1923): „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“. GW XIII, S. 211–233.

Freud, S., Abraham, K. (1965). Briefe 1907-1926 (hg. von H. C. Abraham und E. L. Freud). Frankfurt a. M. (Fischer), 21980.

Freud, S., Binswanger, L. (1992). Briefwechsel 1908-1938 (hg. von G. Fichtner). Frankfurt a. M. (Fischer).

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: Psychologie und Geschichte 9, 2001, S. 178-183