Bernd
Nitzschke Erinnerungen
an die Zukunft & ungelöste Rätsel der Gegenwart. Ein
68er wird achtundsechzig und schaut nach vorn zurück 1. Ach, wie schön war Panama,
aber sonst war’s nicht immer lustig 1968 erschien ein Buch mit dem Titel: „Erinnerungen an die Zukunft.
Ungelöste Rätsel der Vergangenheit.“ Der Verfasser war ein mehrfach
vorbestrafter Kellner, der beim Hotel Ascot, Zürich, großen Eindruck
gemacht hatte: „...wir können ihn fachlich als sehr guten Kellner
bezeichnen“ (http://tatjana.ingold.ch/index.php?id=sowares).
Das Buch wurde ein Bombenerfolg. Der Mann war jetzt Auflagenmillionär.
Damit schien die Zeit vorbei zu sein, in der er sich mit irdischen
Problemen herumzuschlagen hatte. Doch nun kam die Staatsanwaltschaft dem
Mann, der den Außerirdischen auf die Schliche gekommen war, noch einmal
auf die Schliche. Und so wurde Erich von Däniken abermals verurteilt. Mehr Verständnis für den famosen Kellner zeigte Gerhard Mauz, der 1970
im Spiegel über den Prozess
schrieb: „Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihn der Erfolg seiner Bücher
in die Lage setzte, seine Verpflichtungen in Höhe von zirka 400 000
Schweizer Franken […] zu erledigen, hat er einen immer größeren
Tisch mit einem immer kleineren Tischtuch zu bedecken versucht. Doch
schon das Ausmaß seiner Schulden auf dem Höhepunkt verbietet die These
vom ‚Großbetrüger’, die der Psychiater Weber für angebracht hält.
Schweizer Affären der jüngeren Vergangenheit sollten eine gewisse
Gelassenheit gegenüber 400 000 Schweizer Franken zulassen.“ Das ging aber nicht, denn 1968 war ein aufgeregtes Jahr. Das war das
Jahr, in dem das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger, Kanzler
aller Deutschen (West), geohrfeigt wurde. Da fragten sich viele anständige
Menschen: … und wo bleibt die Gelassenheit? Und auch sonst war vieles
beim Alten geblieben. In Spanien und Portugal zum Beispiel. Dort
regierten die Faschisten noch immer – als verlässliche Partner des
freien Westens. Es gab aber auch Neues. In Griechenland zum Beispiel.
Dort hatten sich im April 1967 unter Rückgriff auf die Pläne der NATO
zum Schutz vor kommunistischer Subversion die Obristen an die Macht
geputscht. Sie sorgten für neue Ordnung. Da gab es einiges zu tun. Es mussten Maßnahmen zum Schutz der Jugend
ergriffen werden. Denn die schickte sich damals – nicht nur in
Griechenland – an, die Geschlechterordnung auf den Kopf zu stellen.
Die Mädels hatten Anita Eckberg und die anderen Busenwunder der 1950er
Jahre hinter sich gelassen und sahen jetzt aus wie Knaben. Das flachbrüstige
Model Twiggy war so ein Mädel. Und auch der Mini-Rock, den Mary Quant 1962 kreierte– zwei Jahre nach der
Erfindung der Antibabypille, mit der die Moral vollends verloren ging
–, gefiel den Obristen nicht. Da hatten sie den Heiligen Vater auf
ihrer Seite. Er protestierte 1968 mit der Enzyklika Humanae
Vitae gegen die Pille, durch die „Aufzucht“ und „Unzucht“
erstmals sicher zu trennen waren. Und die Jungs: die sahen 1968 aus wie
Mädels! Sie hatten lange Haare. Das gefiel den Obristen erst recht
nicht. Und deshalb befahlen sie: „kurzgeschnittene Haare“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Milit%C3%A4rdiktatur).
Ja, 1968, das war ein Jahr, in dem die Ordnung der Welt auf dem Spiel
stand. Wie und wo das war, das kann man in Ruhe nachlesen (Harman 2008).
