Günter Gödde: Mathilde
Freud. Die älteste Tochter Sigmund Freuds in Briefen und
Selbstzeugnissen. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2003 Sibylle Volkmann-Raue, Helmut E. Lück (Hg.): Bedeutende
Psychologinnen. Biographien und Schriften. Weinheim (Beltz) 2002 Sabina Spielrein: Tagebuch und
Briefe. Die Frau zwischen Jung und Freud (hg. von Traute Hensch). Gießen
(Psychosozial-Verlag) 2003 Aus Günther Göddes Abhandlung über Mathilde Freud ist ein Buch geworden, wie es widersprüchlicher nicht sein könnte: Vorn, auf dem Umschlag, ist ein Halbportrait (oder sollte ich besser sagen: ein gehälftetes Portrait?) der ältesten Tochter Sigmund Freuds zu sehen – und drinnen, im Buch, spielt der Vater eine Rolle als bessere Hälfte. Im „Dokumentarischen Anhang“ sind knapp sechzig „Briefe“ (und Postkarten) der Tochter versteckt, die sie zwischen 1903 und 1910 an den zwei Jahre älteren Eugen Pachmayr schrieb, den sie als 13jährige bei einem Familienurlaub am Thumsee (Bad Reichenhall) kennen gelernt hatte. Außerdem sind dort „Selbstzeugnisse“ nachzulesen, womit ein „Concert- und Theater-Merkbüchlein“ – beziehungsweise ein „Haushaltungsbuch für den Geist und das ideale Leben“ – gemeint ist, in das Mathilde von 1899 bis 1909 stichpunktartig Kunst- und Bildungserlebnisse notierte. So wissen wir nun, dass sie Gustav Kadelburgs In Zivil „furchtbar lustig“, Gustav Kadelburgs Familientag hingegen „riesig lustig“ fand. Den Hauptteil des Buches aber macht ein über 200 Seiten langer Schriftsatz aus (oder sollte ich besser sagen: eine Einleitung zum Anhang?), der Göddes Belesenheit unter Beweis und alles in den Schatten stellt, worüber er sonst noch schreibt: zum Beispiel über Mathilde Freud. Deren Geburtsdatum (16. Oktober 1887) wird in einer dem Anhang vorauseilenden „Zeittafel“ an siebter Stelle erwähnt. Die sechs Einträge zuvor betreffen in erster Linie den Vater. Nun gut, es hätte auch schlimmer kommen können: die „Zeittafel“ hätte bei Adam und Eva beginnen können. In rororo-Bildbiographien beginnt sie beispielhaft – mit dem Geburtstag der Portraitierten. Dadurch wird deren Zentralität unterstrichen. Bei Gödde setzt sich hingegen „die Definitionsmacht des pater familias in der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit durch“, wie er an einer Stelle schreibt, an der er Freuds patriarchale Attitüde gegenüber der Tochter kritisiert, ohne zu bemerken, wie oft er sie selbst kopiert. Die Tochter ist auch für ihn oft Vor-Wand. Dahinter verbirgt sich sein Interesse, Mathildes Jugend-Briefe als „neue historische Quelle für die Freud-Forschung“ zu erschließen. Dieser Vor-Satz misslingt jedoch. Denn die posierlichen Schriftstücke offenbaren zwar viel vom jugendlichen in Ironie verpackten Weltschmerz der Tochter, aber wenig über den Vater. Der sah Mathilde als „chronisch Invalide, die sich wunderbar normal verhält“ – und sie gab ihm auf ihre Weise recht: von allen Freud-Kindern lebte sie am längsten. Bis zur Aufbereitung durch Gödde lagerten Mathildes Briefe im Haus der Nachkommen der Familie Pachmayr am Thumsee, in dem das Ehepaar Freud vor hundert Jahren mit seinen Kindern Urlaub gemacht hat. Im Anschluss daran dankten Oliver, Ernst, Sophie und Anna Freud Eugen für all „die guten Sachen, die Du uns geschickt hast“. Und „Thilde“ fügte diesem Brief vom 