Bernd Nitzschke: Wilhelm Reich und der Nationalsozialismus: Die Geschichte der Psychoanalyse einmal anders betrachtet[i] Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 68, 2014, S.162-175

 

„Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie neu zu schreiben“. Im Hinblick auf das ‚Schicksal’ der Psychoanalyse in der Zeit des Nationalsozialismus ist diese –von Oscar Wilde erhobene – Forderung wiederholt erfüllt worden, allerdings mit einer Einschränkung: Die von Ernest Jones in den 1950er Jahren vorgelegte Basiserzählung wurde bei Bekanntwerden neuer Fakten später in vielen Fällen nicht grundsätzlich hinterfragt, sondern – in Übereinstimmung mit vereinskonformen Überzeugungen – lediglich neu justiert.

Was ist eine „Basiserzählung“? Der Soziologe Thomas Herz, der diesen Begriff prägte, bezeichnete so ein Narrativ, das der Aufrechterhaltung der hegemonialen politischen Kultur – und damit zugleich der Delegitimierung widersprechender Perspektiven – dient. Ein solches Narrativ kann „je nach Thema bzw. Dilemma, das es zu ‚lösen’ oder zu regeln gilt“, in vielen „Kurzgeschichten“, „Kleinsterzählungen“ und „Plots“ variiert werden, das grundlegende Muster bleibt dabei jedoch erhalten. Die von Herz identifizierte hegemoniale Erzählung der Deutschen über ihre NS-Geschichte gibt auf die Fragen, wie sie „an die Nazis gerieten, was sie während des Krieges taten, was dann nach Ende des Krieges geschah, und welche Konsequenzen sie daraus zogen“, die gewünschten Antworten: „Das deutsche Volk sah sich eines Tages mit den Nationalsozialisten konfrontiert. Die Nazis errichteten ein totalitäres und despotisches Regime. Es war ein Willkür- und Unrechtsstaat. Es gab Widerstand gegen dieses Regime […]. [Die] Deutschen waren in Wirklichkeit eine ‚Gemeinschaft’ der Leidenden. […] Nach dem Krieg hat man sich erfolgreich mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Die Deutschen haben aus der Vergangenheit gelernt“ (Herz 1996, S. 93). Die Basiserzählung über die Psychoanalyse unter Hitler, die Jones vorgelegt und seine Nachfolger ergänzt haben, klingt recht ähnlich. Demnach sahen sich die Psychoanalytiker eines Tages mit den Nationalsozialisten konfrontiert. Sie bemühten sich nach Kräften die Psychoanalyse zu retten, doch sie erkannten zu spät, dass die Nazis ein totalitäres und despotisches Regime errichten wollten. Es war ein Willkür- und Unrechtsstaat. Es gab Widerstand. Edith Jacobsohn wurde von der Gestapo verhaftet (ihr Widerstand wurde von Anna Freud so verurteilt: „[...] was wir bei [Wilhelm] Reich, solange er noch unser Mitglied war, kennen gelernt haben, stimmt für alle ähnlich eingestellten Mitglieder. Rücksicht auf die Vereinigung ist ihnen fremd“). John Rittmeister wurde hingerichtet (er war kein DPG-Mitglied). Die Nazis zerstörten die Psychoanalyse. In Wirklichkeit waren die Psychoanalytiker eine Gemeinschaft der Leidenden. Nach dem Krieg haben sie sich erfolgreich mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Sie haben (abgesehen von Schultz-Hencke und seinen Anhängern) aus der Vergangenheit gelernt.

Jones, der Konstrukteur dieser Erzählung, hat als IPV-Präsident (von 1932 bis 1949) die Geschicke der Psychoanalyse während und nach der NS-Zeit wesentlich mitbestimmt. Nach dem Krieg stellte er in seiner Freud-Biographie kurz und bündig fest: „Dieses Jahr [1934] brachte die Flucht der noch gebliebenen Analytiker aus Deutschland und die ‚Liquidierung’ der Psychoanalyse im Deutschen Reich, eine der wenigen Taten, die Hitler vollständig gelungen sind.“ Michael Schröter meint, Jones sei als „Diplomat par excellence“ in der Lage gewesen, „die Unwahrheit nicht als Lüge, sondern in der Form einer Halb- oder Viertelswahrheit“ zu äußern (1998, S. 188; s. dazu kritisch: Fallend, Nitzschke 1999). Wie dem auch sei, Jones erzählte nicht nur die Geschichte der ‚Liquidierung’, er erzählte auch noch die Geschichte der ‚Rettung’ der Psychoanalyse unter Hitler. Auch diese Erzählung ist in vielen „Kurzgeschichten“, „Kleinsterzählungen“ und „Plots“ variiert worden, das grundlegende Muster blieb jedoch erhalten: Die „Hiergebliebenen“ (Schröter 2009, S. 1126) fanden sich in einer Schicksalsgemeinschaft wieder, der Ernest Jones und Anna Freud, so gut es ging, „mit Rat und Tat“ zur Seite standen. Dank dieser Unterstützung konnten „einige der im Lande verbliebenen ‚arischen’ Psychoanalytiker“ das Freudsche Erbe bewahren – und „für die Zeit nach Hitler als Nukleus einer Psychoanalyse-Renaissance zur Verfügung“ stehen (Hermanns 2010, S. 1162).

Ich wähle einige derjenigen aus, die zu diesem „Nukleus“ gehörten (gemeint sind DPG-Mitglieder, die 1950 Gründungsmitglieder der DPV wurden), um zu zeigen, wie heterogen dieser Kreis zusammengesetzt war. Käthe Dräger, die als Mitglied der KPD-O aktiv am Widerstand gegen Hitler teilnahm, gehörte ebenso dazu wie Gerhard Scheunert, der im Mai 1933 der NSDAP beitrat – in jenem Monat, in dem ‚undeutsche’ Schriften – darunter Freuds Werke – auf den Scheiterhaufen brannten. Ingeborg Kath, die während der NS-Zeit in der psychiatrischen Anstalt Buch nur solchen Patienten euthanasierelevante Diagnosen zuschrieb, die „sowieso bald gestorben wären“ – wie sie nach dem Krieg in einem Interview sagte und Carl Müller-Braunschweig, der 1945 Vorsitzender der DPG und 1950 Vorsitzender der DPV wurde, waren ebenfalls Bestandteile dieses „Nukleus“. 1939 hatte Müller-Braunschweig noch auf eine kommende deutsche Psychotherapie“ als „schöpferische Synthese“ aller therapeutischen Schulen gehofft. Als er diese Hoffnung im Zentralblatt für Psychotherapie zu Papier brachte, hatte er – eigenen späteren Angaben zufolge – schon seit einem Jahr Publikationsverbot. Er habe sich nach der Besetzung Österreichs im Frühjahr 1938 in Wien zu sehr für Freud eingesetzt, heißt es. Dort hatte er Franz Wirz, der zum Stab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Hess gehörte, dafür zu gewinnen versucht, im Internationalen Psychoanalytischen Verlag eine Zeitschrift für Psychoanalyse erscheinen zu lassen, die „auf dem Boden des III. Reiches“ stehen sollte. Wirz lehnte das Angebot ab. Als einige Jahre später, beim 16. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Zürich 1949, Jones den „true, real, genuine analysts“ dankte, die in Deutschland während der NS-Zeit treu zu Freud standen, nannte er einen einzigen Namen, stellvertretend für alle: Carl Müller-Braunschweig.

