Bernd
Nitzschke Die
Fallgeschichte als Novelle Plädoyer
für ein unzeitgemäßes Konzept Psychotherapie Forum 13, 2005, S. 96-99 Korrespondenzadresse: Dr. Bernd Nitzschke, Stresemannstr. 28, D-40210 Düsseldorf Email:
bernd.nitzschke@t-online.de Zusammenfassung
Das Material, das einer Fallgeschichte zugrunde liegt, ist das Resultat eines Interaktionsprozesses zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. Insofern ist bereits dieses Material durch „subjektive“ Bedingungen strukturiert. Der Einwand, die Fallgeschichte, die dieses Material nachträglich in einer übergreifenden Sinngeschichte zusammenfaßt, widerspreche dem naturwissenschaftlichen wie dem Objektivitätsideal der empirischen Sozialforschung, ist durchaus berechtigt, berücksichtigt jedoch nicht, daß diese Konstruktion der narrativen Arbeitsweise unseres Gedächtnisses entspricht, das eine schier endlose Zahl von Ereignissen (Erlebnissen) in Geschichten (die einen Anfang und ein Ende haben) strukturiert. Aus diesem Grund erfolgt ein Plädoyer zugunsten der Fallgeschichte, die über Entstehung, Verlauf und Behandlung einer psychischen Erkrankung exemplarisch Auskunft gibt. Abstract The
material upon which a case history is based is the result of a process of
interaction between therapist and patient; to that extent such material is
structured according to “subjective” conditions. There is basis for the
criticism that recasting such material after the fact as a wider-reaching story
invested with meaning may fall short of the scientific ideal of objectivity
expected of empirical social research. Such a construction is nonetheless closer
to the reality of how our memory works: it lends structure to an infinite number
of events (experiences) and turns them into stories that have a beginning and an
end. For this reason we make a plea for a case history which gives detailed
information on the origin, course and treatment of a psychic illness. Schlüsselworte Fallgeschichte – Interaktionsgeschichte – Konstruktion – Rekonstruktion – Nachträglichkeit – Authentizität – Erzählen Keywords Case
history – History of interactions – Construction – Reconstruction – Deferred
action –Authenticity – Story telling Die
Fallgeschichte als Novelle Plädoyer
für ein unzeitgemäßes Konzept Schreiben gehört zum Alltag des Psychotherapeuten. Jährlich werden Tausende von Schriftstücken (Anamnesen, Arztbriefe etc.) verfaßt. Dabei hat sich in den letzten Jahrzehnten (zumindest in deutschsprachigen Schriften) der Schwerpunkt verlagert: Angaben zur Biographie und zur sozialen Lebenssituation der Patienten sind weniger umfangreich, Darstellungen der Patient-Therapeut-Beziehung haben hingegen an Umfang zugenommen. Diesem Befund entspricht die wiederholt aufgestellte Forderung von Wissenschaftlern, Fallgeschichten im klassischen Sinn, die, einem Wort Freuds folgend, wie „Novellen“ zu lesen sind, seien zu subjektiv und deshalb durch Interaktionsgeschichten zu ersetzen, die möglichst genau wiedergeben, was sich zwischen diesem Patienten und diesem Therapeuten ereignet hat. Auf diese Weise sei der vermeintlichen Willkür zu begegnen, die dem Abfassen novellenartiger Krankengeschichten zugrunde liege, beziehungsweise die Objektivität zu erreichen, die dem Ideal der empirischen Sozialwissenschaften entspricht, das die klassische Falldarstellung verfehle. Einwände gegen eine zu weitgehende Entfernung der Krankengeschichte vom Material, das ihr zugrunde liegt, hatte nun allerdings schon Freud erhoben. Er wußte