Verleihung
des Lew-Kopelew-Preises 2003 Was haben der Russe Lew Kopelew, der Israeli Uri Avnery und der Palästinenser Sari Nusseibeh gemeinsam? Vielleicht dies: Jeder verkörpert auf seine Weise Humanität, das heißt: Menschlichkeit jenseits ideologisch begründeter Sauberkeitsvorstellungen, seien diese nun utopisch-revolutionär, national-chauvinstisch oder religiös-fundamentalistisch inspiriert. Und jeder hat auf seine Weise das Schicksal des Exilanten erlebt, eine Erfahrung, aus der sich transnationale Humanität jenseits ethnischer Grenzziehungen speist. Tzvetan Todorov beschreibt das so: “Der Exilant verkörpert heute am besten [...] das Ideal des Hugo von St. Victor, das dieser im 12. Jahrhundert folgendermaßen formulierte: ‚Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist, doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist‘ (ich, ein Bulgare, der in Frankreich lebt, übernehme dieses Zitat von Edward Said, einem Palästinenser, der in den Vereinigten Staaten lebt [Said ist im September 2003 gestorben – B. N.], und der hat es seinerseits bei Erich Auerbach gefunden, einem Deutschen im Türkischen Exil)” (1985, S. 294). Der Exilant hat Erfahrungen mit der „kompakten Majorität“ gemacht, schmerzliche Ohnmachtserfahrungen – und deshalb stemmt er sich nun mit der Macht des Intellekts gegen die Wiederholung des Unrechts im Namen des Rechts, also gegen den Wiederholungszwang (vgl. Nitzschke 2003). Das gilt für Lew Kopelew, den großen russisch-jüdischen Humanisten, der nach seiner 1941 abgeschlossenen Promotion über Friedrich Schiller als „Propagandaoffizier“ in die Sowjetarmee eintrat – und 1945 wegen „Propagierung bürgerlichen Humanismus’“ sowie wegen „Mitleids mit dem Feind“ (Kopelew hatte Greueltaten russischer Soldaten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung angeprangert) – zu zehn Jahren Straflager verurteilt wurde. 1981, Jahrzehnte nach seiner Freilassung, wurde er abermals (diesmal durch Entzug der Staatsbürgerschaft) ausgegrenzt, weil er – gemeinsam mit Heinrich Böll – die universelle (und deshalb auch die für den sowjetischen Machtbereich beanspruchte) Gültigkeit der Menschenrechte unterstrich. 1990, sieben Jahre vor seinem Tod, erhielt Kopelew im Zeichen von Glasnost die sowjetische Staatsbürgerschaft wieder zurück. Den nach ihm benannten „Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte“ erhielten am 16. November 2003 der Israeli Uri Avnery, geboren als Helmut Ostermann 1923 in Beckum (Westfalen), und Sari Nusseibeh, geboren 1949 als Sohn einer alteingesessenen arabischen Familie in Jerusalem, dessen Vater vor dem Krieg von 1967 zeitweise Verteidigungsminister im jordanischen Kabinett war, gemeinsam. Uri
Avnery (rechts) im Gespräch mit Bernd Nitzschke (links). Mitte: Roland
Kaufhold, der den in dem Buch von Uri Avnery Ein Leben für den Frieden.
Klartexte über Israel und Palästina (Heidelberg 2003) enthaltenen Beitrag Uri
Avnery: Ein Portrait verfaßt hat. Avnery
war zehn Jahre alt, als seine Familie aus dem nationalsozialistischen
Deutschland nach Palästina floh. Mit fünfzehn schloß er sich der
rechtsgerichteten jüdischen Terrororganisation Irgun
an, die mit Überfällen und Bombenattentaten gegen die britische Mandatsmacht
wie gegen Palästinenser vorging. Nach dem Krieg von 1948, in dem er schwer
verletzt worden war, publizierte Avnery zwei Bücher. In
den Feldern der Philister (1949) schilderte er die Tugenden des neuen
Israel, Kameradschaft und Pioniergeist, wodurch er zum Publikumsliebling wurde.
Doch ein Jahr später veröffentlichte er Die
andere Seite der Münze (1950), ein Buch, in dem er die Ermordung arabischer
Flüchtlinge und andere Kriegsverbrechen der israelischen Armee schilderte –
und dadurch wurde er zum meist gehaßten Publizisten Israels. Seinen Ruf
festigte er als Zeitschriftenverleger, Knessetabgeordneter und Mitbegründer der
Friedensorganisation Gush Shalom (http://www.gush-shalom.org/english/index.html).