Die doppelte Rede, die Jones initiierte, wonach die Psychoanalyse unter Hitler sowohl zerstört als auch gerettet worden sein soll, stiftet bis heute Verwirrung. So hat erst unlängst wieder Ursula Kreuzer-Haustein, Mitglied einer Archiv-Kommission, die sich um sinnstiftende Einordnung des gemeinsamen historischen Erbes von DPG und DPV bemüht, „in Bezug auf die psychoanalytische Kultur“ [sic!] in Hitler-Deutschland von „einer Dichotomie zwischen Rettung und Zerstörung“ gesprochen, deren „Zer-brechen“ (2013, S. 717) sie konstatierte. Worin sollten die Folgen des Zerbrechens dieser „Dichotomie“ bestehen? Hatten sich die ‚Rettung’ und die Zerstörung der Psychoanalyse unter Hitler verselbständigt? Gab es am Ende nur noch eins von beiden – oder gar nichts mehr? Andreas Peglau[ii] gibt auf diese (und viele andere) Fragen Antworten, die er durch sorgfältiges Quellenstudium belegt hat. Damit wird nun auch eine sinnvolle Interpretation der Redewendung von der „Dichotomie zwischen Rettung und Zerstörung“ möglich: Von dieser „Dichotomie“ kann dann gesprochen werden, wenn man dem Bestreben der DPG- und IPV-Funktionäre, die nach 1933 versuchten, die psychoanalytischen Institutionen durch Kompromisse mit dem NS-Regime zu ‚retten’, die Kritik der Linksfreudianer gegenüberstellt, die meinten, die Psychoanalyse habe der Aufklärung und Beseitigung der Bedingungen von Unmündigkeit zu dienen – und nicht bei deren Verfestigung mitzuwirken. Sie erkannten in der Zusammenarbeit mit dem Regime die Zerstörung der Psychoanalyse.

Aufgrund der umfassenden Berücksichtigung der bereits vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler und durch die Einbeziehung bislang unveröffentlichter Dokumente ist es Peglau gelungen, eine Alternative zu der von Jones initiierten Basiserzählung zu formulieren. Auf diese Weise ist der Fabelgrund, auf dem sie ruht, endlich deutlich zu erkennen: Wunscherfüllung im Dienste von Schuld- und Schamabwehr. Die Verschränkung zwischen dem ‚Schicksal’ der Psychoanalyse im NS-Staat und der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Emigrantengeschichte Wilhelm Reichs, die Peglau minutiös rekonstruiert, ist Dreh- und Angelpunkt des Buches, das einen unverzichtbaren Referenzpunkt für jeden darstellt, der sich künftig ohne Scheuklappen mit der NS-Geschichte der Psychoanalytiker beschäftigen will.

Wilhelm Reich hat nicht erst nach 1933 vor den Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme gewarnt. Er tat dies bereits in Wien lange vor 1933. Nach seiner Übersiedelung wurde er Ende 1930 in Berlin Mitglied der DPG und der KPD. Zur kommunistischen ‚Zelle’ der Künstler-Kolonie, in die er eintrat, gehörten u. a. die Schriftsteller Alfred Kantorowicz und Arthur Koestler, der Philosoph Ernst Bloch sowie der Sänger und Brecht-Schauspieler Ernst Busch. Im Frühjahr 1931 nahm Reich dann bereits als Vertreter der KPD an der Gründung des Einheitsverbands für proletarische Sexualreform und Mutterschutz in Düsseldorf teil. Dieser Verband wurde von den Nationalsozialisten wegen seiner liberalen Positionen in Sachen Sexualgesetzgebung 1933 verboten. Ebenfalls im Frühjahr 1931 wurde Reich Dozent der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) Hier unterrichteten u. a. Walter Gropius, Erwin Piscator, Helene Weigel, John Heartfeld, Egon Erwin Kisch, Erich Weinert, Anna Seghers und Albert Einstein. Die Dozentur war, wie Peglau erläutert, nicht an die KP-Mitgliedschaft gebunden. Es genügte ein „Ja“ auf die Frage „Bist auch du gegen den Faschismus?“

Im April 1931 kündigte die Rote Fahne einen MASCH-Kurs Reichs mit diesen Worten an: „Dr. Wilhelm Reich, der Verfasser zahlreicher sexualtheoretischer Schriften, der gewesene Leiter der Wiener Sexualberatungsstelle, beginnt […] seine Vortragsreihe über marxistische Sexualökonomie und Sexualpolitik.“ Diese Formulierung lässt erkennen, dass sich Reich spätestens ab 1931 mit den Themen befasste, die er in seinem 1933 im Exil publizierten Buch Massenpsychologie des Faschismus detailliert ausführte. Reichs Analyse der NS-Ideologie war denn auch der Ausgangspunkt seiner Warnung vor jeder möglichen Kollaboration der Psychoanalytiker mit dem NS-Regime. Ein Historiker der Psychoanalyse merkte dazu Jahrzehnte später an: „Gewiss hat ein Mann wie Reich die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Psychoanalyse frühzeitig betont […]. Was aber prima vista wie eine realistische Prognose erscheint, stellt sich anders dar, wenn man liest […], daß Reich zugleich als gläubiger Kommunist ‚eine revolutionäre Umkehrung im Kräfteverhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform’ erwartete“ (Schröter 2009, S. 1093, Anm. 10). Schließlich kommt dieser Historiker doch noch zur Einsicht, wenn er schreibt: „Psychoanalyse und Nationalsozialismus waren unvereinbar“. Einschränkend setzt er hinzu: „Aber hinterher ist man immer klüger“ (ebd., S. 1124). Und wer vorher klüger, den kann man hinterher diffamieren.