aber auch, daß das Material, das den Krankengeschichten zugrunde liegt, aufgrund der Arbeitsweise unserer Erinnerung immer nur bruchstückhaft zu gewinnen und Krankengeschichten deshalb stets nur nachträgliche Konstruktionen sein können. Im vorliegenden Beitrag werden Freuds Beiträge zum Thema ausführlich referiert. Ergänzend wird darauf hingewiesen, daß unser Gedächtnis narrativ arbeitet und wir die endlose Zahl der Ereignisse (Erlebnisse) – so oder so – verdichten müssen, wenn wir Struktur und damit Sinn und Bedeutung gewinnen wollen. Aus diesem Grunde wird die Fallgeschichte als „Novelle“ rehabilitiert. Jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, doch das Schreiben in der Psychotherapie ist endlos. Am Anfang steht der Examensbericht, der „Fall“, an dem der Kandidat demonstriert, was er gelernt hat und mit dem er zeigen will, daß er nun auch zum Kreis der anerkannten Psychotherapeuten gehört. Gehört er dann zur Zunft, geht das Schreiben weiter: Erstinterviewprotokolle, Anamnesen, Arztbriefe – und immer wieder Berichte an den Gutachter, der davon überzeugt werden soll, daß im vorliegenden „Fall“ psychotherapeutische Behandlung notwendig und mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen wäre, weshalb die Krankenkasse die Kosten zu übernehmen hätte. Angesichts dieses jährlich um Tausende und aber Tausende Schriftstücke wachsenden Papierbergs ist es erstaunlich, wie marginal das Thema „Schreiben in der Psychotherapie“ in einschlägigen Lehrbüchern abgehandelt wird. Das Stichwort „Fallgeschichte“ fehlt oft ganz (Heigl-Evers, Heigl, Ott 1993; Senf, Broda 1996; Ahrens1997). Das mag auch damit zu tun haben, daß Fallgeschichten im klassischen Sinn kaum noch geschrieben werden – wenn es sie denn je gegeben hat, woran eine Äußerung Freuds zweifeln läßt, die lautet: „Ich kann (…) weder eine Behandlungs- noch eine Krankengeschichte geben, sondern werde mich genötigt sehen, die beiden Darstellungsweisen miteinander zu kombinieren“ (1918, 36). Rudolf hat anhand eines Vergleichs der von (psychotherapeutischen) Weiterbildungsteilnehmern verfaßten Anamnesen aus den 1960er und 1990er Jahren festgestellt, daß Angaben zur Biographie und zur aktuellen sozialen Lebenssituation des Patienten im Umfang abgenommen und Schilderungen des „interpersonellen Geschehens zwischen Patient und Therapeut“ (1993, 29) zugenommen haben. Sollte es die „literarisch zum Kunstwerk geratene Krankengeschichte“ also je gegeben haben, dann sind „Berichte über Behandlungen, die in zunehmendem Maße dem Regelkanon der empirischen Sozialforschung unterworfen werden“ (Kächele 1993, 37), inzwischen an ihre Stelle getreten. Die Forderung nach dieser Unterwerfung hat Adolf-Ernst Meyer (1993) polemisch-witzig unter dem Titel zusammengefaßt: „Nieder mit der Novelle als Psychoanalysedarstellung – Hoch lebe die Interaktionsgeschichte“! Er spielte damit auf eine oft zitierte Äußerung an, die sich in Freuds Schilderung des Falles „Fräulein Elisabeth v. R.“ findet, ein Bericht, der allerdings eine Interaktionsgeschichte par excellence darstellt, woraus sich ergibt, daß Freud – anders als die Kritiker der Fallgeschichte – die sprachlich dichte („dichterische“) Gestaltung eines Falls keineswegs als Gegensatz zu einer Interaktionsgeschichte gesehen hat; vielmehr hat er auf die Eigentümlichkeit des Gegenstands hingewiesen, die diese Darstellungsform begünstigen. Freud schreibt: „Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin (…) erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes (…) verantwortlich zu machen ist.