In Südafrika zum Beispiel – dort mussten weiße Farmer noch immer
gegen schwarze „Terroristen“ ankämpfen. Und in den Südstaaten des
freien Westens – genauer gesagt: in Alabama, USA – erdreisteten sich
die Schwarzen gar, das Recht der freien Platzwahl in Überlandbussen nun
auch noch für sich selbst in Anspruch nehmen zu wollen. Und in Prag! Da
standen 1968 die Jahreszeiten Kopf. Da ging der Frühling erst im August
zu Ende, nachdem die „Bruderarmeen“ des Warschauer Pakts wieder für
eisige Zeiten gesorgt hatten. Zwei Monate später musste das Militär
erneut eingreifen. Das war diesmal aber nicht in Prag, sondern in
Mexiko-Stadt. Dort demonstrierten kurz vor Eröffnung der XIX.
Olympischen Sommerspiele auf der Plaza de Tlatelolco die Studenten.
Danach lagen Hunderte von ihnen tot am Boden, erschossen von
Geheimpolizisten oder niedergewalzt von Panzern. Wer erinnert sich noch
daran? Die freie Presse des Westens erinnert sich lieber an das
Massaker, das zwei Jahrzehnte später auf dem Tian’anmen-Platz in Peking stattfand. Vergessen sind inzwischen auch die beiden Afroamerikaner, die für ihr
Land – die Vereinigten Staaten von Amerika – bei der Olympiade in
Mexiko den 200m-Lauf gewannen. Bei der Siegerehrung streckten sie eine
Faust mit schwarzem Handschuh, Symbol der Bürgerrechtsbewegung, gen
Himmel, um auf den alltäglichen Rassismus in ihrer Heimat aufmerksam zu
machen. Das nahm man ihnen übel. Man warf sie aus dem US-Olympiakader. Unruhig war es am 4. April 1968 auch in Memphis, Tennessee. Da wurde –
gerade noch rechtzeitig – der Bürgerrechtler Martin Luther King
erschossen. So ließ sich verhindern, dass er sich am bevorstehenden Poor
Peopl’s March auf Washington beteiligen konnte. Im Mai 1968
errichteten dann die Studenten in Paris Barrikaden. Die französischen
Gewerkschaften riefen den Generalstreik aus. Und im Juni 1968 wurde
Robert F. Kennedy erschossen. Er hatte gerade eine Vorwahl gewonnen und
galt nun als aussichtsreichster Kandidat der Demokratischen Partei für
die bevorstehende US-Präsidentschaftswahl. Damit war’s jetzt nichts
mehr. Apropos US-Präsidentschaft: der spätere Amtsinhaber, George W. Bush,
war 1968 vierundzwanzig Jahre alt. Und man glaubt es kaum – er gehörte
damals auch zu den Kriegsdienstverweigerern! Er ließ sich als Pilot der
Texas Air National Guard ausbilden und kam so – wenn er nicht
gerade (alkohol-)krank war – an der Heimatfront zum Einsatz. Ein Jahr
zuvor hatte Muhammad Ali, Weltmeister im Schwergewichtsboxen, den
Kriegsdienst in Vietnam ebenfalls verweigert. Er tat das aber ganz
offen, anstatt sich, wie Bush jr., klammheimlich zu verdrücken – und
deshalb konnte man dem Afroamerikaner den WM-Titel auch ganz offen
aberkennen, anstatt ihm die Boxlizenz unter einem Vorwand entziehen zu müssen.
Es war notwendig, ein Exempel zu statuieren, denn heftiger als in
Griechenland, Südafrika, Mexiko-Stadt oder Alabama war die Ordnung der
freien Welt jetzt in Vietnam bedroht. Dort versuchte die US-Army gerade
Licht in den Dschungel zu bringen – mit Hilfe von Agent Orange. Das heißt: man entlaubte mit Dioxinen die Wälder, um
freie Sicht und Schussbahn zu bekommen. Also vergiftete man den Boden,
das Grundwasser und das menschliche Erbgut – und deshalb kommen in
Vietnam noch heute missgebildete Kinder zur Welt. All die Bomben und die vielen Tonnen Chemie konnten die Tet-Offensive
des Vietcong und der Nordvietnamesen nicht verhindern. Das war im Januar
1968. Und schon einen Monat später, im Februar 1968, rotteten sich dann
im freien Teil Berlins die Antiamerikaner aus aller Welt zusammen –
darunter viele prominente US-Amerikaner (zum Beispiel Herbert Marcuse).