Vor den Folgen einer nationalsozialistischen Regierungsübernahme hatte damals nicht nur Wilhelm Reich gewarnt. Peglau führt eine Reihe weiterer Mahner an – die allesamt keine Psychoanalytiker waren: August Thalheimer, der wegen Kritik an der Sozialfaschismusthese aus der KPD ausgeschlossen 1929 die KPD-O gründete, sagte 1928 voraus, die Nationalsozialisten würden, sollten sie an die Macht kommen, die Welt „notfalls mit Krieg“ neu aufzuteilen versuchen. Ernst Toller prophezeite 1930 eine Periode des Faschismus, „deren Ablösung nur im Gefolge grauenvoller, blutiger Wirren und Kriege zu erwarten“ sei. Erich Mühsam sagte 1931 „standrechtliche Erschießungen, Pogrome, Plünderungen, Massenverhaftungen“ im Falle einer nationalsozialistischen Regierung voraus. Und in der Deutschen Republik konnte man 1932 lesen, die Nationalsozialisten würden, sollten sie an die Macht kommen, „nur Kasernen, Zuchthäuser und Gräber übrig lassen“. Alle Prognosen trafen zu.

Im März 1933 hieß es in den Münchner Neuesten Nachrichten, in Dachau sei das erste Konzentrationslager eröffnet worden. „Hier werden die gesamten kommunistischen und – soweit notwendig – Reichsbanner- und marxistischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen“. Über die in diesem Lager begangenen Grausamkeiten – Baumhängen, Prügeln, Totschlagen – wurde die internationale Öffentlichkeit durch Berichte entflohener Gefangener frühzeitig informiert. Eine Schlagzeile der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 4. Januar 1934 lautete: „Fünfzig Ermordete in Dachau“ (zit. n. Richardi 1995, S. 216). Wer es wissen wollte, der konnte es also wissen. Auch Sigmund Freud wusste es. Im Juni 1933 schrieb er an Marie Bonaparte: „Die Welt wird ein großes Zuchthaus, die ärgste Zelle ist Deutschland.“

Das war eine private Mitteilung. In der Öffentlichkeit schwieg Freud. 1931 hatte Felix Schottlaender (nach dem Krieg einer der Mitbegründer der Psyche) in einem dem Thema Psychoanalyse und Politik gewidmeten Heft der Zeitschrift Psychoanalytische Bewegung einen Beitrag veröffentlicht, in dem es hieß: „Die Psychoanalyse ist selbstverständlich ‚unpolitisch’.“ So wollte Freud sie jetzt verstanden wissen. Er hatte offenbar vergessen, dass – wie Peglau dokumentiert – 1919 Mitglieder der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung aktiv an der kommunistischen Räteregierung beteiligt waren. Jenö Varga wurde Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Sandor Varjas Vorstandsmitglied in der Landesstelle für Erwachsenenbildung. Und Freud schrieb damals an Jones, die „Räteregierung“ verhalte sich „sehr galant der Psychoanalyse gegenüber. Ferenczi wurde zum ersten offiziellen Professor der Psychoanalyse, ein Erfolg, von dem wir nicht einmal zu träumen wagten.“ Jetzt, 1933, sollten sich die Psychoanalytiker dem NS-Regime gegenüber politisch ‚neutral’ verhalten.

Diese Haltung kritisierte Wilhelm Reich mit den Worten: „Der Wissenschaftler, der glaubt, durch Vorsicht und ‚Unpolitischsein’ seine Existenz zu retten […], verwirkt den Anspruch, jetzt ernst genommen zu werden […].“ Noch drastischer fiel eine Äußerung des Freudomarxisten Georg Gerö aus, die Fenichel in einem der von ihm an die Linksfreudianer versandten Rundbriefe zitiert: „Mir scheint, daß die wichtigste Aufgabe zunächst darin besteht, jenen Leuten in der I.P.V., die nicht völlig verblödet sind, jene systematische Verdrängung der Realität, jene imbezille Verwechslung des Weltgeschehens mit Behandlungsstunden bewusst zu machen, die die meisten Analytiker treiben.“ Da Fenichel Angst hatte, er könnte, sollten seine Briefe „in unberufene Hände“ geraten, (wie Reich) aus der IPV ausgeschlossen werden, bat er die Empfänger, sie „nach Lektüre zu verbrennen.“

Reich hatte 1933 die Selbstauflösung der DPG gefordert, um jeder möglichen Kollaboration der Psychoanalytiker mit dem NS-Regimeeinen einen Riegel vorzuschieben (Fenichel und Edith Jacobsohn widersprachen damals noch, sie gaben Reich im Nachhinein aber recht). Freud hingegen untersagte die Schließung des Berliner Instituts ausdrücklich, die der (noch bis Herbst 1933) amtierende DPG-Vorsitzenden Max Eitingon erwogen hatte. Eitingon wiederum ließ kurz nach der ‚Machtergreifung’ Reich auffordern, „unsere Institutsräume nicht mehr [zu] betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne“. So steht es einem Bericht, den Felix Boehm (der ab November 1933 mit Carl Müller-Braunschweig den DPG-Vorstand bildete) an Jones sandte, um ihn über die Ereignisse in Hitler-Deutschland zu informieren und die Vereinspolitik mit ihm abzustimmen.

Peglau dokumentiert den ‚Erfolg’ dieser Politik anhand der von ihm umfassend recherchierten Faktenlage. So konnte beispielsweise der Internationale Psychoanalytische Verlag bis 1936 im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels Anzeigen schalten. Im Zentralblatt für Psychotherapie wurden auch nach 1933 noch psychoanalytische Bücher besprochen – darunter Sigmund Freuds „Selbstdarstellung“, Richard Sterbas Handwörterbuch der Psychoanalyse und Anna Freuds Das Ich und die Abwehrmechanismen. Auch das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie brachte weiterhin Rezensionen psychoanalytischer Bücher, die meist „sachlich und zum Teil sogar anerkennend“ ausfielen, wie Peglau resümiert. Selbst 1939 wurden in dieser Fachzeitschrift noch Bücher von Franz Alexander, Michael Balint, Hermann Nunberg, Heinrich Meng, Kurt R. Eissler besprochen. Und in einem Beitrag aus dem Jahr 1940 finden sich sogar noch typisch psychoanalytische Termini wie Libidotheorie, Ödipuskomplex und Übertragung. Das widerspricht der von manchen bis heute unkritisch tradierten Legende, wonach es nach 1933 verboten gewesen sein soll, „Freud auch nur kritisch zu erwähnen“ (Schultz-Hencke – zit. n. Kreuzer-Haustein 2013, S. 719).

