Helmut
Dahmer:
Divergenzen. Holocaust, Psychoanalyse, Utopia.
Münster (Westfälisches Dampfboot)(2009)
Helmut Dahmers Aufsätze aus dem letzten Drittel des vergangenen und
dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zu den Themen »Holocaust,
Psychoanalyse, Utopia« liegen jetzt auch als Ensemble, das heißt als
Buch vor. So ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts noch etwas rascher
und leichter nachzuvollziehen in ihren sozial-politischen und
sozial-psychologischen Zusammenhängen, die Dahmer anhand vieler
Einzelbeispiele rekonstruiert und mit den Mythen konfrontiert, die die (Selbst-)Erkenntnis
verhindern, dass diese von Menschen gemachte und an Menschen exekutierte
Geschichte der Kriege und Massaker, Pogrome und ethnischen Säuberungen
den Verdammten dieser Erde die Hölle, jenem Fünftel der
Erdbevölkerung aber, das heute – ohne Rücksicht auf die
Lebensgrundlagen aller kommenden Generationen zu nehmen – 90 Prozent
aller Güter konsumiert, den (vermeintlichen) Himmel auf Erden beschert
hat.
Die Verdammten dieser Geschichte akzeptieren ihr Schicksal zwar nicht
immer klaglos, doch ihre Rebellion lässt sich mit Rückgriff auf
entsprechende Techniken (zum Beispiel durch das Schüren von
Fremdenangst) nur zu leicht autoritär lenken, da die Normen, die der
Aufrechterhaltung der Herrschaftsstrukturen dienen, die den Interessen
der politisch Unterdrückten und sozial Ausgebeuteten objektiv
widersprechen, in der Kindheit bewusstlos verinnerlicht wurden – und
im späteren Leben ebenso bewusstlos befolgt werden. Derart zugerichtet
sind die infantil fixierten Erwachsenen dann als jene Zombies zu
gebrauchen, die als Räder im Getriebe massenfeindlicher
Massenbewegungen funktionieren. Und in wirtschaftlichen Krisenzeiten
kann so aus psychisch und sozial isolierten Einzelnen die Masse williger
Helfer geformt werden, die im Dienste eines vorgespiegelten Gemeinwohls
– seien es »Nation«, »Volksgemeinschaft«, »Arbeiterklasse« oder
Ähnliches – die Macht- und Profitinteressen einiger weniger schützt
und Zigmillionen in noch größeres Elend stürzt.
Dahmer analysiert solche Zusammenhänge im ersten Teil seines Buches
anhand ausgewählter Ereignisse aus der bundesrepublikanischen Zeit nach
1945, Ereignisse, die durch staatstragende Fest- und Gedenkreden,
Leitartikel und Bekenntnisschreiben eher verdunkelt als erhellt wurden.
Er rückt diese Ereignisse samt der Kommentare, die ihnen gewidmet
wurden, nun aber in das grelle Licht, das sie verdienen, wobei er unter
Rückgriff auf Freud und Marx argumentiert, also jedem Zeitgeist
widerspricht, mag der sich nun tiefschwarz, rotgrün oder gelbblau
drapieren. Er steht damit in einer Tradition, die Max Horkheimer
begründete, der sich dabei auf (den später sowohl aus der Frankfurter
Schule wie aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
ausgegrenzten) Erich Fromm stützen konnte, der wiederum bei der
Abfassung des »Sozialpsychologischen Teils«, den er für die von
Horkheimer 1936 herausgegebenen Studien über Autorität und Familie
schrieb, auf die Untersuchungen über Charakter und politische Ökonomie
(sprich: Kapitalismus) zurückgreifen konnte, die der Freudo-Marxist
Wilhelm Reich ab Mitte der 1920er und in den frühen 1930er Jahren
verfasst hatte.
