Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens: Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des Konzentrationslagers (2 Bde.). Gießen (Psychosozial-Verlag) 2003

Ernst Federn nimmt in der Geschichte der Psychoanalyse eine Ausnahmeposition ein – obgleich er ursprünglich gar nichts mit Psychoanalyse zu tun haben wollte. Er wollte Jurist werden. Doch dann kam alles anders: Er beteiligte sich als Student am illegalen Kampf gegen das austrofaschistische Regime, wurde wegen „Hochverrat“ ins Gefängnis gesperrt und las hier erstmals Freud. Nach der Entlassung nahm man ihm den Pass ab und er durfte nicht weiterstudieren. So wurde er „Sekretär“ seines Vaters. Und der hatte etwas mit Psychoanalyse zu tun: Paul Federn war Freuds Stellvertreter in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. In einem Geheimbericht der italienischen Polizei aus dem Jahr 1935 wird er als der „Vater von einem Sozialisten und Schmuggler von subversiven Schriften“ charakterisiert. Über seinen Sohn lag also schon ein Dossier vor, als die Nationalsozialisten 1938 in Wien einmarschierten. Sie brauchten nur noch zuzugreifen. Ernst Federn wurde verhaftet und nach Dachau transportiert.

Die Eltern konnten in die USA emigrieren, obgleich politische Gegner der Nazis damals nicht ohne weiteres ein Visum erhielten. In Roosevelts Außenministerium saßen Leute wie Breckinridge Long, früher Botschafter in Italien und immer noch ein Bewunderer Mussolinis, der stolz von sich sagte, er sei bei „Kommunisten und professionellen jüdischen Agitatoren“ verhasst. Emigranten mussten einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie unter anderem angeben sollten, ob sie „von Rasse und Glauben“ Juden und ihrer politischen Gesinnung nach „Sozialisten“ seien. Ernst Federns Tante, die als Anarchosyndikalistin in Spanien gekämpft hatte, zog es deshalb vor, in Frankreich zu bleiben. Sie überlebte, versteckt in einem Kloster, den Holocaust. Ihre beiden Söhne kämpften in der Résistance. Einer fiel im Partisanenkampf bei Charavine.

Ernst Federn leistete auf seine Art Widerstand in Dachau und später in Buchenwald: Er weigerte sich, den Status des rassisch Verfolgten innerlich zu akzeptieren. Er definierte sich selbst – als politischer Gefangener der Nazis. Im Rückblick sagte er darüber später: „Natürlich steht der politisch engagierte Mensch dem Gefängnis oder dem Lager ganz anders gegenüber als ein Opfer, das sich nicht selbst als Gegner definiert, sondern von seinen Verfolgern so definiert wird.“ Die Weigerung, den zugeschriebenen Opferstatus zu akzeptieren, gab Federn die Kraft zum Überleben. Und die brauchte er als Trotzkist doppelt, da er sich nicht nur vor der SS, sondern auch vor den stalinistischen Kapos in Acht nehmen musste, die die Namen politischer Kontrahenten auf die Transportlisten für Auschwitz setzen konnten. Federn hatte „Glück“: Er hatte sich, bislang zuständig für die Sauberkeit im Block, als „Maurer“ ausbilden lassen und wurde so für kriegswichtige Arbeiten herangezogen. „Als Läusewart wäre ich nach Auschwitz gekommen, aber als Mauerer bin ich in Buchenwald geblieben.“

Nach siebenjähriger Haft wird Federn von den Amerikanern befreit. Sein Widerstandsgeist ist ungebrochen. Am 20. April 1945 – dem „Geburtstag des Führers“ – gibt er gemeinsam mit anderen Häftlingen eine „Erklärung der internationalistischen Kommunisten Buchenwalds“ heraus. Sie wenden sich gegen den Stalinismus in der Sowjetunion und treten für „ein Räte-Deutschland in einem Räte-Europa“ ein. Alles sieht nach einem Neuanfang aus. Federn heiratet seine Verlobte, die ihn während der Gefangenschaft mit Paketsendungen aus Wien unterstützten konnte. Dieses „Glück“ verdankte sie den nationalsozialistischen Rassegesetzen, nach deren Definition Hilde Paar eine „Person gemischten Blutes“ war. So durfte sie die Beziehung zu Federn aufrechterhalten. Wäre Hilde Paar „Arierin“ gewesen, hätte man sie wegen „Rassenschande“ eingesperrt; wäre sie „Volljüdin“ gewesen, hätte man sie deportiert. Nach der Emigration in den USA wendet sich das Blatt erneut. Jetzt herrscht der Geist McCarthys. Jede linke politische Gesinnung wird verfolgt. Persönliche Schicksalsschläge kommen hinzu. 1949 stirbt die Mutter. Ein halbes Jahr später erschießt sich der an Blasenkrebs erkrankte Vater. Die Presse berichtet im Sensationsstil über den Tod von „Freuds Stellvertreter“.

Ernst Federn gibt nicht auf. Er beginnt eine Ausbildung als „social worker“. Schon 1948 veröffentlicht er einen Bericht über seine in Dachau und Buchenwald gemachten Erfahrungen: „The Terror as a System“. So wird er (neben Bruno Bettelheim, der mit ihm in Buchenwald einsaß, doch, anders als Federn, bereits 1939 anlässlich des 50. Geburtstags des „Führers“ freikam) zum Pionier der psychoanalytischen Erforschung des institutionalisierten Terrors. Dessen Ziel besteht darin, den Gefangenen zum Mörder seiner selbst zu machen. Es ist erreicht, wenn sich der Gedemütigte aus Scham verkrochen hat. Dann ist er nicht mehr „da“. Dabei spielen die „sadistischen“ Gelüste einzelner Wärter nur eine untergeordnete Rolle; sie können, falls nötig, als bedauerliche Entgleisungen abgetan werden. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, das Selbstwertgefühl des Gefangenen systematisch zu zerstören. Doch bisweilen versteht die so erzeugte mörderische Wut das Ziel allzu buchstäblich. Dann richtet sie sich – wie im Fall der Selbstmordattentäter aus Scham, die ihren Stolz wieder gewinnen wollen – nicht mehr nur gegen das Selbst, sondern auch gegen die Außenwelt.

Ernst Federn ist aber nicht nur als Pionier der psychoanalytischen Erforschung des Terrors bekannt geworden; er hat sich auch als Historiker der Psychoanalyse einen Namen gemacht. In den 1960er Jahren gibt er – gemeinsam mit Hermann Nunberg – die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung heraus. 1972 holt ihn Bruno Kreisky, der damalige österreichische Bundeskanzler, nach Wien zurück. Nun arbeitet Federn im Auftrag des Justizministeriums nach psychoanalytischen und sozialtherapeutischen Grundsätzen mit Strafgefangenen. Woher er die Kraft nimmt, sich in dieser Weise noch einmal mit seinem eigenen Schicksal (als Gefangener) zu konfrontieren, erschließt sich aus den Gesprächen, die Bernhard Kuschey mit ihm und seiner Frau geführt hat. Am 26. August 2004 wird Ernst Federn neunzig, auf den Tag genau zwei Monate später feiert seine Frau ihren 90. Geburtstag.

 

Bernd Nitzschke, Düsseldorf

Der vorstehende Text ist in der Süddeutschen Zeitung vom 26. 08. 2004 (leicht gekürzt) unter dem Titel Systeme des Terrors – Zum 90. Geburtstag des Psychoanalytikers Ernst Federn erschienen.