Das Motto der Tagung lautete: Der
Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des
Imperialismus. Das war eine prophetische Wortwahl, ist es doch nur
ein Katzensprung von der Globalstrategie zur Globalisierung. Das passende Buch war ein Jahr zuvor auf Deutsch
erschienen: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam (1967). Der Autor, der diese Parole in die Tat umzusetzen versucht
hatte, war 1968 schon nicht mehr am Leben. Eine lokale Söldnertruppe
hatte ihn, unterstützt von CIA-Agenten, im Oktober 1967 in den
bolivianischen Bergen aufgespürt. Danach wurde der unbewaffnete
Gefangene – es war Ernesto Guevara de la Serna, genannt „Che“ –
ohne Gerichtsverfahren abgeknallt. Damit hatte die US-Army einen
lebenden Feind weniger – und die Kritiker des US-Imperialismus haben
seither im „vollkommensten Mensch unserer Zeit“ (Jean Paul Sartre über
„Che“) eine Ikone mehr. Nach dem Februar 1968 kam der
März 1968.
Da veranstaltete
Lieutenant William Laws Calley Jr. ein kleines Massaker. Nachdem er und
seine Leute einen Teil der Bewohner des vietnamesischen Dorfes My Lai
liquidiert hatten, zogen sie zu einem Bewässerungsgraben weiter. Dort
harrten die überlebenden Dorfbewohner ihres Schicksals. „Mehrere GIs
stießen die Menschen in den Graben oder prügelten sie mit ihren
Gewehrläufen hinein, Calley erschoss ein zweijähriges Kind […],
schlug und erschoss einen Mönch [… und] tötete eine Frau, die auf
einer Trage zum Graben gebracht worden war.“ Dann stellten die GIs
„ihre M-16 auf Automatik, einer bediente ein Maschinengewehr, ein
anderer warf Handgranaten […]“(Greiner 2008, S. 337). Schließlich
waren fünfhundert Zivilisten tot. Und weil alle Vertuschungsmanöver
nicht ausgereicht hatten, wurde Lieutenant Calley jr. schließlich doch
noch vor Gericht gestellt. Er erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Das
war am 31. März 1971. Drei Tage später ließ US-Präsident Nixon die
Haftstrafe in Hausarrest umwandeln. Und drei Jahre später begnadigte
Nixon – er hatte den passenden Spitznamen Tricky Dick (s. auch: Frank
Zappa: „Dickie’s Such An Asshole“) – den Schlächter von My Lai.
Damit war Calley jr. wieder ein freier Mann im freien Westen. Andere Vietnam-Kriegsverbrecher brauchten nicht auf Begnadigung zu
warten. Ihre Taten wurden erst gar nicht verfolgt. Das gilt für die
vielen GIs, die sich in Vietnam an der systematischen Vergewaltigung von
Frauen beteiligten, eine Kriegstaktik, die in der US-Army „als
inoffizielle ‚Standing Operation Procedure’“ bekannt war. Dabei
schreckten die Täter vor keiner Grausamkeit zurück. „Individuelle
Gewaltakte stehen neben Massenvergewaltigungen, rituelle Inszenierungen
vor Publikum neben der heimlichen Tat […].“ Dokumentiert sind
„Entführungen, in deren Verlauf junge Mädchen und Frauen unter
Drogen gesetzt und tagelang missbraucht wurden“, bevor man sich ihrer
durch Mord entledigte (Greiner 2008, S. 223). Was damals versäumt wurde, das holte man später – gewissermaßen
symbolisch stellvertretend – dann doch noch nach. Vor dem
Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der von den USA nicht anerkannt
wird, wenn es um Verbrechen der US-Army und deren Söldner geht, wurde
Anklage erhoben wegen der von Serben begangenen Massenvergewaltigungen
und anderer Verbrechen, die während der Balkankriege in den 1990er
begangen wurden. Eine Klage, die gegen die NATO-Staaten eingereicht
worden war, die Serbien 1999, ohne ein Mandat
des UN-Sicherheitsrats dafür zu haben, bombardierten, wurde
abgeschmettert. Sie seien in diesem Fall nicht zuständig, meinten die
Richter. Das war schon deshalb richtig, weil die Bombardierung Serbiens
durch höheres Recht gedeckt war, wie ein ehemaliger Jung-68er,
der seinerzeit nur Steine auf Polizisten – oder Konfetti in die Luft?