Peglau stellt fest, dass die Toleranz der NS-Machthaber gegenüber der Psychoanalyse Ergebnis „der weitreichenden Anpassung der in Deutschland verbliebenen Analytiker“ war. Die IPV „flankierte diese Entwicklung mit jahrelangem weitgehenden Beschweigen des Faschismus und nahezu völligem Ausblenden faschistischer Verbrechen in ihren Berichten und in den Publikationen ihrer Mitglieder.“ Wie Peglau im einzelnen belegt, sind in den 1930er und 1940er Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen (zu denen Wilhelm Reich gehörte) – keine nennenswerten Arbeiten von Psychoanalytikern zum Thema Nationalsozialismus (und Stalinismus) erschienen. In diesem Zusammenhang zitiert Peglau die folgende Äußerung von Yosef H. Yerushalmi: „Meines Wissens hat zwischen 1939, als es schon nichts mehr zu verlieren gab, und dem Ende des Zweiten Weltkrieges weder in Nazideutschland noch in den besetzten Ländern je ein offizielles Organ einer offiziellen psychoanalytischen Organisation auch nur ein einziges Mal die Stimme erhoben, sei es gegen die Vernichtung der Juden, sei es gegen die Vernichtung der Psychoanalyse.“

Wilhelm Reich hat mit der Massenpsychologie des Faschismus eine Pionierarbeit der analytischen Sozialpsychologie vorgelegt, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der autoritären Persönlichkeit darstellt, die von Erich Fromm, der in Berlin zum Kreis um Reich gehört hatte, an dem von Max Horkheimer geleiteten Institut für Sozialforschung im Exil fortgeführt wurde (Beit-Hallahmi 2004, Nitzschke 2010). Dieses Buch beginnt mit dem Satz: „Die deutsche Arbeiterklasse hat eine schwere Niederlage erlitten […]. Der Faschismus hat gesiegt und baut seine Positionen mit allen verfügbaren Mitteln, in erster Linie durch kriegerische Umbildung der Jugend, stündlich aus.“ Das konnte der KP-Führung gar nicht gefallen, hatte sie doch beschlossen, dass der Sieg der deutschen Arbeiterklasse unmittelbar bevorstehe. Folgerichtig wurde Reich aus der KP ausgeschlossen. Dazu hieß es Ende 1933 im Arbejderbladet, der Zeitung der dänischen Kommunisten (Reich lebte zu dieser Zeit in Dänemark im Exil), Buch Reichs sei deshalb als „konterrevolutionär“ einzustufen, weil es „objektiv eine […] ernsthafte Untergrabung der Lehren der kommunistischen Propaganda“ darstelle.

Peglau fasst Reichs Massenpsychologie hingegen als „Beweis dafür [auf], dass es bereits 1933 eine fundierte Psychoanalyse des Faschismus“ gab – und deshalb auch eine von den Funktionären der DPG und IPV unterstützte Psychoanalyse gegen den Faschismus hätte geben können – wenn sie die Psychoanalyse nicht als ‚unpolitische’ Wissenschaft verkauft hätten. Die Vereinsfunktionäre verhielten sich, wie sie selbst glauben wollten, jedoch politisch ‚neutral’. Ganz so ‚neutral’ war ihre Politik dann aber doch nicht, denn sie distanzierten sich ganz offen von Wilhelm Reich, um den Nationalsozialisten keinen Anlass für ein Verbot der Psychoanalyse zu geben. In diesem Zusammenhang ist die Äußerung eines Psychoanalytikers aus jüngster Zeit bemerkenswert, der sich um die Vereinsgeschichte bemüht hat. Er behauptet, Anna Freud habe 1934 „noch entschieden darauf bestand[en], dass die Psychoanalyse, wenn schon, um ihrer selbst willen verboten werden solle und nicht deshalb, weil sie vor allem von Juden praktiziert wurde“ (Pollmann 2013, S. 766). Hier wurden zwei Aussagen, die Anna Freud unabhängig voneinander gemacht hat, so miteinander kombiniert, dass der Hinweis auf Wilhelm Reich verloren geht, dessen Positionen nach Auffassung Anna Freuds den Fortbestand der Psychoanalyse im NS-Staat gefährdeten.

Anna Freuds erste Aussage lautete: „Der Sachverhalt ist merkwürdig genug, dass die [NS-]Regierung niemals die Psychoanalyse angegriffen oder ihre Aktivitäten in irgendeiner Form eingeschränkt hat. Die 25 Mitglieder [der DPG], die gingen, taten dies, weil sie Juden, nicht weil sie Analytiker waren“ (zit. in Schröter 2009, S. 1088f.). Anna Freuds zweite Aussage lautete: „Der Ausspruch meines Vaters […] ist: Wenn die Psychoanalyse verboten wird, soll sie als Psa. [Psychoanalyse] verboten werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das Reich vertritt“ (zit. in Friedrich 1990, S. 164). Anna Freud spricht hier also von einem „Gemisch“, eine Redewendung, die nach 1945 in abgewandelter Form („Amalgamierung“, „Mischmasch“) und in anderen Zusammenhängen noch bedeutsam werden sollte (ich kommen darauf zurück).