12. September 1903 die Bemerkung hinzu, die Sachen hätten „allseitig ausgezeichnet geschmeckt“. Als einziges der Freud-Kinder siezt sie (an dieser Stelle und in allen folgenden Briefen) Eugen. Das gehörte sich so für eine gut erzogene junge Dame – auch wenn sie erst 13 Jahre alt war. Eugen benimmt sich ebenfalls korrekt. Bisweilen verhält er sich gar zu reserviert, so dass Mathilde ihn drängen muss, rascher und häufiger zu antworten. Ähnliche Klagelieder sind aus der Korrespondenz ihres Vaters mit Wilhelm Fließ bekannt. Der Wunsch, im Briefpartner ein alter ego zu finden, ist denn auch hier (bei der Tochter) wie dort (beim Vater) zu spüren. Im Laufe der Zeit finden Mathilde und Eugen dann zunehmend Halt aneinander. Schon im dritten Brief (vom 28. September 1903) berichtet sie von ihrer großen Liebe – zum Wiener „Centralfriedhof“, den sie „wunderschön“ findet, aber leider nicht öfter und als Mädchen schon gar nicht allein besuchen kann. Er vertraut ihr daraufhin kleine Geheimnisse an – soll heißen: alterstypische Kümmernisse, zum Beispiel Schüchternheit. Und sie gesteht ihm weitere Leidenschaften, zum Beispiel Tanzen oder Tennisspielen. Im Frühjahr 1907 besucht Eugen sie; er kommt im „Hotel“ Freud unter. 1908, kurz vor ihrer Verlobung mit Robert Hollitscher, den sie zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren kennt, erwidert Mathilde den Besuch. Sie kommt nach München, wo Eugen zuhause ist. Den letzten (erhaltenen) Brief schreibt sie ihm aus einem „Sanatorium, wo ich zur Abwechslung wieder einmal operiert worden bin“ (16. April 1910). Eugen ist jetzt mit Regine Steinhaus verlobt, die er (mindestens) seit Sommer 1908 kennt. Sie stammt aus einer in Wien ansässigen jüdischen Familie. 1913 heiraten die beiden. Zu diesem Anlass erhalten sie Post aus San Martino di Castrozza: Freuds Ehefrau Martha übermittelt die „herzlichsten Glückwünsche“. Und damit ließe sich der Kreis schließen, der von einem Urlaubsort (in den Alpen 1903) bis zum anderen Urlaubsort (in den Dolomiten (1910), beziehungsweise vom „Centralfriedhof“ bis zum „Sanatorium“ reicht, gäbe es da nicht noch eine Bemerkung, die nach einem Kommentar verlangt. Gödde schreibt: „Legt man allein die Jugendbriefe Mathildes zugrunde, so kann man schwerlich beurteilen, wie weit ihre auf Eugen bezogenen Liebesgefühle und Heiratsphantasien gingen.“ Richtig! Ich will dennoch ein Urteil wagen: Von „Liebesgefühlen“ in Bezug auf Eugen ist, im herkömmlichen (erotischen) Sinn verstanden, in Mathildes Briefen keine Rede. Gut, ich weiß, es gilt (unter Psychoanalytikern als ausgemacht), dass es sie doch irgendwo (im Unbewussten?!) und irgendwie (abgewehrt?!) gegeben haben muss. In den Briefen sind auch keine „Heiratsphantasien“ in Bezug auf Eugen zu finden. Das ist aber wiederum kein Grund, an deren Existenz zu zweifeln. Sie könnten ja irgendwie durch irgendwen überliefert worden sein. Richtig! Gödde weiß vom Hörensagen, nämlich von einem Neffen Mathildes (Anton Walter Freud), ja sogar von Eugen Pachmayrs Söhnen aus der (geschiedenen) Ehe mit Regine, die es ihrerseits gehört haben: Mathilde Freud wollte Eugen Pachmayr heiraten! Dieser Plan scheiterte – am Einspruch des Vaters. Das nennt man „oral history“ – und damit ist der Vor-Satz eingelöst, mit Hilfe der Analyse der Briefe der Tochter einen gewichtigen