– geworfen hatte, als Alt-68er Außenminister wissen ließ, nachdem er
im Verein mit zwei Sozialdemokraten – einem Bundeskanzler (Schröder)
und einem Verteidigungsminister (Scharping) – Bomben (auf Serbien)
hatte werfen (lassen) können. Die Vorväter hatten gereimt: „Serbien
muss sterbien.“ Näheres bei Bittermann (1994). Und Enkel Joseph zog
einen Schluss. „Ich habe gelernt: Nie wieder Auschwitz“ (Fischer
2005) 2. Gelernt ist gelernt. Und wer
nichts gelernt hat, bleibt sitzen Es heißt: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“. Wie ist das zu
verstehen? Das bedeutet: Gestern ist nicht Heute. Und heute ist manches
anders als gestern. Das war 1968 auch so. Da konnte man sich abends als
Antiautoritärer ins Bett legen und wachte am nächsten Morgen als
Mitglied einer autoritären Polit-Sekte wieder auf. Und schon konnte man
strammstehen. Man musste sich gar nicht ändern. Man musste nur mit der
Zeit gehen. Mit der Zeit ändert sich jeder. Und doch kann man sich
dabei so treu bleiben wie der „Schmieren- und Kitschaggressor“ Wolf
Biermann (Wiglaf Droste in der Süddeutschen
Zeitung vom 09.04.2005), der sich immer treu geblieben ist: ein
Bourgeois, der von sich behauptet, keiner zu sein. 1965 besang Biermann Väterchen Stalins Republik – und zwar sehr
deftig: Die DDR, mein Vaterland /
Ist sauber immerhin / Die Wiederkehr der Nazizeit / Ist absolut nicht
drin / So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen. Und
weil er das Geld, das er 1972 für den Fontane-Literatur-Preis erhalten
hatte, an Rechtsanwalt Horst Mahler überwies, wurde er gefragt, ob er
es nicht bedauern würde, wenn das Geld in der RAF-Kasse landen würde.
Seine Antwort: „[…] aber Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir,
daß ich mich von der Roten Armee Fraktion distanziere? Ich will nicht
in den Orden linker Hoher Priester aufgenommen werden, die der
Baader-Meinhof-Gruppe ihren Segen vorenthalten. Lenin hat gesagt, daß
der erste Schuß erst abgefeuert werden darf,
wenn die Revolution beginnt. Die Kommunisten in der Baader-Meinhof- Gruppe werfen ihr Leben in die Waagschale für
die Antithese“ (https://socialhistoryportal.org/raf/5342
und auf dieser www-Seite dann weiter klicken unter: PDF: 0019720610.pdf) Und es gab noch einen, der sein Leben in die Waagschale
geworfen hat, die Biermann stets zielsicher vermied. Das war der „Comandante
Che Guevara“. Und so blieb es auch ihm nicht erspart, von Biermann
besungen zu werden – und zwar sehr heftig: „Und
bist kein Bonze geworden / Kein hohes Tier, das nach Geld schielt / Und
vom Schreibtisch aus den Held spielt. […] Jesus Christus mit der
Knarre / – so führt Dein Bild uns zur Attacke.“ Das tat
Biermann 2003 an der Seite von Bush & Blair auch: Er blies zur
Attacke, hetzte zum Irak-Krieg auf – und blieb zuhause sitzen. Ach ja, die Bourgeoisie! Sie lässt „kein anderes Band zwischen Mensch
und Mensch übrig […] als das nackte Interesse, als die gefühllose
‚bare Zahlung’. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei,
der ritterlichen Begeisterung […] in dem eiskalten Wasser egoistischer
Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert
aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und
wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.
Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und
politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte,
direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen
und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins
entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten
[…] in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ (1848/2008, S. 93).