Was wäre denn geschehen, wenn der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der DPG (und damit aus der IPV) nicht geschehen wäre? Michael Schröter kennt die Antwort: Hätte man, wie von Wilhelm Reich gefordert, „die ‚Gleichschaltung’ bekämpft“, dann wäre die „Tradition Freuds […] untergegangen, aber mit fliegenden Fahnen“ (1998, S. 182). Man entschied sich deshalb Anfang 1933, Schröter meint: zu Recht, für die ‚Gleichschaltung’ – und gegen Reich. Den (vorübergehenden) ‚Erfolg’ dieser Politik hat Schröter so zusammengefasst: „Poliklinik, Vereinigung und Institut“ konnten „in der freudianischen Tradition“ fortgeführt werden, „solange höhere Mächte es zuließen“. Schröters Fazit lautet: „In der Bilanz haben DPG und IPV mit ihrer Politik der Zugeständnisse und des Appeasement fünf Jahre gewonnen“ (2010, S. 1152f.). Demnach waren DPG und IPV 1933ff. erfolgreicher als Daladier und Chamberlain in München 1938. Diese beiden gewannen nur ein Jahr – bevor „höhere Mächte“ den Rest der Tschechoslowakei besetzten.

„[D]ie IPV-Mehrheit“ habe Wilhelm Reich als den „Autor der Massenpsychologie des Faschismus“ – „anders als den der Charakteranalyse“ – „nicht mehr als ihresgleichen“ anerkannt – meint Schröter (1998, S. 190). Ist das nicht verrückt? Reichs Buch Charakteranalyse enthält den kompletten Text des Vortrags Der masochistische Charakter. Eine sexualökonomische Widerlegung des Todestriebes und des Wiederholungszwanges, der zum Ausgangspunkt der Abwendung Freuds von Reich wurde. Darin findet sich Sätze wie dieser: Die „Verlegung der Herkunft des Leidens aus der Außenwelt, aus der Gesellschaft, in die Innenwelt, mit seiner Rückführung auf eine biologische Tendenz“ (Todestrieb) hat „ein kardinales Prinzip der ursprünglichen analytischen Psychologie mächtig erschüttert“. Reich hatte diesen Vortrag im Dezember 1931 am Berliner Institut gehalten. Kurz darauf, am 1. Januar 1932, vertraute Freud seinem Tagebuch an: „Langer Magenanfall – Schritt gegen Reich.“

Freud hatte gerade die Fahnen des von Fenichel zum Druck angenommenen Vortrags gelesen (Fenichel war damals noch Redakteur der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse; wenig später wurde er abberufen). Empört schrieb Freud an den DPG-Vorsitzenden Max Eitingon, Reich und Fenichel missbrauchten die psychoanalytischen „Zeitschriften für bolsch[e]w.[istische] Propaganda“. Hier die Propaganda für den Bolschewismus (Freud) – dort die Propaganda gegen den Bolschewismus (Arbejderbladet): Was immer Wilhelm Reich schrieb, er konnte niemandem recht machen – oder eben jedem, der ihn ausschließen wollte.

Freuds Unbehagen wuchs, als Reich nach seiner Flucht aus Berlin im Frühjahr 1933 noch einmal für kurze Zeit in Wien auftauchte. Dort sprach er am 7. April bei einer Veranstaltung des Bundes proletarischer Schriftsteller über Die Massenpsychologie der nationalen Bewegung. Das war – nach Auffassung Anna Freuds – eine „Rücksichtslosigkeit“ Reichs. An Jones schrieb sie, Reich habe „in kommunistischen Versammlungen politische Reden mit psychologischem Anstrich“ gehalten. „Was das in heutigen Zeiten für die analytische Vereinigung bedeuten kann, weiß jeder“. Zehn Tage nach dieser „Rücksichtslosigkeit“ Reichs erschien Boehm in Wien, um mit Freud die Übernahme des DPG-Vorstands zu besprechen. Freud akzeptierte Boehm und Müller-Brauschweig als künftige DPG-Vorsitzende – unter zwei Bedingungen: Schultz-Hencke dürfe „nie“ in den DPG-Vorstand aufgenommen werden; und – die zweite Bedingung zitiert Boehm im Bericht an Jones wörtlich –: „[…] befreien Sie mich von Reich.“

Beide Aufträge wurden erfüllt. Schultz-Hencke, der zu den wenigen ‚Ariern’ gehörte, die im Mai 1933 Eitingon noch einmal im Amt bestätigten (von dem er erst im Herbst 1933 zurücktrat) und damit gegen die beiden Karrieristen Boehm und Müller-Braunschweig als neue DPG-Vorsitzende votierten, übte während der NS-Zeit keine Leitungsfunktion in der DPG aus. Und Wilhelm Reich wurde per Geheimbeschluss, dessen Gültigkeit unter satzungsrechtlichen Gesichtspunkten bis heute ungeklärt ist, die DPG-Mitgliedschaft entzogen. Das war ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg, den die Funktionäre der DPG und der IPV zwecks ‚Rettung’ der Psychoanalyse im NS-Staat einschlugen. Peglau hat diesen Weg Schritt für Schritt rekonstruiert. Dabei ist er auf den Direktor der Berliner Hochschule für bildende Künste und Referenten im Kultusministerium Otto von Kursell gestoßen, den Boehm aufgrund gemeinsamer Zugehörigkeit zur baltischen Studentenverbindung ‚Rubonia’ kannte. Kursell, seit 1922 NSDAP-Mitglied, war Redaktionsmitglied des Völkischen Beobachters und enger Vertrauter des Hauptschriftleiters dieses Blattes: Alfred Rosenberg. Der wiederum war einer der Hauptverantwortlichen für die Auswahl der Bücher, die zwischen März und Oktober 1933 in 85 deutschen Städten auf die Scheiterhaufen geworfen wurden.

Wie Peglau herausgefunden hat, waren darunter die Schriften von vier Psychoanalytikern: Sigmund und Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich. Es gab aber nur einen einzigen Psychoanalytiker, dessen Schriften im NS-Staat einem Komplettverbot unterlagen: Wilhelm Reich.

