Sigmund Freud, Nikolaj J. Ossipow: Briefwechsel 1921 – 1929. Hg. von Eugenia Fischer, René Fischer, Hans-Heinrich Otto, Hans-Joachim Rothe. Franfurt a. M. (Brandes & Apsel). 1. Aufl. 2009; 2. korrigierte und durchgesehene Aufl. 2010.
„Geehrter Herr Kollege – Welche Überraschung! Zum Glück keine
unerfreuliche. Sind Sie doch in Sicherheit bei guten Freunden und wieder
arbeitslustig. Ihre Wünsche, daß Ihr großes Vaterland bald wieder aus
seiner Krise erwachen möge, finden bei uns allen den stärksten
Anklang.“ Mit diesen Worten beginnt im Februar 1921 der (bis 1929 anhaltende)
Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Nikolaj J. Ossipow (1877-1934),
wobei zwei Drittel aller Briefe aus den Jahren 1921-23 stammen. Als Übersetzer
seiner Werke ins Russische kannte Freud Ossipow bereits seit dessen
Besuch in Wien 1910 persönlich. Aus Rußland – wo er bis zuletzt auf
den Sieg der „Weißen“ gehofft hatte – über die Türkei nach Prag
gelangt, gründete Ossipow hier eine neue psychoanalytische
Gesellschaft, die dann aber erst beim Marienbader Kongreß 1936 – also
nach Ossipows Tod – als IPV-Zweigvereinigung anerkannt wurde. Zu
diesem Zeitpunkt gehörten ihr weitere Emigranten an, die nun aber nicht
mehr aus Sowjet-Rußland, vielmehr aus Hitler-Deutschland nach Prag
gekommen waren (Otto Fenichel, Annie Reich u. a.). Die Hoffnung, die Krise in Rußland möge bald vorüber sein, die Freud
im Brief an Ossipow formuliert hatte, erfüllte sich nicht. Schon kurz
nachdem sie ausgesprochen worden war, rebellierten in Kronstadt die
Matrosen, die zur Avantgarde der Oktoberrevolution gehörten und nun
Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit forderten. Die Rote Armee
stellte im März 1921 die (Friedhofs-)Ruhe wieder her, wobei Tausende
ihr Leben verloren. Im Hungerwinter 1921/22 starben dann noch einmal
zwei Millionen an Unterernährung, nachdem bereits während des Bürgerkriegs
1917-20 acht Millionen Menschen umgekommen waren. Das Land war jetzt wüst
und leer – und die Führer des Sowjetstaats suchten nach einem Neuen
Menschen, der die Welt von gestern hinter sich lassen würde und die
Welt von morgen aufbauen sollte. Für diesen Umwandlungs- und Erziehungsprozeß schien die Psychoanalyse
ein geeignetes Mittel zu sein. Und so reüssierte die
(institutionalisierte) Psychoanalyse, während die Unterdrückung im
Lande überall zunahm: Unter Lenins und Trotzkis
Herrschaft gründete die Pädagogin Vera
Schmidt 1921 in Moskau ein Kinderheim-Laboratorium, das auf
den schönen Namen „Neue Solidarität“ getauft wurde; der
Staatsverlag gab eine Schriftenreihe heraus, in der neue Übersetzungen
Freudscher Schriften erschienen; und schließlich riefen Iwan
Ermakow und Moshe Wulff eine psychoanalytische Gruppe zur Erforschung
des künstlerischen Schaffens ins Leben, aus der 1922 die Russische
Psychoanalytische Vereinigung hervorging. All das mußte bei einem erklärten Gegner des Sowjetstaats, wie Ossipow es war, gemischte Gefühle hervorrufen. In den Briefen an Freud kritisiert er die große politische Geschichte denn auch sehr heftig – zum Beispiel die „neue Bourgeoisie“ (womit die Bolschewiken gemeint waren), die jetzt unter „Beibehaltung aller Defekte“ des Zaren-Regimes die Bevölkerung „terrorisiert“. Die kleinere Geschichte hingegen – sprich: die psychoanalytische Vereinsgeschichte – kommentiert Ossipow zurückhaltend. Nur dann, wenn er sie an Personen abhandeln kann, wird sein Groll deutlich. So wird etwa Ermakow („Der ist ein hinterlistiger paranoisch angelegter Herr, leidet an Größen- und Verfolgungswahn, sonst aber ein ziemlich begabter“, schließlich hatte er das Kinderheim-Laboratorium mitbegründet und die Herausgabe der Werke Freuds im Staatsverlag organisiert) als ein erbärmlicher Opportunist dargestellt, über den es in einem der Briefe heißt: „Er war immer streng monarchistisch gesinnt […]. Als die Bolschewiken kamen, wurde er sofort Bolschewik.“ Noch zorniger reagiert Ossipow auf einen Beitrag von Rosa Averbuch, der 1922 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse erscheint. Dabei handelte es sich um einen Sitzungsbericht der Kasaner psychoanalytischen Gruppe, der sie angehörte. Ossipow findet diesen Beitrag „geradezu ekelhaft“. Denn Averbuch läßt sich darin über „tiefe psychosexuelle Gründe“ aus, die dazu beigetragen hätten, daß sich ein Christenmensch, der sich seiner eigenen sexuellen Abgründe offenbar nicht bewußt war, der „Räteregierung“ widersetzte, als diese – wie Averbuch schreibt – orthodoxes Kirchenvermögen „zur Bekämpfung der Hungersnot“ verstaatlichte. Der arme Mann, der die Bolschewiken angegriffen hatte, stand nun vor Gericht – und konnte so zum Deutungsobjekt der Kasaner Gruppe werden. Empört über diese doppelte Verurteilung schreibt Ossipow an den „Hochgeehrten Meister“ in Wien: „Zwar ist es allbekannt, daß Tolstoi und Tolstoiierende, Marx und Marxisten, Freud und Freudianer nicht ein und dasselbe sind, aber es wird mir schwer zu Mute, wenn ich Ihre genialen Entdeckungen so profaniert sehe.