Und schließlich hat sie einen Bänkelsänger käuflich erworben! Das
konnten Karl Marx und Friedrich Engels nicht wissen, denn als das Manifest
der Kommunistischen Partei 1848 erschien, da gab es den Biermann,
vormals Ostberlin, noch nicht, der 1968 Mit
Marx- und Engelszungen trällerte: Drei Kugeln auf Rudi Dutschke Ein blutiges Attentat Wir haben genau gesehen Wer da geschossen hat […] Die Kugel Nummer Eins kam aus Springers Zeitungswald Ihr habt dem Mann die Groschen Auch noch dafür bezahlt […] Dreißig Jahre später ging es nicht mehr nur um Groschen; jetzt ging es
um eine Handvoll Dollar mehr. Jetzt enteignete der Biermann den
Springerverlag auf seine Weise. Jetzt bezog er die Groschen, die er
brauchte, um die Welt musikalisch begleiten zu können, als
„Chef-Kulturkorrespondent“ der Springer-Zeitung „Die Welt“.
„Man darf auch die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren
Wasserwerfern überlassen“, hatte seinerzeit eine der
Springer-Zeitungen gemahnt. Das war vor dem Mordanschlag auf Rudi
Dutschke. Nach dem Attentat am 11. April 1968 brannte es bei Springer
– und deshalb hieß es jetzt: „Das letzte Mal sind wir auch
durchgebrochen. Im Konvoi. Wasserwerfer voran. Und trotz
Molotow-Cocktails und Rauchbomben. Das war Karfreitag. ‚Und da hatten
wir [Springer-Zeitungsfahrer – B. N.] noch keine Helme!’ Jetzt haben
sie welche. Na denn. Gute Fahrt – Fröhliche Ostern waren das“
(Bild-Zeitungskommentar zit. n. Faksimile-Abdruck in: marburger
blätter, 18. Jg., April 1968, S. 3). Das waren die so genannten
„Osterunruhen“ 1968. Peter Urbach, Agent Provocateur des
Verfassungsschutzes, hatte die Brandsätze für die Anschläge
geliefert. Ein knappes Jahr zuvor, am 2. Juni 1967, hatte der Westberliner Polizist
Karl-Heinz Kurras den unbewaffneten
Studenten Benno Ohnesorg von hinten in den Kopf geschossen. „Wer mich
angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend. So ist das zu sehen“, gab
Kurras Jahrzehnte nach der Tat
zu Protokoll (Siepmann 2008). Der Student, den er, wie
er aussagte, in Notwehr erschießen musste, weshalb man Kurras
freisprechen konnte – freilich wusste man da noch nicht, dass er
nebenberuflich auch noch Stasi-Agent war –, dieser Student hatte an
einer Demonstration gegen den Schah von Persien teilgenommen, der
Oppositionelle mit Folter und Mord verfolgte. Der Senat von Berlin begrüßte
ihn als Vertreter der freien Welt. Dagegen demonstrierten die Studenten.
Also ließ der Senat von Berlin die Studenten niederknüppeln. „Was sich in der Berliner Blutnacht des 2. Juni ereignet hat, war
nicht die Auflösung einer Demonstration […]. Es war ein
systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom, begangen von der Berliner
Polizei an Berliner Studenten. Die Polizei hat die Demonstranten […]
abgeschnitten, eingekesselt, zusammengedrängt und dann auf die
Wehrlosen, übereinander Stolpernden, Stürzenden mit hemmungsloser
Bestialität eingeknüppelt und eingetrampelt.“ Das schrieb Sebastian
Haffner im Stern (zit. n.
Soukup 2007). Er kannte den Polizeiterror aus eigener Erfahrung. Er
hatte den NS-Staat 1938 verlassen und war nach England emigriert. Es
muss ihn seltsam berührt haben, als er erfuhr, dass der Polizeieinsatz
am 2. Juni 1967 von einem ehemaligen NSDAP-Parteigenossen befehligt
wurde. Die nötigen Kenntnisse für die „Bandenbekämpfung“ hatte
Hans-Ulrich Werner während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine
erworben. Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte sich bei Werner dafür
mit dem Eisernen Kreuz bedankt. Anlässlich der Beerdigung von Benno Ohnesorg fand
am 9. Juni 1967 in Hannover der Kongress Hochschule
und Demokratie statt, bei dem Rudi Dutschke zu Protestaktionen in
Westberlin aufrief, obgleich der Senat ein allgemeines
Demonstrationsverbot erlassen hatte (Dutschke 1980). Dieser Aufruf ließ
Jürgen Habermas nicht ruhen. Er stellte sich ans Mikrophon – und dort
eine scheinbar harmlose Frage: „Herr Dutschke hat als konkreten
Vorschlag […] nur vorgetragen, daß ein Sitzstreik stattfinden soll,
das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich,
warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde,
um eine voluntaristische Ideologie hier zu entwickeln […], die man im
Jahr 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und […] unter heutigen
Umständen […] linken Faschismus nennen muß“ (1980, S. 82). Ja,
warum hatte sich Rudi Dutschke so kompliziert ausgedrückt? Und warum
musste Herr Habermas darauf so platt antworten? Da war es wieder, das böse Wort: Faschismus!