Reichs Aufklärungsbroschüre Sexualerregung und Sexualbefriedigung stand bereits in der Weimarer Republik auf dem Index. Den Indizierungsantrag hatte Josef Weber, der Leiter des Landesjugendamtes Münster, gestellt, der nach dem Krieg in NRW als Sozialminister im Kabinett Arnold (CDU) Karriere machte und 1956 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. In Webers Verbandszeitschrift Westfälische Jugend las man 1930: „Wir freuen uns, daß das Jugendamt damit [mit der Indizierung der Broschüre Reichs] erfolgreich den Kampf gegen die üble Aufklärungsliteratur, die unsere heranwachsende Jugend vergiftet, aufgenommen hat. Dieser Erfolg ist gleichzeitig ein empfindlicher Schlag für die Wiener Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung. Es ist traurig, daß eine solche Gesellschaft zur Vermehrung der Schund- und Schmutzschriften beiträgt.“

Am 2. März 1933, also zwei Tage nach dem Reichtagsbrand, konnte man ähnliche Worte im Völkische Beobachter lesen. Diesmal ging es um Wilhelm Reichs Buch Der sexuelle Kampf der Jugend, das als „krasses Beispiel“ für die „schamlose Verführung“ angeführt wurde, „die an die niedrigsten Instinkte unreifer Menschenkinder sich wendet und versucht, im Jugendlichen die Verpflichtung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zersetzen“. Kein Wunder also, dass Otto von Kursell, der ja Redaktionsmitglied des Völkischen Beobachters war, zu der Überzeugung gelangte, bei der Psychoanalyse müsse es sich um „eine jüdisch-marxistische Schweinerei“ handeln So äußerte er sich im Gespräch mit Boehm (der dieses Zitat im Bericht an Jones wörtlich anführt). Nun gab es aber nur einen einzigen Psychoanalytiker, auf den alle drei Attribute zutrafen: Wilhelm Reich. Er war Jude. Er war Marxist. Und er war der Mann, dem der Völkische Beobachter vorgeworfen hatte, „im Jugendlichen die Verpflichtung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zersetzen“. Boehm musste daher alles unternehmen, um Kursell klar zu machen, dass Freud und die Psychoanalyse nichts mit dieser „jüdisch-marxistische Schweinerei“ zu tun hatten. Im Bericht an Jones schreibt Boehm dazu: „Bekanntlich war Reich häufig öffentlich als Kommunist und Psychoanalytiker aufgetreten, wobei er seine Ansichten als Ergebnisse der Psychoanalyse hingestellt hatte. […] Gegen dieses Vorurteil hatte ich zu kämpfen“ (Herv.: B. N.). Im Verlauf dieses Kampfes überreichte Boehm Kursell „einen Auszug“ aus einem Werk, in dem sich Freud „gegen den Marxismus äussert. Es machte auf K. sichtlich einen starken Eindruck zu erfahren, dass Freud Antimarxist ist.“ Sinn und Zweck dieser Gabe erläuterte Boehm im Bericht an Jones so: „Bei all meinen Schritten hat mir die Stellungnahme Freud’s vorgeschwebt, es solle durchaus versucht werden, das Werk der Ps.A. in Deutschland aufrecht zu erhalten und keiner Behörde eine Handhabe für ein Verbot unserer Tätigkeit gegeben werden.“

Im Punkt Distanzierung von Reich bestand Übereinstimmung zwischen Sigmund und Anna Freud, Jones, Boehm und Müller-Braunschweig. Die von Boehm mündlich vorgetragenen Argumente fasste Müller-Braunschweig in einem Memorandum schriftlich zusammen. Der Text wurde am 1. Oktober 1933 dem IPV-Präsidenten Jones und dessen Stellvertreter van Ophuijsen in Holland vorgelegt. Nachdem Anna Freud über das Treffen informiert worden war, erschien der Text in einer gekürzten Fassung unter dem Titel Psychoanalyse und Weltanschauung am 22. Oktober 1933 im Reichswart, einem antisemitischen Hetzblatt. Als Wilhelm Reich davon erfuhr, protestierte er: „Als zur Emigration gezwungenes Mitglied der deutschen psa. Vereinigung [Reich wusste noch nicht, dass er bereits aus der DPG ausgeschlossen worden war] erkläre ich hiermit, dass der genannte Artikel von Müller-Braunschweig eine Schande für die gesamte psychoanalytische Wissenschaft und Bewegung darstellt.“

Im Schlusskapitel seines Buches zieht Peglau die folgende Bilanz: „Die Integration wesentlicher Aspekte der Psychoanalyse ins Dritte Reich war – und hier sind die beiden Schwerpunkte meiner Arbeit untrennbar verbunden – nur möglich, nachdem sich die deutsche und internationale Analytikerorganisation 1933/34 des einzigen Kollegen entledigt hatte, der schon zuvor eindeutig als Kommunist und Antifaschist in Erscheinung getreten war […] und nun auch öffentlich gegen den NS-Staat auftrat und publizierte […]: Wilhelm Reich.“

Die Bilanz, die Jones im August 1936 beim 14. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Marienbad (Tschechoslowakei) vortrug, hörte sich sehr viel freundlicher an. Jones teilte dem Kongresspublikum damals mit, die Psychoanalyse sei im NS-Staat „neben anderen Richtungen der Psychotherapie“ noch immer anerkannt und habe „hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Lehrtätigkeit“ auch ihre „Selbständigkeit“ bewahrt. Als Jones dies vortrug, war die DPG bereits in das von Heinrich Mathias Göring geleitete Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie integriert. Dieser Schritt hatte eine Voraussetzung, die Kreuzer-Haustein so umschreibt: „Im Dezember 1935 wurden die jüdischen Mitglieder aufgefordert, die DPG zu verlassen“ (2013, S. 724). Sie vergisst hinzuzufügen, dass die bis Ende 1935 noch in der DPG verbliebenen Juden zu diesem Schritt erst bereit waren, nachdem der IPV-Vorsitzende Jones sie ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Als Erich Fromm, der zu dieser Zeit im Exil lebte, aber noch immer Mitglied der DPG war, davon erfuhr und sich beschwerte, dass man ihn aus der DPG ausgeschlossen habe, teilte ihm Jones ‚diplomatisch’ mit, die Juden seien nicht aus der DPG ausgeschlossen worden, vielmehr seien sie zum Wohle der DPG dazu bereit gewesen auszutreten. Die DPG hätte ja nicht Bestandteil des Deutschen Instituts werden können, wäre sie nicht ‚rein arisch’ geworden.

Im März 1936 hatte sich Boehm mit Anna Freud in Brünn (Tschechoslowakei) getroffen, um mit ihr den geplanten Eintritt der DPG in das Deutschen Institut zu besprechen. Nach diesem Treffen schrieb sie an Jones: „Mir scheint es begreiflich, daß er diesen Versuch machen will. Gelingt es nicht, so hat die Analyse nichts dabei verloren. Dann ist uns eben eine Gruppe verloren gegangen, die unter diesen Bedingungen nicht zu halten war. Rettet er eine kleine Arbeitsgruppe in eine andere Zeit hinüber, so ist es gut“ (Herv.: B. N.). Der Eintritt der DPG in das Deutschen Institut erfolgte im Mai 1936. Im Juli 1936 traf Jones in Basel H. M. Göring, einen Vetter des Reichsmarschalls, der dem Deutschen Institut vorstand. Bei dieser Gelegenheit habe sich Jones noch einmal viel Mühe“ gegeben, „um in Deutschland zu retten, was zu retten war“ (Schröter 2010, S. 1147). Das Ergebnis seines Rettungsunternehmens trug Jones – wie oben bereits dargestellt – dann beim Marienbader Kongress im August 1936 vor.