“ Daraufhin erhält der „Liebe Herr Doktor“ in Prag von Freud postwendend die Antwort: „Wir haben die Aufgabe, Sitzungsberichte zu veröffentlichen, kein Recht sie zu zensurieren, und sind auch für den Inhalt nicht verantwortlich. So bringen wir auch den Unsinn, der in amerikanischen Gesellschaften produziert wird, ohne ein Wort Korrektur.“ Und überhaupt: Ossipow sollte doch nicht alles so ernst nehmen, wie es gedruckt wird, hatte der „Meister“ bereits Monate vor Erscheinen der Kasaner Deutungsbemühungen dem „Kollegen“ geraten, wobei er sich selbst als Vorbild angeboten hatte: „Sie wissen, nicht 5 % von allem, was gedruckt ist, ist überhaupt lesenswert. Wenn ich alles gelesen hätte, würde ich nie eine Zeile geschrieben haben.“ Zu solch freimütigen Bekenntnissen war Freud von Ossipow geradezu gedrängt worden. Schließlich hatte der im ersten Brief sein Anliegen Freud gegenüber so offenbart: „…wünsche ich herzlich, Ihre hochwerte Meinung über einige Kardinalfragen zu wissen. Deshalb will ich ein paar Abhandlungen schreiben und Ihre Liebenswürdigkeit benutzen, genauer gesagt missbrauchen und Sie mit deren Durchlesen belästigen.“ Fürs erste kündigt Ossipow bei dieser Gelegenheit eine Schrift über „’Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie’ von Prof. Freud, insoweit sie das sog. Normalleben betreffen“, an. Bei der weiteren Beschäftigung mit diesem Thema gelangte Ossipow zu dieser Einsicht: „Das Proprium der Sexualität ist schwer zu finden.“ Und die Schlußfolgerung – „Kurz und gut, die Sexualität ist ein Andietürklopfen“ – teilt er Freud ebenso offenherzig mit. Aus dessen Ratschlägen konnte er freilich nicht immer den Gewinn ziehen, den Freud beabsichtigte – und zwar auch dann nicht, wenn Freud seine eigenen Auffassungen so darstellte, als handle es sich dabei um Einsichten Ossipows: „Die Hauptschwierigkeit haben Sie selbst erkannt; sie liegt wohl darin, oberflächliche Analogien nicht mit wesentlichen Identitäten zu verwechseln […].“ Ossipow
veröffentlichte nichtsdestotrotz 1931 einen vor der Russischen
Philosophischen Gesellschaft in Prag gehaltenen Vortrag über
„Revolution und Traum“, dessen deutsche Übersetzung erstmals im
hier besprochenen Briefband enthalten ist. Und so kommt nun auch der
deutsche Leser in den Genuß von Erkenntnissen wie dieser: „Alle schönen
Losungen der Revolution stellen ‚falsche Verknüpfungen’ oder
‚Deckmäntel’ dar, wie sie uns nach den Forschungen Freuds so gut
aus Träumen und neurotischen Symptomen bekannt sind.“ Die Mischung von stoischer Ruhe, freundlicher Abgrenzung und milder Ironie, mit der Freud Ossipow begegnete („Ihre ‚organische Philosophie’ klingt sehr einnehmend“), wünscht der Rezensent deshalb auch den Lesern des hier besprochenen Buches. Die Herausgeber haben dazu mit großem Fleiß zu 36 Briefen in 367 Anmerkungen viel Wissenswertes und manch Überflüssiges beigetragen und einen großen Teil der Briefinhalte nicht nur gedruckt, sondern auch als Faksimile veröffentlicht. Hinzu kommen 15 Abbildungen, mit deren Hilfe man Vergangenes vergegenwärtigen kann – so etwa den adipösen Ossipow 1912 „mit unbekannter Dame“ oder den Zar Nikolaj II in „Öl auf Leinwand“. Und schließlich steht man im Geiste auch noch auf dem russischen Friedhof in Prag vor Ossipows Grab in alter (ohne Kruzifix) und in nach 1990 erneuerter (mit Kruzifix) Gestalt. Ja, Nikolaj Jewgrafowitsch Ossipow war – wie die dem Buch nebst kurzer Geschichte des Briefwechsels beigegeben werkbiographischen Essays zweier ehemaliger Weggefährten unterstreichen – ein Mann, der nicht nur im religiösen, sondern auch im philosophischen Sinn an das ewige Leben glauben konnte! Dazu befähigte ihn das „neovitalistische Credo“ – so der Psychoanalytiker Theodor Dosuzkov –, das Ossipow als „Anhänger des Panvitalismus“ ausweist, der „das Vorhandensein überräumlicher und überzeitlicher substanzieller Akteure auf allen Stufen der Natur“ zur Kenntnis nehmen konnte – so der Metaphysiker Nikolaj Lossky, mit dessen Essay der kurzweilige Band abschließt, der binnen kurzer Zeit das Interesse so vieler Lesern fand, dass man nun bereits die zweite – von Druckfehlern und kleineren Irrtümern befreite – Auflage erwerben kann. Bernd
Nitzschke (Düsseldorf)
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