Dieses Wort war in aller Munde. Man konnte es biegen und brechen und
schon passte es auf alles und jeden. Wer damals in dieser Übung
Lehrling war, wie der frühe Aly, Maoist und Ankläger der Welt
diesseits und jenseits aller Kapitalströme, ist heute Meister in dieser
Übung, wie der späte Aly, der sich als Historiker und Ankläger der
68er mehr als nur einen Namen gemacht hat (Aly 2008). Im Rückblick auf
die alten Zeiten gab er diese Selbstauskunft zum Besten: „Ich habe die
Zeitschrift Hochschulkampf 1970 mitgegründet. Das war eine
Zeitung der Roten Zellen.
[…] Von 1971 bis 1973 war ich bei der damals sehr radikalen Roten
Hilfe.“ Und heute? Heute hat er sich und seinesgleichen in den
Staub geworfen. Und so konnte er als Selbstankläger bleiben, was er
immer war – Ankläger: „Die Kinder der deutschen Massenmörder sind
damals einem Massenmörder [gemeint ist Mao – B. N.] hinterhergerannt.
Ich hab auch eine Mao-Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer
des europäischen Totalitarismus – und besonders des deutschen“ (Aly
in: Reinecke, Feddersen [2007]). Ja, das ist Erinnerungsarbeit vom
Feinsten, wie man sie eben von einem Historiker erwarten kann:
differenziert und doch punktgenau.
Die Angst vorm Ficken oder
Ich will alles. Und zwar sofort 1968 gab es nicht nur Krieg und Unruhen. Es
gab auch Liebe und Frieden. Und so lautete das Mantra der Hippies: make
love – not war. Zu deutsch: Heidschi
Bumbeidschi – Mama – Ich sing ein Lied für dich. Ja, der
Heintje, das war ein Holländer, der so recht nach dem Geschmack des
deutschen Mütterchens sang! Und
der Belgier aus Sizilien, der
sich Salvatore Adamo nannte, gab den jungen Hüpfern für ihren langen
Marsch durch die Institutionen damals auch schon weise Worte mit auf den
Weg: Es geht eine Träne auf
Reisen. Ach ja, wie lebensecht und edel sangen die Bänkelsänger
der Deutschen Hitparade! Dieter Thomas Heck sei Dank! Und dem
Alpenseemann Franz Eugen
Helmuth Manfred Nidl aus Wien – bekannt als Freddy
Quinn aus Sankt Pauli – auch. Er stimmte traurig ein: Seemann,
weit bist Du gefahren. Das war eine Metapher! Der Seemann, das hätte
auch ein Fußball spielender Atze aus dem Niedersächsischen oder ein
Taxifahrer aus Frankfurt am Main sein können. Doch auf die konnte sich
selbst Freddy keinen Reim machen. Ja, und auch sonst waren die Wege
lang. Der Weg zum Beispiel
von Brigitte Bardot, die der Jugendzeitschrift Bravo
1959 im hochgeschlossenen Badeanzug als „Starschnitt“ beilag, bis
hin zu Uschi Obermaier, dem Star-Model der Jugendzeitschrift Twen. Sie schreckte 1968 vor gar nichts zurück – und so konnte
sie sich ohne Skrupel auf Rainer Langhans einlassen, der sich gerade vom
kurzgeschorenen Bundeswehrunteroffizier zum dichtestbehaarten
Kommunarden Westberlins hochfrisiert hatte. Aus Bravo und Twen erfuhren
die Jugendlichen 1968, worüber sich ihre Eltern nur hinter
vorgehaltener Hand unterhalten hatten: über die Mühen und Wonnen der
Sexualität. Die Kioskbetreiber, die solches Wissen
ein paar Jahre früher in Köln
verbreiten wollten, hatten Post vom Vermieter der Grundstücke
bekommen, auf denen ihre Buden standen.