“ Weiter heißt es, eine „eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist“, erlaube „bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen“. Und die Schlußfolgerung lautet: „Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen“ (Freud 1895, 227). Darum geht es: um den Zusammenhang der Symptome mit früher Erlebtem, aus dem sich der Sinn der gegenwärtigen Beschwerden und Probleme ergibt. Adolf-Ernst Meyer hat aber auch recht: „Hinsichtlich Authentizität und Vollständigkeit sind automatisch-elektronische Registrierungen unübertroffen“ (1993, 76). Doch darum geht es bei der „Novelle“ nicht. Sie will, wie Georg Lukács treffend bemerkte, den Sinn eines je einzigartigen „Menschenlebens durch die unendliche sinnliche Kraft einer Schicksalsstunde“ verdeutlichen. Das ist gewagt. Doch soll es deshalb nicht zeitgemäß sein? Sollen ein, zwei, drei ICD-Ziffern über einen Menschen Genaueres aussagen als seine Charakterisierung durch eine literarische Figur, die einen Konflikt und die spezifische Verarbeitung dieses Konflikts symbolisiert? Michael Kohlhaas, Kaspar Hauser, Felix Krull … Wem stünde kein lebhafteres Bild bei diesen Namen vor Augen als bei den Ziffern F 60.0, F 62.0, F 68.8? Und spielt „die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen“ im Bericht an den Gutachter, der der Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung zustimmen soll, etwa keine Rolle? Wie ist dieser Bericht denn aufgebaut? Richtig – wie eine Novelle, die sich durch die „Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln“ ergibt! Was war gestern? Was ist heute? Klagen – warum jetzt? Wie ordnet der Patient diese Klagen ein (Selbstbild)? Wie ordnet der Therapeut den klagenden Patienten ein (Krankheitseinsicht, Therapiemotivation)? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen heute und damals (Psychodynamik)? Und wie lassen sich die defizitären, verwirrenden, konflikthaften, mißbräuchlichen Beziehungen von gestern heute wieder beleben, morgen bearbeiten und übermorgen ändern (Behandlungsplan und Prognose)? Freud war als Naturwissenschaftler sozialisiert und dem wissenschaftlichen Objektivitätsideal seiner Zeit verpflichtet. Deshalb mußte er Zweifel an der Krankengeschichte als Novelle äußern. Die Kritiker der Fallgeschichte haben dieses alte Ideal gegen ein neues eingetauscht. Sie orientieren sich jetzt am „Regelkanon der empirischen Sozialforschung“. Freuds Annahme, es könnte an der „Natur des Gegenstandes“ liegen, wenn sich Krankengeschichten zu Novellen formen, ist damit jedoch noch nicht widerlegt. Vielmehr hat sich die Fragestellung verändert. Bei Rudolf (1993, 26 f.) heißt es jetzt: „Nachdem der innere Aufbau der diagnostischen Fallgeschichte als professionelle Verarbeitung einer diagnostischen Interaktion nachvollzogen wurde, stellt sich die schwierige Aufgabe ihrer Evaluierung: Gibt es Gütekriterien für Fallgeschichten?“ Wenn es sie geben sollte, müssen sie etwas mit dem Umfang und der Qualität der Informationen zu tun haben, auf denen die Fallgeschichte beruht, sowie mit den Regeln der Informationsverarbeitung, deren Ergebnis die Fallgeschichte ist. Sie ist immer nachträglich hergestellt, eine Kompromißbildung zwischen dem damals Erlebten und dem heute Beurteilten, wobei das Erleben und Urteilen des Patienten nachvollziehend verstanden werden muß, bevor alternative Beurteilungen angeboten werden können, die dann vielleicht zu einem veränderten