Nach dem Krieg war dann erst einmal nicht mehr die Rede von der ‚Rettung’ der Psychoanalyse. Jetzt sprach man (fälschlich) von einem „offiziellen Verbot der Psychoanalyse“ unter Hitler, durch das „die Verbreitung der Theorien Schultz-Henckes indirekt gefördert“ gefördert worden seien (Thomä 1963/64, S. 46). Von Müller-Braunschweigs 1939 geäußertem Wunsch, es möge eine „schöpferischen Synthese“ aller therapeutischen Schulen geben, war jetzt nicht mehr die Rede. Stattdessen wurde Schultz-Hencke vorgeworfen, er habe eine „Amalgamierung der verschiedenen therapeutischen Richtungen“ gefordert (ebd., S. 49). Ausgerechnet Schultz-Hencke! Man kann ihm manches vorwerfen, aber gewiss keinen Opportunismus. Die während der NS-Zeit im Widerstand aktive Käthe Dräger sagte nach dem Krieg über Schultz-Hencke: „Seiner politischen Gesinnung nach war er kein Nationalsozialist und er bewies persönlichen Mut.“ Und heute? Heute liest man: „1945 und noch lange danach“ habe es in der DPG „einen ‚Mischmasch’ aus Psychoanalyse und Neo-Analyse“ gegeben (Pollmann 2013, S. 761). So hat sich die Rede im Laufe der Zeit gewandelt: vom „Gemisch“ (Anna Freud über Reich) über die „Amalgamierung“ (Thomä über Schultz-Hencke) zum „Mischmasch“ (Pollmann über die DPG nach 1945) – und jede dieser Bezeichnungen war mit einer abwertenden Beimischung versehen.

„Die Welt weiß, warum in Deutschland psychoanalytische Publikationen nach 1933 aufhörten und vergleichende Darstellungen über die Entfaltung der psychoanalytischen Theorie und Technik unmöglich wurden“ – schrieb in den 1960er Jahren Helmut Thomä (1963/64, S. 44). Inzwischen wissen wir noch etwas mehr. Das ist den in den 1970er Jahren einsetzenden Bemühungen zu verdanken, die die Quellen unvoreingenommener zu befragten. Die Recherchen Peglaus haben den Umfang dieses Wissens jetzt noch einmal erheblich erweitert. Und so kann sich jetzt Mitchell G. Ash auch auf diese Resultate beziehen, wenn er behauptet, „Nitzschke 1997 behauptet, Felix Boehm habe schon 1933 den Ausschluss Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung dazu mobilisiert, ein Verbot der Psychoanalyse im Nationalsozialismus abzuwenden – um danach die Unabhängigkeit der Freud’schen Psychoanalyse Schritt für Schritt selbst preiszugeben“. Der Historiker Mitchell G. Ash verfügt allerdings über ein schlechtes Gedächtnis, denn er schreibt an dieser Stelle weiter: „Hier verbindet sich der Wunsch nach einer Auffassung der Psychoanalyse als per se emanzipatorische Theorie und Praxis – eine Haltung, die anscheinend seit den 1970er-Jahren bis heute unverändert aufrecht erhalten wird“ (2012, S. 25, Anm. 78). Seit den 1970er Jahren?

War das nicht schon der Wunsch der Linksfreudianer in den 1930er Jahren? Hatte nicht sogar Freud selbst die Psychoanalyse als ‚per se emanzipatorische Theorie und Praxis’ charakterisiert? Als Therapie sei sie eine von mehreren, „wegen ihres Wahrheitsgehaltes“ sei sie aber etwas Besonders. So steht es in der Neuen Folge zur Einführung in die Psychoanalyse. Ja, das war auch 1933! Doch dann wurde diese Besonderheit der Psychoanalyse verleugnet, weil man die psychoanalytischen Institutionen im NS-Staat ‚retten’ wollte.

Der Hinweis auf die 1970er Jahre ist dennoch sinnvoll, wenngleich Ash ihn so nicht gemeint hat: 1973 erschien die erste Auflage von Helmut Dahmers Buch Libido und Gesellschaft – Studien über Freud und die Freudsche Linke. Dieser Klassiker liegt jetzt bereits in der dritten Auflage vor, erweitert um eine Bibliographie der in der Zwischenzeit publizierten relevanten Literatur zum Thema. Paul Parin lobte das Buch 1974 in der Psyche als „das klarste, am besten durchdachte und eines der umfassendsten Werke der neueren Freud-Marx-Literatur“. Und Henry Lowenfeld setzte in Psychoanalytic Quarterly 1975 hinzu: „The author is a brilliant scholar and thinker who has a profound knowledge of philosophy, Marxism, and psychoanalysis.“ Ich empfehle Dahmers Buch jetzt auch noch als epochenübergreifende theoriegeschichtliche Ergänzung zu Peglaus historischer Rekonstruktion des ‚Schicksals’ der Psychoanalyse unter Hitler.

Neben dem einleitenden Kapitel über Psychoanalyse als Gesellschaftstheorie findet sich bereits in der ersten Auflage des Buches eine kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich, bei der Dahmer zeigt, dass man Reich kritisieren kann, ohne ihn zu diffamieren. Die zweite Auflage wurde um ein Kapitel zu Ferenczi und um das Plädoyer für eine neue analytische Sozialpsychologie ergänzt. Die dritte Auflage enthält nun noch ein Nachwort, in dem Dahmer die mögliche Resitution einer Kritischen Theorie beschreibt. Hier weist er auf eine – so sollte man glauben – Selbstverständlichkeit hin, die doch immer wieder vergessen worden ist: „Technik“ – sei sie die des Ingenieurs, sei sie die des Psychoanalytikers – kann für jeden Zweck genutzt werden.