Weil sie die Zeitschrift Twen
verkauften, teilte ihnen das Liegenschaftsamt der Domstadt
drohend mit: „Sollte bei künftigen
Kontrollen festgestellt werden, dass Sie irgendwelche jugendgefährdenden
Schriften vorrätig haben oder sogar ausstellen oder verkaufen, müssen
Sie mit der Kündigung des Standplatzes rechnen“ (Die Zeit,
25.12.1959). 1968 meldete sich dann aber nicht das Liegenschaftsamt der Stadt Köln. Jetzt
meldete sich die Speerspitze der sexuellen Revolution in
Deutschland zu Wort – und zwar sehr deutlich:
„Twen besorgt
das gleiche Geschäft für die jungen Oberschüler und jungen mittleren
Angestellten, das die Zeitschrift Bravo
für die Volksschüler und die Lehrlinge in den Betrieben besorgt. Beide
Zeitschriften haben die Funktion der Konsumeinübung, besonders des
Schallplatten, Textil-, Getränke- und Ferienkonsums […]“, posaunte
Reimut Reiche (1968a, S. 38). Da sage noch einer, die 68er
Moraltrompeter ließen sich so einfach von den 59er Moralaposteln
unterscheiden! Zwar war das 68er-Vokabular neu, doch die Hemmungen hatten die
Revolutionäre von ihren Eltern übernommen. Und die sollten jetzt
beseitigt werden. Aber wie? Gut, man konnte den Vater totschlagen und
mit der Mutter ins Bett gehen – doch wie ließen sich die
verinnerlichten Eltern beseitigen? Die einen versuchten es mit
marxofreudianischer 68er-Hirnakrobatik, die anderen übten fleißig
69er-Stellungen im Bett. Jahrzehnte später gab dann ein
halbdokumentarischer Spielfilm Auskunft über beiderlei Anstrengung. Er
entstand unter Beihilfe einer Frau, die es 1968 ff. nicht nur mit dem
kleinen Rainer, sondern auch mit den Großen des Show Business getrieben
hatte (mit Jimi Hendrix und Mick Jagger, zum Beispiel). Im Film Das
wilde Leben (2007) blafft sie, das heißt: Uschi Obermaier, den
Kommunarden Rainer Langhans an: Du hast Angst vorm Ficken!
Das sagt die Frau, die nach dieser Enttäuschung mit einem halbseidenen
St. Paulianer durch die weite Welt fahren musste und heute Schmuck in
Kalifornien entwirft, zu dem Mann, der sich durch den Dschungel seiner
Leidenschaften kämpfen musste, bis er endlich dort wieder ankam, wo er
Uschi als verklemmter Jung-68er so bitter enttäuscht hatte. Nur war er
jetzt freiwilliger Asket und nicht mehr unfreiwillig impotent. Wer hätte das gedacht? Rainer Langhans
jedenfalls nicht. In einem Interview, das er
der Süddeutschen
Zeitung gab, fragte er
als überlebendes 68er Fossil entrüstet zurück, ob Uschi denn ernstlich
glaubt, es so erlebt zu haben. Ich muss es ja annehmen, weil sie den
Film wesentlich mitbestimmt hat. Dass sie die politischen Dinge
vielleicht so sieht, wie im Film dargestellt, das mag ja sein. Aber
unsere Beziehung? Mit dieser Auskunft gab sich der Journalist aber
noch nicht zufrieden. Jetzt wollte er alles und zwar sofort und ganz
genau wissen SZ: Es
gibt eine Schlüsselszene im Film: Sie schlafen mit einer anderen Frau
in der Kommune. Uschi muss zusehen und leidet Höllenqualen. Man spürt,
sie ist tief verletzt. Entsprach das der Wirklichkeit? Langhans: Ja,
das ist wahr. Nicht nur einmal. Daran sieht man übrigens auch, dass
Uschi – heute wird das vielleicht komisch klingen – diese
klassischen Probleme hatte, die wir Verklemmung nannten. Sie war
unbefreit und traute sich nicht wirklich in menschliche, schöne
Begegnungen. Es war eben diese 68er Zeit, wo man anders gedacht hat. Im
Film kommt die Szene so spätspießig rüber – diese Reaktion mit
Trennung und Rachsucht. In Wirklichkeit war alles sehr anders. SZ:
Und zwar? Langhans:
Wir haben beide gewollt, dass der Partner die Möglichkeit hat, mit
anderen körperliche Intimität zu erleben. Uschi war ein Unterschichtmädchen
aus München und hatte, um es freundlich zu sagen, von nichts eine
Ahnung – von solchen Dingen schon gar nicht. Große Sexgöttin?