Erleben führen. Also ist die Fallgeschichte das Resümee ineinandergreifender Interaktionsgeschichten und der daraus gezogenen Schlußfolgerungen. Zunächst beruht sie allerdings auf disparaten Erzählungen des Patienten über abwesende Dritte (Eltern, Geschwister, Lebenspartner etc.). Und am Ende ist sie eine Erzählung über den Patienten, der jetzt der abwesende Dritte ist, über den einem anderen berichtet wird. Und dieser Bericht ist immer absichtsvoll; er soll immer etwas bezwecken: der Kandidat will die Prüfung bestehen, der Diagnostiker ein Urteil begründen, der Berichterstatter eine Kassenfinanzierung erreichen. Das sind nur einige der bewußten Intentionen, zu denen sich unbewußte Motive gesellen. Schließlich ist der Therapeut an den Platz gerückt, den in der ursprünglichen Erzählung der klagende Patient einnahm; jetzt klagt der Therapeut professionell (d.h. diagnostizierend) über den Patienten. Insofern ähnelt die Fallgeschichte zunächst einmal einem Gerücht: Der abwesende Dritte kennt die Geschichte nicht, die über ihn erzählt wird, und kann deshalb das Bild, das andere von ihm zeichnen, nicht weiter beeinflussen. Doch der Umgang mit ihm wird künftig durch dieses Bild beeinflußt. Das ist aber auch das Kennzeichen der Magie: Zwei Menschen sprechen über einen abwesenden Dritten und erzeugen so ein Bild von ihm, das gerade deshalb unheimliche Wirkung entfalten kann, weil der Betroffene von der Existenz dieses Bildes, nach dem er beurteilt wird, nichts weiß. Unter diesem Aspekt kann man schließlich auch die von Daniel Paul Schreber selbst aufgezeichnete Krankengeschichte (1903/2003) lesen – um sie sodann mit den Gerüchten (Krankengeschichten) zu vergleichen, die, beginnend mit der des Psychiaters Guido Weber, über ihn verbreitet (geschrieben) worden sind (Lothane 2004). Die Frage nach den „Gütekriterien“, denen eine Fallgeschichte zu genügen hätte, führt also zurück zur Frage, ob es überhaupt Möglichkeiten gibt, sie von einem Gerücht zu unterscheiden. Die Frage, wie das Material berücksichtigt und verarbeitet wird, das der Fallgeschichte zugrunde liegt, spielt dabei eine nachrangige Rolle, die allerdings nicht unwichtig ist: „Sowie man begonnen hat, sich von dem Material, aus dem man schöpfen soll, zu entfernen, läuft man Gefahr, sich an seinen Behauptungen zu berauschen und endlich Meinungen zu vertreten, denen jede Beobachtung widersprochen hätte“ (Freud 1918, 76). Vorgelagert ist die Frage, welches Material dem Therapeuten überhaupt zur Verfügung steht. Das hängt entscheidend von der Interaktion ab, die sich zwischen dem Patienten und dem Therapeuten ergibt: Was hat der Patient diesem Therapeuten gesagt? Und was hat er diesem Therapeuten verschwiegen? „Ich kann mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben. Sie können zwar über diese oder jene Lebenszeit den Arzt ausreichend und zusammenhängend informieren, dann folgt aber eine andere Periode, in der ihre Auskünfte seicht werden, Lücken und Rätsel lassen (…). Die Zusammenhänge, auch die scheinbaren, sind meist zerrissen, die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher (…). Die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte, soweit sie mit der Krankheitsgeschichte zusammenfällt, ist nicht nur charakteristisch für die Neurose, sie entbehrt auch nicht einer großen theoretischen Bedeutsamkeit. Dieser Mangel hat nämlich folgende Begründungen: Erstens hält die Kranke einen Teil dessen, was ihr wohlbekannt ist und was sie erzählen sollte, bewußt