Beitrag zur Forschungsliteratur über den Vater geliefert zu haben. Doch schon Freud wusste, dass sich in mündlicher Überlieferung Fakten und Fiktionen in recht wunderlicher Weise mischen, so dass sie, wenn überhaupt, nur unter Mühen voneinander zu trennen wären. Was aber hat Freud nicht alles für seine Älteste getan! Lesen wir weiter bei Gödde: „Wenn sich Sigmund Freud gegen Eugen Pachmayr als künftigen Schwiegersohn ausgesprochen hat, so lag das maßgeblich daran, dass dieser kein Jude war. Der Kontakt zu Nichtjuden war für die Freuds als typisch jüdischer Familie die große Ausnahme und entwickelte sich erst im Rahmen der expandierenden psychoanalytischen Bewegung.“ Nun gut: Wann war C. G. Jung erstmals bei Freud zu Gast? Wann kam Eugen Pachmayr nach Wien? Und was heißt hier überhaupt „typisch jüdisch“? Liegt dieser Phrase eine „typisch deutsche“ Phantasie zugrunde? Oder – um die Frage ironisch noch einmal zu stellen: Warum sollte Freud, der assimilierte Jude, der im Urlaub so gern Trachtenanzüge trug, dem Gedanken abgeneigt gewesen sein, seine Tochter könnte künftig Pachmayr heißen? Warum
also hatte Vater Freud nicht interveniert, als seine Tochter den
angeblich künftigen und angeblich so unerwünschten nicht-jüdischen
Schwiegersohn in der Berggasse einquartierte? Verfolgte er schon damals
eine Strategie von „shock and awe“?
Der Erfolg hätte ihm Recht gegeben. Nach der Abreise schrieb Mathilde
an Eugen: „Lieber Freund, Sie sind ein ganz merkwürdiger Kauz
(...).“ Gelegentlich sorgte sich Mathilde auch, „nicht schön genug zu sein und darum keinem Mann zu gefallen“, wie es in einem Brief des Vaters (vom 26. 3. 1908) an die Tochter heißt, in dem er sie mit den Worten zu trösten versucht: „Der Spiegel wird Dich belehren, daß nichts Gemeines oder Abschreckendes in Deinen Zügen liegt, und Deine Erinnerung wird Dir bestätigen, daß Du Dir noch in jedem Kreis von Menschen Respekt und Einfluß erobert hast.“ So war es wohl auch im Wald von Lavarone, in dem Mathilde 1906 einem schneidigen Infanterieoffizier begegnete. Der sah das Mädel und setzte alle Armeeregeln außer Kraft, als er „seine Männer rasch in Hab-Acht-Stellung rief und ‚Augen rechts’ kommandierte, als der Zug an ihr vorbeikam“. So steht es im Erinnerungsbuch ihres Bruders (Martin Freud: „Mein Vater Sigmund Freud“, 1999), in dem es weiter heißt, Vater Freud habe den „jungen Offizier“ (den er zuvor hoffentlich nach seiner Religions- und Volkszugehörigkeit gefragt hatte!) zu „gemeinsamen Mahlzeiten ins Hotel du Lac“ eingeladen, wo die Familie in jenem Jahr Urlaub machte. Sigmund Freud war bisweilen also ein origineller Vater. Göddes Nacherzählung bekannter Fakten und Fiktionen aus der Freud-Biographik ist hingegen auf weiten Strecken konventionell. So wiederholt er – zum Beispiel – noch einmal die (längst widerlegte) Mär, Freud habe 1885 die Gesellschaft der Ärzte in Wien mit der Neuigkeit geschockt, Hysterie gebe es auch bei Männern. Freud sei deshalb „bei den lokalen Autoritäten auf Skepsis und Ablehnung“ gestoßen – schreibt Gödde. Die Wiener Ärzte, in deren Kliniken damals längst Fälle von männlicher Hysterie behandelt und beschrieben worden waren, hatten Freud jedoch vor allem vorgeworfen, er habe wenig Neues berichtet. Die Methode, Altbekanntes neu zu verpacken, beherrscht auch Gödde. So lesen wir bei ihm über Freuds Praxiseröffnung beispielsweise: „Im April 1886 gab er in den Tageszeitungen und medizinischen Zeitschriften die Eröffnung seiner Privatpraxis bekannt. Die Anzeige lautete: ‚Dr. Sigmund Freud, Dozent für Neuropathologie an der Universität Wien, ist von einem sechsmonatigen Aufenthalt in Paris zurückgekehrt und ordiniert jetzt Rathausstraße 7’.