Nur dann, wenn der Psychoanalytiker den emanzipatorischen „Sinn“ der psychoanalytischen „Technik“ außer Acht lässt, kann er „Tüchtigkeit“ an die Stelle von „Mündigkeit“ setzen. Ja, so ist die ‚Rettung’ der Psychoanalyse unter Hitler zu verstehen: Mit Hilfe der „Technik“, die Müller-Braunschweig 1933 im Reichswart anpries, konnten „unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen“ erzogen werden. Da war Müller-Braunschweig noch nicht der Kontrahent, da war er noch der Zwillingsbruder Schultz-Henckes, der ein Jahr später, 1934, den programmatischen Aufsatz veröffentlichte Die Tüchtigkeit als psychotherapeutisches Ziel.

Die Psychoanalyse ist ‚per se’ keine emanzipatorische Theorie und Praxis, wenn sie ohne Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontexts praktiziert wird, in dem sie stattfindet. Wenn sich der Psychoanalytiker selbst mit Blindheit schlägt, wird er zum Mohr, der gehen kann, sobald er seinen Auftrag erfüllt hat. Die Bemühungen dieses Mohrs, sich wieder weiß zu waschen, sind vergebens. In diesem Sinn hat Helmut Dahmer auch das Vorwort für Peglaus Buch verfasst, aus dem ich abschließend zitiere: „Dass sich die konformistischen Psychoanalytiker nach 1945 wie die Mehrheit ihrer deutschen Landsleute in die Derealisierung flüchteten, ihre Spuren zu verwischen suchten und sich über ‚Belastendes’ hinwegschwindelten, ist für Freudianer, die sich im Wesentlichen mit dem Vergessen und der Erinnerung beschäftigen, beschämend, verrät aber auch ein schlechtes Gewissen, eine Ahnung von dem, was versäumt wurde und was verloren ging.“ Verlorenes kann man aber wieder finden – und dazu tragen die beiden hier besprochenen Bücher in ausgezeichneter Weise bei.

Literatur

Ash, M.G. (2012): Was heißt „Psychoanalyse in Wien nach 1938“? Allgemeine Einleitung. In: Ders. (Hg.): Materialien zur Geschichte der Psychoanalyse in Wien 1938-1945. Frankfurt/M. (Brandes & Apsel), 10-48.

Beit-Hallahmi, B. (2004): Authoritarianism and Personality. Some Historical Reflections. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23, 173-218.

Fallend, K. Nitzschke, B. (1999): ‚Diplomatisches’ Konstrukt. Eine Erwiderung auf Michael Schröters Erzählung der Geschichte des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV in den Jahren 1933/34. Psyche – Z. Psychoanal 53,77–83

Friedrich, V. (1990): Der 13. Internationale Psychoanalytische Kongreß 1934 – Seine Bedeutung in der psychoanalytischen Bewegung. Dokumentation. In: Gidal, T. N. (Hg.): Die Freudianer auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1934 in Luzern. München (Verlag Internationale Psychoanalyse), 154–171.

Hermanns, (2010): Die Gründung der DPV im Jahre 1950 – im Geiste der „Orthodoxie“ und auf der Suche nach internationaler Anerkennung. Psyche – Z. Psychoanal 64, 1156-1173.

Herz, T. (1996): Die „Basiserzählung” und die NS-Vergangenheit. Zur Veränderung der politischen Kultur in Deutschland. In: Clausen, L. (Hg.): Gesellschaften im Umbruch: Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995. Frankfurt/M. (Campus), 91-109. Aufrufbar unter: http://www.ssoar.info/ssoar/View/?resid=17136.

Kreuzer-Haustein, U. (2013): Die Beziehungsgeschichte von DPV und DPG 1945 bis 1967: Offene und verborgene Auseinandersetzungen mit der NS-Geschichte. Psyche – Z. Psychoanal 67, 715-734.

Lowenfeld, H. (1975): [Book review: Dahmer, H., Libido und Gesellschaft, 1973]. Psychoanalytic Quarterly 44, 462-465.

Nitzschke, B. (1997): „Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden“. Voraussetzungen, Umstände und Konsequenzen des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV in den Jahren 1933/34. In: Fallend, K. & Nitzschke, B. (Hg.): Der ‚Fall’ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1997, 68-130. Neuausgabe: Giessen (Psychosozial-Verlag) 2002, 83-139.

Nitzschke, B. (2010): GROSS REICH FROMM. Der Wille zur Macht. Die Sehnsucht nach Liebe. In: Felber, W. Götz von Olenhusen, A., Heuer, G. M. & Nitzschke, B. (Hg.): Otto Gross, Psychoanalyse und Expressionismus. 7. Internationaler Otto Gross Kongress Dresden, 3. bis 5. Oktober 2008. Marburg (LiteraturWissenschaft.de), 32-61.

Parin, P. (1974): [Buchbesprechung: Dahmer, H., Libido und Gesellschaft, 1973]. Psyche – Z. Psychoanal 28, 80-82.

Pollmann, A. (2013): Eine textkritische Analyse der Protokolle zu den Mitgliederversammlungen der IPV in Zürich 1949 und in Amsterdam 1951. Psyche – Z. Psychoanal 67, 759-769.

Richardi, H.-G. (1995): Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau. München (Piper).

Schröter, M. (1998): Manichäische Konstruktion. Kritik an zwei Studien über Wilhelm Reich und seine Konflikte mit der DPG/IPV (1933–34). Psyche – Z. Psychoanal 52, 176–196.

Schröter, M. (2009). „Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten …“ Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936. Psyche – Z. Psychoanal 63, 1085-1130.

Schröter, M. (2010): Wenn man dem Teufel den kleinen Finger reicht … DPG und IPV unter dem Druck des Nazi-Regimes (1933-1938). Psyche – Z. Psychoanal 64, 1134-1155.

Thomä, H. (1963/64): Die Neo-Psychoanalyse Schultz-Henckes. Eine historische und kritische Betrachtung. Psyche – Z. Psychoanal 17, 44–79 u. 83–128.

 



[i] Rezension der Bücher:

Peglau, Andreas: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Giessen (Psychosozial-Verlag) 2013..

Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über die Freudsche Linke. Dritte, erweiterte Auflage. Münster (Westfälisches Dampfboot) 2012.

 

[ii] Zitate aus den hier besprochenen Büchern weise ich nicht gesondert aus. Literatur, die ich zur Verdeutlichung der Thesen der Autoren zusätzlich herangezogen habe, wird entsprechend zitiert und in einem Literaturverzeichnis angeführt.