und absichtlich aus den noch nicht überwundenen Motiven der Scheu und Scham (Diskretion, wenn andere Personen in Betracht kommen) zurück; dies wäre der Anteil der bewußten Unaufrichtigkeit. Zweitens bleibt ein Teil ihres anamnestischen Wissens, über welchen die Kranke sonst verfügt, während dieser Erzählung aus, ohne daß die Kranke einen Vorsatz auf diese Zurückhaltung verwendet: Anteil der unbewußten Unaufrichtigkeit. Drittens fehlt es nie an wirklichen Amnesien, Gedächtnislücken, in welche nicht nur alte, sondern selbst ganz rezensente Erinnerungen hineingeraten sind, und an Erinnerungstäuschungen, welche sekundär zur Ausfüllung dieser Lücken gebildet wurden“ (Freud 1905, 173ff.). Die Erzählung, die der Therapeut zu hören bekommt, hat aber nicht nur mit dem Gedächtnis des Patienten, sie hat auch etwas mit der Beziehung zwischen diesem Patienten und diesem Therapeuten zu tun. Warum schämt sich der Patient vor diesem Therapeuten, während er bei einem anderen Therapeuten ohne Scheu erzählen kann? Warum fällt dem Patienten hier etwas ein, was er dort nie denken würde? Die Beziehung zwischen diesem Patienten und diesem Therapeuten entscheidet über das Material, das in dieser Fallgeschichte gestaltet zum Ausdruck kommt. Die hier und jetzt konkrete Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten ist nun allerdings kein Gerücht. Und hinsichtlich „Authentizität und Vollständigkeit“ sind „automatisch-elektronische Registrierungen“ dessen, was vor sich geht, „unübertroffen“ (Meyer 1993, 76). Und dennoch: Der Freudschen Theorie folgend sollten Fallgeschichten nicht nur über das berichten, was sich „automatisch-elektronisch“ aufzeichnen läßt; vielmehr sollten sie auch re-konstruieren, was dort und damals zwischen dem Patienten und seinen wichtigsten Interaktionspartnern der Fall war, dann als Interaktionserfahrung verinnerlicht worden ist und sich jetzt in der Interaktion mit dem Therapeuten wieder neu äußert. „Das Merkwürdigste ist, daß der Patient nicht dabei bleibt, den Analytiker im Lichte der Realität zu betrachten als den Helfer und Berater, den man überdies für seine Mühewaltung entlohnt und der sich selbst gern mit der Rolle etwa eines Bergführers auf einer schwierigen Gebirgstour begnügen würde, sondern daß er in ihm eine Wiederkehr – Reinkarnation – einer wichtigen Person aus seiner Kindheit, Vergangenheit erblickt und darum Gefühle und Reaktionen auf ihn überträgt, die sicherlich diesem Vorbild gegolten haben. Diese Tatsache der Übertragung erweist sich bald als ein Moment von ungeahnter Bedeutung, einerseits ein Hilfsmittel von unersetzlichem Wert, anderseits eine Quelle ernster Gefahren. Diese Übertragung ist ambivalent, sie umfaßt positive, zärtliche, wie negative, feindselige Einstellungen gegen den Analytiker, der in der Regel an die Stelle eines Elternteils, des Vaters oder der Mutter, gesetzt wird“ (Freud 1940, 100). All das spielt sich in der Beziehung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten ab – und vieles davon kann nicht elektronisch aufgezeichnet werden. Ob Gefühle, Wünsche, Beziehungsphantasien, die der Patient hier und jetzt real erlebt, vom Therapeuten als Übertragungsreaktionen interpretiert werden oder nicht, das hängt von der Theorie ab, mit deren Hilfe er das Geschehen versteht. Gemäß dieser Theorie erfolgen Verdichtungsprozesse, die unzählige Eindrücke bündeln. So gehen wir alle vor, wenn wir die Welt erleben, auch wenn wir uns der Theorien nicht bewußt sein müssen, denen wir