“ Dankenswerterweise teilt Gödde in einer Anmerkung auch noch mit, wo die Original-Formulierung zu finden ist: in der Freud-Biographie von Jones (1962, Bd. 1, S. 175). Anders als Gödde nennt Jones an dieser Stelle aber auch noch wenigstens eine der „Tageszeitungen“, in denen Freuds „Anzeige“ erschienen sein soll. Für das Inserat in der Neue Freie Presse habe Freud „20 Gulden“ bezahlt – behauptet Jones. Unter dem Datum vom 24. April 1886 ist dort in der Rubrik „Kleine Chronik“ jedoch nur eine (kostenpflichtige?) Nachricht zu lesen. Sie lautet: „Herr Dr. Sigmund Freud, Docent für Nervenkrankheiten an der Universität, ist von seiner Studienreise nach Paris und Berlin zurückgekehrt und ordinirt I., Rathausstraße Nr. 7, von 1 bis 2 ½ Uhr.“ Sehr ähnlich klingt die Meldung, die in den „medizinischen Zeitschriften“ erschienen ist – sprich: in der Wiener Medizinischen Wochenschrift (Bd. 36, S. 666). Aus diesen beiden Meldungen hat Jones (wahrscheinlich) die eine (oben zitierte) „Anzeige“ kombiniert, deren Text Gödde als unhinterfragte Tatsache weitergibt – Traditionspflege, wie sie für eine bestimmte Art von Freud-Literatur symptomatisch ist. Zuletzt gibt Gödde auch noch eine Antwort auf die „zentrale Frage“ seines Buches, nämlich „inwieweit dieses Frauenschicksal für viele Frauen ihrer (Mathildes – B. N.) Zeit repräsentativ sein musste“. Viele Frauen – welche Frauen? Gödde beantwortet auch diese Frage so, wie er sie gestellt hat: suggestiv. Mathilde Freud sei nach dem „Höhere-Töchter-Modell“ erzogen worden. Deshalb sei sie das Opfer der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung geworden, „wie sie für das jüdische Bürgertum der Jahrhundertwende typisch war“. Deshalb habe sie keine Berufsausbildung erhalten. Deshalb habe sie kein Studium absolviert. Deshalb habe sie nicht „an einer Frauengruppe“ teilgenommen. Arme Mathilde! Noch nicht einmal unter ihresgleichen konnte sie sich vom Einfluss des Vaters befreien. Im Text des Buches hatte Gödde diesem Fazit seiner Untersuchung allerdings schon widersprochen, als er eine Äußerung Mathildes zitierte, in der sie darlegt, sie sei durch vielfältige Erkrankungen gehindert worden, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Von „einer Frauengruppe“ spricht sie an dieser Stelle erst gar nicht. Stattdessen wurde sie Teilhaberin eines Modegeschäfts in Wien und – später, nach ihrer Emigration – in London. Schließlich gab sie die Briefe ihres Vaters mit heraus. Charlotte E. Haver belegt in ihrem Aufsatz über „Bildung und Identität bei Töchtern aus jüdischem Haus“ (jener Generation, der auch Mathilde Freud angehörte), dass Herkunft und Anatomie zwar „Schicksal“ sind, den Lebenslauf aber nicht „schicksalhaft“ festlegen können. Der Aufsatz ist in einem von Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück herausgegebenen Band über „Bedeutende Psychologinnen“ erschienen, den ich als glanzvolle Einführung in die Psychologiegeschichte