Er hielt an der Überzeugung fest, es könne nur einen Frieden in Israel/Palästina
geben, nämlich einen gerechten Frieden, der das Existenzrecht zweier Völker (und damit die
gleichberechtigte Existenz zweier Staaten) voraussetzt. Diese Auffassung ist die
Grundlage der „Genfer Initiative“ (http://www.genfer-initiative.de). Sari
Nusseibeh, der 1978 an
der Havard Universität (Boston/USA) im Fach islamische Philosophie promovierte
Präsident der Al-Quds Universität in Ost-Jerusalem, teilt Avnerys Auffassung.
Er hat die Selbstmordattentate von Palästinensern wiederholt verurteilt und um
des Friedens willen dazu aufgefordert, die Palästinenser mögen auf ihr Rückkehrrecht
ins heutige Israel verzichten (was das bedeutet, kann nur ein Vergleich
erhellen: der Staat Israel garantiert Juden in aller Welt noch immer ein „Rückkehrrecht“
in die alte, vor 2000 Jahren verlorene „Heimat“!). Nusseibehs
Wille zur Versöhnung mißfiel erwartungsgemäß Radikalen auf beiden Seiten:
Die Fatah
verurteilte seine Bereitschaft zum Verzicht – und Israels Sicherheitsminister
ließ Nusseibehs Büro an der
Al-Quds Universität im Juli 2002 schließen, denn Palästinser wie er gefährden
die Annexionspolitik der Sharon-Regierung, die zur scheinlegalen Rechtfertigung
völkerrechtswidriger Maßnahmen (kollektive Bestrafungen, extralegale Tötungen,
Landenteignung und Errichtung eines „Sicherheitszauns“) radikalere Palästinenser
benötigt. Die Laudatio auf Uri Avnery (eine Auswahl seiner
Texte findet sich in einem Buch, das auch eine profunde, von Roland Kaufhold
verfaßte Biographie enthält [Avnery 2003]) und auf Sari Nusseibeh hielt der frühere
Botschafter Israels in Deutschland Avi Primor, Sohn einer aus Deutschland
stammenden Mutter, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebte.
Musikalisch umrahmt wurde die Preisverleihung durch Beiträge von Yair Dalal,
ein 1955 als Sohn irakischer Juden in Israel geborener Musiker, und Rhani Krija,
ein arabischer Musiker, der 1971 in Essaouira (Marokko) geboren wurde und heute
in Köln lebt. Das letzte Wort soll aber Uri Avnery behalten. Seiner
Festansprache (nachzulesen in Heft 1/2004 von „israel & palästina
–Zeitschrift für Dialog“, herausgegeben vom „Deutsch-israelischer
Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e.V.“ [http://www.diak.org])
ist die folgende Passage entnommen: „Die Palästineser haben viele Feinde –
aber keiner ist so gefährlich für sie wie der Antisemitismus [...]. Sari
Nusseibeh und ich, zwei Semiten, die zwei miteinander verwandte semitische
Sprachen sprechen, müssen Bundesgenossen im Kampf gegen diese alte und moderne
kollektive Geisteskrankheit sein. Ich glaube, daß wir es auch sind. Ich möchte
aber gleich hinzufügen: Der Fluch des Antisemitismus darf nicht dazu mißbraucht
werden, um jegliche Kritik an meiner Regierung und meinem Staat zu verhindern.
Wir Israelis wollen ein Volk wie alle anderen sein, unser Staat sollte ein Staat
wie alle anderen sein, er darf und muß mit demselben moralischen Maßstab
gemessen werden wie alle anderen Staaten. Ja, auch hier, in Deutschland. Keine
Sonderbehandlung, bitte.“ Bernd
Nitzschke Literatur Avnery, U. (2003): Ein Leben für den Frieden. Klartexte über Israel und Palästina. Heidelberg (Palmyra). Nitzschke, B. (2003): Versöhnung – diesseits von Gut und Böse. Sigmund Freuds transkulturelles Erbe. Freie Assoziation 6 (Heft 3), 2003, S. 7-21. Todorov, T. (1985): Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt/M.
Die Verleihung des Lew-Kopelew-Preises 2003 an Uri Avnery und Sari Nusseibeh ist in Bild und Ton abzurufen unter: https://www.youtube.com/watch?v=HpJrQHmOvAg
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