folgen, wenn wir unsere Erlebnisse verdichten. Auch die Interaktionsempiriker und Novellen-Gegner entkommen diesem Zwang nicht. Sie verwerfen zwar die subjektiv-individuelle Form der Verdichtung, rufen dann aber doch wieder zu einer kollektiven (bzw. objektiven) Verdichtung auf. Das geschieht mit diesen Worten: „Gegen die Informations-Überflut sind beobachterübereinstimmende und valide Verdichtungs-Operationalisierungen zu entwickeln“ (Meyer 1993, 78). So oder so: „the novelization of life“ (Lothane – persönliche Mitteilung) ist unvermeidlich. Mit anderen Worten: ohne (Ver-)Dichtung geht es nicht. Denn nur wenige Idioten sind in der Lage, Telefonbücher auswendig zu lernen. Der Rest der Menschheit erinnert sich mit Hilfe von Geschichten. Ich erzähl, du hörst mir zu, also bin ich … Deshalb interessiert mich auch der andere Mensch nicht als Anhäufung von tausend Erlebnissen, sondern als Held seiner (Lebens-)Geschichte, die eine große Interaktionsgeschichte ist, die in viele kleine Interaktionsgeschichten zerfällt. Und jeder weiß, daß die Person in tausend Einzelheiten zerspringen würde, würden wir nicht tagein, tagaus an einer Geschichte dichten, die die Welt im Innersten (unseres Erlebens) zusammenhält. Diese Arbeit setzen wir sogar noch nachts im Traum fort. Wir können gar nicht anders – als die Unzahl unserer Erlebnisse in einer großen Erzählung zu sammeln, um sie so in einem Bedeutungsrahmen festzuhalten. Und damit ist schließlich die Frage beantwortet, warum wir einen Text von Freud, der hundert Jahre alt ist und wissenschaftlich in mancher Hinsicht überholt sein mag, auch noch heute mit Gewinn lesen. Das liegt „in der Natur des Gegenstandes“, also daran, daß wir beim Lesen eines Textes nicht nur nachdenken, sondern auch nacherleben wollen. Das gelingt aber nur, wenn der Autor das, was er weiß, auch erlebt hat. Und wenn er das, was er erlebt hat, auch noch weiß, kann er einen Zusammenhang herstellen und eine sinnvolle Geschichte schreiben, die sich wie eine Novelle liest. Literatur Ahrens, S. (1997) Lehrbuch der psychotherapeutischen Medizin. Schattauer, Stuttgart Freud, S. (1895) Studien über Hysterie. GW I, 73-312 Freud, S. (1905) Bruchstück einer Hysterie-Analyse. GW V, 161-286 Freud, S. (1918) Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. GW XII, 27-157 Freud, S. (1940) Abriß der Psychoanalyse. GW XVII, 63-138 Heigl-Evers, A., Heigl, F., Ott, J. (1993) Lehrbuch der Psychotherapie. Gustav Fischer, Stuttgart Kächele, H. (1993) Der lange Weg von der Novelle zur Einzelfallanalyse. In: Stuhr, U., Deneke, F.-W. (Hg.) Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument. Asanger, Heidelberg, 32-42 Lothane, Z. (2004) Seelenmord und Psychiatrie. Zur Rehabilitierung Schrebers. Psychosozial-Verlag, Giessen Meyer, E.-A. (1993) Nieder mit der Novelle als Psychoanalysedarstellung – Hoch lebe die Interaktionsgeschichte. In: Stuhr, U., Deneke, F.-W. (Hg.) Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument. Asanger, Heidelberg, 61-84 Rudolf, G. (1993) Aufbau und Funktion von Fallgeschichten im Wandel der Zeit. In: Stuhr, U., Deneke, F.-W. (Hg.) Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument. Asanger, Heidelberg, 17-31 Schreber, D. P. (1903/2003) Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (hg. von G. Busse). Psychosozial-Verlag, Giessen Senf, W., Broda, M. (Hg.) (1996) Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch für Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Thieme, Stuttgart |