empfehlen möchte. Die darin enthaltenen „un“-typischen Biographien von 18 Frauen (darunter 13 jüdischer Herkunft), von denen jede auf ihre Art einen herausragenden Beitrag zur Psychologie des 20. Jahrhunderts geleistet hat, sind spannend zu lesen. Sie sind (nach dem Geburtsdatum der portraitierten Frauen chronologisch geordnet) in drei Gruppen eingeteilt: 1. Psychoanalytikerinnen (Lou Andreas-Salomé, Melanie Klein, Helene Deutsch, Karen Horney, Anna Freud, Marie Langer); 2. Kinder- und Sozialpsychologinnen (Clara Stern, Rosa Katz, Martha Muchow Charlotte Bühler, Bärbel Inhelder, Franziska Baumgarten, Marie Jahoda, Else Frenkel-Brunswik); 3. Schülerinnen und Mitarbeiterinnen Kurt Lewins (Tamara Dembo, Anitra Karsten, Bljuma Zeigarnik). Einige dieser Frauen wurden im zaristischen Russland geboren. Dort galt Ende des 19. Jahrhunderts für jüdische Studenten ein besonderer Numerus clausus – und Frauen waren überhaupt noch nicht zum Studium zugelassen. Sie mussten deshalb, wenn sie studieren wollten, ins Ausland gehen, zum Beispiel ins deutsche Kaiserreich. Dort waren Anfang des 20. Jahrhunderts 12 % aller Abiturientinnen und 14 % aller Studentinnen Jüdinnen (bei knapp 1 % jüdischem Bevölkerungsanteil und ohne Berücksichtigung von Töchtern jüdischer Herkunft aus getauften Familien). Ich wähle im folgenden drei Lebensläufe aus, die exemplarische zeigen, dass Frauen-„Schicksale“ nicht nur mit Vater und Mutter, sondern auch mit Politik und Gesellschaft zu tun haben: Marie Langer (portraitiert von Ingeborg Fulde); Marie Jahoda (portraitiert von Brigitte Bauer); Sabina Spielrein (portraitiert von Sibylle Volkmann-Raue). Marie Langer (1910-1987) absolvierte ihre psychoanalytische Ausbildung in Wien. Richard Sterba, ihr Lehranalytiker, musste sich Anfang der 1930er Jahre schützend vor sie stellen, als Vertreter der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung versuchten, sie wegen Teilnahme am politischen Widerstand (sie gehörte der Kommunistischen Partei an und war verhaftet worden) von der Ausbildung am Wiener Institut auszuschließen. Kurze Zeit später ging Marie Langer mit ihrem Mann nach Spanien, wo sie in der Sanitätsgruppe der 15. Internationalen Brigade am Kampf gegen die Franco-Faschisten teilnahmen. 1938 emigrierten sie nach Südamerika. Dort wurde Marie Langers medizinisches Examen 1959 endlich anerkannt. Im selben Jahr wählte man sie zur Präsidentin der Ascciación Psicoanalitica Argentina (einer IPV-Zweigvereinigung). Zwölf Jahre später hielt sie beim 27. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Wien, ihrer alten Heimatstadt, an die sie entsprechende Erinnerungen hatte, einen Vortrag: „Psychoanalyse und/oder soziale Revolution“. Das war ihre Abschiedsrede. Sie trat aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus, deren politische „Abstinenz“ sie nicht länger ertragen konnte. Da sie auf der Todesliste der AAA (antikommunistischen Allianz Argentiniens, eine paramilitärische Mordorganisation) stand, musste sie Argentinien verlassen. Sie ging nach Mexiko. Als Pionieren von medico international unterstützte sie den Aufbau psychiatrischer Institutionen in Nicaragua, als die von den USA finanzierten „Contras“ die dortige demokratisch gewählte Regierung bekämpften. Die politisch engagierte Ärztin, Psychoanalytikerin und Mutter von vier Kindern, die aus einer assimilierten jüdischen Bürgerfamilie Wiens stammte, starb nach ihrer Rückkehr 1987 in Buenos Aires. Auch
