Till Bastian: Kinder brauchen böse Eltern. Erziehung zur Selbständigkeit. München (Knaur) 2001

Wer Kinder hat, der weiß es: Nichts ist anstrengender als allzeit eine ‘gute’ Mutter oder ein allseits ‘guter’ Vater zu sein. Aber warum sollte man sich nicht wenigstens hier drinnen, an diesem Ort, in dieser Familie, um Harmonie bemühen, wenn doch die Welt dort draußen ganz und gar unfriedlich geworden ist? Diese Sicht der Welt ist falsch – soweit es in unserer Gesellschaft um Gewaltdelikte an Kindern geht. Drei von vier offensiven Gewalttaten gegen Kinder geschehen in der Familie, ganz zu schweigen von alltäglichen Bestrafungen und Demütigungen, die nicht polizeibekannt werden. Bei Tötungsdelikten wird derzeit in knapp der Hälfte aller Fälle gegen die Mutter, in 18 Prozent gegen den Vater, in 11 Prozent gegen Bekannte und in 4 Prozent gegen Geschwister ermittelt (in 17 Prozent der Fälle bleibt der Täter unbekannt). Nur in etwa 4 Prozent von Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch wird nicht gegen Beziehungsstraftäter, sondern gegen Fremdtäter ermittelt. Das sind dann die Fälle, in denen in den Medien das Bild der heilen Familie beschworen wird, in die das Unheil von außen eingebrochen ist.

Von Innen bricht das Unheil in die Familie oft gerade deshalb ein, weil sich Eltern und Kinder besonders krampfhaft darum bemühen, es draußen zu halten. Das klingt paradox – und ist doch nachvollziehbar: „Gemütlichkeit, Ordnung und Harmonie stehen ... ganz oben in der Skala der sozialen Werte. Sie sind allerdings durch Konflikte und andere Störungen leicht zu beeinträchtigen und müssen, da ständig bedroht, mit rigiden Mitteln verteidigt, gegebenenfalls durchgesetzt werden.“ Das ist einer der Gründe, die Till Bastian anführt, um deutlich zu machen, wie schnell ‘gute’ Eltern böse werden können. Und da das so ist, bricht Bastian in seinem Buch nicht den Stab über, sondern eine Lanze für ‘böse’ Eltern. Damit ist nicht gemeint, Eltern sollten ihre Kinder nun guten Gewissens malträtieren, sondern: Eltern sollten ihren Wunsch nach Harmonie, hinter dem sich nur zu oft der Wunsch verbirgt, von den Kindern allumfassend und dauerhaft geliebt zu werden, Grenzen setzen. Dann können sie auch ihren Kindern Grenzen setzen. Das ist dann die Kraft, die ‘Böses’ will und Gutes schafft, nämlich: dass Konflikte, die ohnehin vorhanden sind, nun offen angesprochen und ausgetragen werden können. Nur dann können Kinder von Eltern und Eltern von Kindern lernen, wenn sie sich nicht gegenseitig dazu verpflichten, Harmonie vorzugaukeln, wo Interessenkonflikte bestehen, die – bestenfalls – zu Kompromissen führen können. Dass ist das Anliegen des Buches von Till Bastian: Er will Eltern die Angst vor unvermeidbaren Konflikten nehmen. Er will sie ermutigen, Erziehung als Konfliktbewältigungstraining aufzufassen. Zugegeben – da wird das Zuckerbild der heilen Familie zerstört, da geht ein Stück Romantik verloren. Doch es gibt auch einen Gewinn, den beide Konfliktparteien, Eltern und Kinder, verbuchen können: einen Zuwachs an innerer und äußerer Freiheit nämlich.

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Die Rezension ist erschienen in: Universitas 57, 2002, S. 541 f.