In einem Aufsatz, der unter dem Titel »Ja-Sager und Weißwäscher«
erstmals 1983 erschienen ist – und zwar in der Psyche, die
Dahmer von 1968 bis 1992 als verantwortlicher Redakteur betreute, wobei
er nach dem Tod von Alexander Mitscherlich (1982) auch einer der drei
Herausgeber dieser Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre
Anwendungen wurde – spießt Dahmer den »mit lebhaftem Beifall
aufgenommenen Vortrag« Hermann Lübbes auf, den dieser dezidierte
Gegner der 68er anlässlich des 50. Jahrestags der so genannten
»Machtergreifung« gehalten hatte. Lübbe sprach damit seinen Zuhörern
im Berliner Reichstagsgebäude aus dem Herzen – und ihnen und all den
anderen Deutschen draußen im Lande den Mut zu, endlich wieder stolz auf
ihre Geschichte zu blicken. Zwei Jahrzehnte später, am 8. Mai 2001,
jetzt waren auch die Brüder und Schwestern von drüben mit im Boot,
durfte dann noch etwas mehr gesagt werden, nämlich dies: »Nur ein
Stück von jenem Enthusiasmus, den der Hitler vor und vor allem nach
1933 erweckte, würde reichen, alle unsere Probleme zu lösen. […]
Statt dessen sind heute auf breiter Front die Miesepeter am Werk.«
In »Proud to be a German?« kommt Dahmer auf diese und andere
Sentenzen zurück, die 2001 in Berlin beim Spiegel-Forum »Die
Gegenwart der Vergangenheit« geäußert wurden. Auf dem Podium saßen
damals: Wolfgang Schäuble, Brigitte Hamann, Arnulf Baring und Joschka
Fischer. Letzterer hatte 1999 als Außenminister, der er sein musste,
bevor er Pipeline-Propagandist werden konnte, dafür gesorgt, dass im
Kosovo kein »zweites Auschwitz« eintreten würde. Dahmer fragt unter
der Überschrift »Die NATO und das Selbstbestimmungsrecht« ketzerisch
nach, »ob die NATO künftig auch andernorts – […] also etwa im
Baskenland, in Türkisch-Kurdistan oder in der Westbank – für die
Autonomie und Sezessionsrechte von unterdrückten Ethnien kämpfen
wird«?
Wer solche und ähnliche Fragen stellt, der macht sich nicht überall
beliebt. Wie unbeliebt Dahmer schließlich wurde, erfährt der geneigte
Leser in dem – bescheiden »Anhang. Materialien für eine Geschichte
der Psychoanalyse« genannten – Abschnitt des Buches, in dem der Autor
die Dokumente (in erster Linie Briefe) zusammengestellt hat, die den
Skandal beleuchten, in dessen Verlauf er seinen Posten als Redakteur und
Mitherausgeber der Psyche verlor. Hauptprofiteur dieses von der
Mitherausgeberin Margarete Mitscherlich 1992 eingefädelten und vom
Verlagseigner Michael Klett wohlwollend akzeptierten Coups war
Hans-Martin Lohmann (der Jahre später im Dissens mit seiner vormaligen
Förderin aus der Redaktion ausschied), während der andere
Mitherausgeber, der unter Hitler aus »rassischen« Gründen verfolgte
Lutz Rosenkötter, damals zu Dahmer stand und mit ihm die
Herausgeberposition aufgeben musste.