die Eltern von Marie Jahoda (1907-2001)
gehörten dem assimilierten jüdischen Bürgertum Wiens an. Politisch
wurde sie im „Roten Wien“ der 1920er Jahre sozialisiert. Zunächst
war sie Volksschullehrerin, später studierte sie Psychologie. Sie
promovierte bei Charlotte Bühler, die „ein Gutteil meiner
Dissertation in einem ihrer Bücher“ veröffentlichte, versehen „mit
einer kleinen Fußnote, in der sie einräumte, dass ich irgend etwas
damit zu tun hatte“, wie Marie Jahoda schrieb, als sie längst berühmt
war. Dazu hatte die gemeinsam mit Paul Lazarsfeld, ihrem Mann, und Hans
Zeisel verfasste Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933)
wesentlich beigetragen, in der im sozialen Feld quantitative und
qualitative Forschungsmethoden in neuartiger Weise kombiniert und
erprobt worden waren. Über die politische Relevanz dieser Studie
bemerkte Marie Jahoda rückblickend: „Es war damals eine große
Debatte in der Sozialdemokratie, ob lange Arbeitslosigkeit zu Revolution
führt, daher hat man unsere Arbeit so begrüßt. Von Marienthal (einem
kleinen Ort südöstlich von Wien, in dem nach Schließung der
Textilfabrik mehr als 1.000 Menschen plötzlich arbeitslos geworden
waren – B. N.) haben wir gelernt, dass aus materiellem Elend kein Weg
zu fortschrittlichem Denken führt, vielmehr mündet es in
Resignation.“ 1936 wurde Marie Jahoda wegen Unterstützung der
„Revolutionären Sozialisten“ verhaftet und unter Aberkennung der österreichischen
Staatsbürgerschaft des Landes verwiesen. Sie emigrierte über England
in die USA, wo sie von 1945 bis 1948 an Max Horkheimers Projekt
„Autorität und Familie“ mitarbeitete. Ihre akademische Karriere
setzte sie –
vielfach geehrt – später in
Großbritannien fort, wo sie an der University of Sussex eine
sozialpsychologische Abteilung aufbaute. Sabina Spielrein (1885-1942), die zeitweise mit Bleuler, Jung, Freud und Piaget zusammengearbeitet hatte, setzte ihre in der Schweiz begonnene wissenschaftliche Karriere in Russland fort. Dort beteiligte sie sich Anfang der 1920er Jahre am Aufbau der psychoanalytischen Institutionen in Moskau. Nachdem die Psychoanalyse unter Stalin verboten worden war, geriet Sabina Spielrein zunehmend in Isolation. Als Jüdin wurde sie 1942, nach dem Einmarsch deutscher Truppen, gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in ihrer Heimatstadt Rostow am Don ermordet. Sie und ihr Werk gerieten in Vergessenheit – bis man ihre in Genf hinterlassenen Briefe und Tagebücher entdeckte, die Aldo Carotenuto veröffentlichte. Nun machte sie erneut – diesmal unfreiwillig als „Frau zwischen Jung und Freud“ – Karriere. Dabei geriet ihr wissenschaftlich-psychoanalytisches Werk abermals in den Hintergrund. Denn im Blickpunkt des Interesses (zahlreicher Abhandlungen, Romane, Theaterstücke und Filme) stand nun die Liebesbeziehung mit C. G. Jung, die skandalträchtig aufbereitet wurde. Sibylle Volkmann-Raue hat solchen Aufbereitungen ein nüchternes und detailgenaues Portrait entgegengesetzt. Sabina Spielrein erhält dabei das letzte Wort in eigenen Angelegenheiten. So werden ihre Liebe zu Jung wie ihre wissenschaftlichen Anschauungen wieder der Spekulation entzogen: Sabina Spielrein hat den Tod ins Zentrum der Liebe gerückt und den Sexus als Zwillingsbruder des Todes angesehen, während Freud den Eros als Widerpart des Todes aufgefasst hat. Also hat sie Freuds Todestrieb-Theorie nicht vorweggenommen, vielmehr eine eigenständige Theorie (in die ihre Lebenserfahrungen eingingen) entworfen. Die einschlägigen Diskussionen um Sabina Spielrein als „Frau zwischen Jung und Freud“ begannen mit der Publikation der Briefe und Tagebücher durch Carotenuto (italienische Ausgabe 1980). Dessen Aufsatz „Tagebuch einer heimlichen Symmetrie“, der in die erste deutsche Ausgabe (von 1986) übernommen worden ist, stellt die Kollusion zwischen Spielrein und Jung sowie Freuds Ratschläge zum Umgang mit der Übertragungs- und Gegenübertragungsliebe ausführlich dar. Außerdem enthielt der Band eine kurze Einleitung („Ein Fund“), in der Carotenuto Hinweise auf die Herkunft der Materialien gab. Beide Texte sind in der zweiten, von Traute Hensch besorgten Ausgabe nicht mehr enthalten (sie wurden ohne Hinweis auf die Auslassung gestrichen). Und deshalb hängt das Vorwort, das Johannes Cremerius für die erste Ausgabe schrieb und das in die zweite aufgenommen worden ist, nun beziehungslos in der Luft, soweit Cremerius darin auf Carotenuto eingeht, dessen Auffassung, zwischen Spielrein und Jung sei es zu einer leidenschaftlichen Verliebtheit, aber nicht zu sexuellen Kontakten (im engsten Sinne verstanden) gekommen, Cremerius vorsichtig („Die vorliegenden Briefe lassen alles offen“) widersprach. Das war der Ausgangspunkt für die kaum mehr überschaubare Flut von Publikationen, in denen nun C. G. Jung als Verführer, Freud als Verharmloser (der Taten Jungs) und Sabina Spielrein als hilfloses Opfer (der beiden Männer) dargestellt wurden. Anhand der Briefe und Tagebuch-Dokumente konnte sich dennoch jede/r ein eigenes – und gegebenenfalls anderes – Bild machen. Das ist mit Hilfe der Neuausgabe des Bandes noch immer möglich, zumal dieser Band ein neues Nachwort enthält, verfasst von Zvi Lothane, der die Beziehung Spielrein-Jung-Freud differenziert darstellt und zu einem ebenso ausgewogenen, allen Beteiligten gerecht werdenden Urteil kommt wie Sibylle Volkmann-Raue. Dabei wollte es Traute Hensch aber nicht bewenden lassen. Also schuf sie noch etwas Platz für einen „Epilog“ (laut Fremdwörter-Duden: „Schlussrede“, „Nachspiel im Drama“). Diesen „Epilog“ besorgte Christa von Petersdorff. Das heißt (und das wird im vorliegenden Band auch vornehm verschwiegen), sie zog einen bereits vor drei Jahren in der Zeitschrift Topique (2000, Heft Nr. 71, S. 69 – 85) veröffentlichten Aufsatz aus der Schublade und fütterte ihn mit wenigen neuen Literaturangaben auf (darunter ist groteskerweise auch der Beitrag von Sibylle Volkmann-Raue, der allem widerspricht, was Christa von Petersdorrf zum besten gibt). Und so kann nun wieder jeder, der es nötig hat, (s)ein Bild von Sabina Spielrein auf einem Fundament letzter Überzeugungen (über Sabina Spielrein: „Wie einschwarzer Faden ziehen sich Tod und Destruktion durch ihr ganzes Werk und durch ihr Leben“) und allerletzter Vor-Urteile (über Sabina Sielrein und C. G. Jung: „das Paar Opfer-Henker hat sich gebildet“) errichten. Die Rezension ist erschienen in: Psychosozial 27 (Nr. 96/Heft II), 2004, S. 131-136.
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