Bereits beim »Internationale Psychoanalytischen Kongreß«, der 1985
in Hamburg stattfand, hatte Janine Chasseguet-Smirgel, die damalige
Vizepräsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, in
einem Vortrag ausgeführt, »70%« der Artikel in der von Dahmer
verantwortlich redigierten Psyche seien »sozio-politisch«
ausgerichtet. Das klingt für den mit der Geschichte der Psychoanalyse
nicht vertrauten Leser harmlos. Tatsächlich bediente sich die
französische Psychoanalytikerin jedoch eines keineswegs harmlosen
Codewortes: »Sozio-politisch« steht für Abgrenzung und Ausschluss –
so lautete auch das Urteil, das den Arbeiten des Freudo-Marxisten
Wilhelm Reich anhing, das zu dessen geheimbündlerisch in Szene
gesetztem Ausschluss aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
(DPG) und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) in
den Jahren 1933/34 geführt hatte. Der IPV-Präsident Ernest Jones
warnte deshalb in der Eröffnungsansprache, die er beim ersten nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs abgehaltenen »Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß« in Zürich 1949 hielt, denn auch noch
einmal mit den folgenden Worten ausdrücklich vor »sozio-politischen«
Verunreinigungen der wahren Psychoanalyse:
»The temptation is understandably great to add socio-political
factors to those that are our special concern, and to re-read our
findings in terms of sociology, but it is a temptation which, one is
proud to observe, has, with very few exceptions [gemeint war Wilhelm
Reich], been stoutly resisted.«
Die Umstände des Ausschlusses von Wilhelm Reich aus der DPG und der
IPV sowie die Rechtfertigung dieses Ausschlusses durch vormalige und
heutige »Ja-Sager und Weißwäscher« der vereinskonformen
psychoanalytischen Geschichtsschreibung rekonstruiert Dahmer im zweiten
Teil seines Buches in den Aufsätzen »Psychoanalytiker in Deutschland,
1933–1951« und »Psychoanalytische Vereinsgeschichte, ›anders‹
erzählt«. Darin konfrontiert er die Aussagen damaliger und
heutiger Autoren mit Fakten, die sie teils ignorieren und teils so
uminterpretieren mussten, dass sie nicht mehr allzu schmerzlich
empfunden werden konnten. Wie immer man die Geschichte aber auch dreht
und wendet – die krude Tatsache, dass die ab 1936 »judenreine« und
im selben Jahr in das von Matthias Göring geleitete Reichsinstitut für
psychologische Forschung und Psychotherapie eingetretene und auf Hitlers
Mein Kampf eingeschworene DPG bis zu ihrer Selbstauflösung 1939
eine ordentliche Zweigvereinigung der IPV blieb, ist ebenso wenig aus
der Welt zu schaffen wie die Tatsache, dass Wilhelm Reich in seinen »sozio-politischen«
Beiträgen vor und nach 1933 vor dieser Entwicklung gewarnt und unter
Berufung auf die psychoanalytische Aufklärung zum Widerstand gegen das
Hitler-Regime aufgerufen hatte. Sein Ausschluss aus der DPG/IPV war denn
auch die Conditio sine qua non für die Fortexistenz der Psychoanalyse
im Dritten Reich.
Dahmers Beurteilung des Werkes und der Person Wilhelm Reichs ist
jedoch durchweg differenziert und fällt deshalb keineswegs unkritisch
aus. Er zeigt am Beispiel dieses Utopisten wie an dem all der anderer
Dissidenten, die er im dritten Teil des Buches vorstellt (sie reichen
von Rimbaud bis zu Trotzki, von Radek bis zu Bloch), wie rasch der
Impuls, für Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit einzutreten, in
Rechthaberei umschlagen und zu neuer Knechtschaft führen kann.
Aufklärung bleibt denn auch das Anliegen Dahmers, der im Vorwort seines
Buches mit gebotener Zurückhaltung schreibt: »Was die hier
versammelten Stellungnahmen eint, ist der Wille, die verhängnisvolle
Rechtgläubigkeit von Menschen, deren ›Identität‹ an ihrer
Mitgliedschaft in bestimmten Gruppen (Cliquen, Sekten, Parteien oder ›Volksgemeinschaften‹)
hängt, Paroli zu bieten.« Das ist im besten Sinne freudianisch
formuliert! Und weil das so ist, soll Freud hier auch zu Wort kommen:
»Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu
unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt
durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben […].
Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere
im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür
vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der
›kompakten Majorität‹ zu verzichten.«
Ja, »Divergenzen« haben ihren Preis. Dieser Preis lohnt die Mühe,
die dem Konformismus und dem Opportunismus fremd ist.
Bernd Nitzschke
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