Pustekuchen. Sie sagt heute, er habe gestern Angst vorm Ficken gehabt. Und er sagt
heute, sie habe gestern keine Ahnung gehabt. Wem soll man glauben?
Gestern wusste man genau, wem man nicht
glauben durfte: Trau keinem über
Dreißig. Und heute? Soll man heute Leuten glauben, die über
Sechzig sind? Damals fragten sich viele: „Was wollen die Studenten?“ (Mager,
Spinnarke 1967). Und viele dachten lange nach – bis Gitte Haenning
1983 endlich die
richtige Antwort fand und zu Gehör brachte: Ich
will alles. Ich will alles. Und
zwar sofort. Eh’
der letzte Traum in mir zu Staub verdorrt. Ich
will leben. Will mich geben. So
wie ich bin. Und
was mich kaputt macht. Nehm’
ich nicht mehr hin. Ja, das war’s! Macht kaputt, was euch kaputt macht! Kann man sich vorstellen, dass die Walküre, die heute im wallenden Gewand die Wagner Festspiele in Bayreuth heimsucht, einst die Band betreute, die diesen Spruch 1970 als Song populär gemacht hat? Aber ja doch! Heute hätten Ton Steine Scherben keine Chance mehr, die Leute zu verdummen. Heute sorgt Claudia Roth durch ihr Erscheinen auf dem Hügel dafür, das heißt: sie macht das Wort leibhaftig zur Waffe und damit die Illusionen kaputt, an denen die kaputt gingen, die früher daran glaubten. Die Phantasie an die Macht! Ja, das wollten die Studenten! Und sie wollten noch viel mehr! Sie wollten alles. Sie wollten „Sexualität und Klassenkampf“ (Reiche 1968b). Sie wollten an die „Sexfront“ (Amendt 1970). Und dann wollten sie auch noch verstehen, was die kapitalistische Welt im Innersten zusammenhält: „Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft“ (Haug 1972). Das war nicht wenig. Das war viel. Das war zuviel. Dazu gehörten auch noch einige uralte und jetzt endlich ins Deutsche übersetzte Bücher. Zum Beispiel: „Die sexuelle Revolution“ (Reich 1945/1966). Solche Traktate wurden gelesen wie Heilige Schriften. Man könnte die jungen Leser von damals deshalb heute auch „Taliban“ nennen. Denn damit ist der wissbegierige Schüler gemeint, der Bücher studiert, von denen er glaubt, sie enthielten letzte Wahrheiten. Jahre später fragte einer nach: „Was wurde damals so bejubelt und wirkt jetzt so ausgelaugt?“ Das war Reimut Reiche (1995, S. 241), vormals Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), danach unterwegs mit dem Revolutionären Kampf (RK) nach Rüsselsheim zu Opel. Er stellte diese Frage als Mann, der solche Fragen beantworten kann. Das heißt: er stellte sie als Psychoanalytiker. Denn das war er jetzt. Idealtypisch und vollständig wäre sein Lebenslauf aber nur, wenn er diese drei Stationen umfassen würde: erstens katholischer Ministrant – zweitens militanter K-Gruppler – drittens Psychoanalytiker.
Das Programm bei Opel hieß: Revolution! Die Genossen wollten selbige betriebsintern vorbereiten. Ja, so hieß die Zeitung tatsächlich, die die Opel-Arbeiter jetzt lesen sollten: Wir wollen alles. Und wo sie alles bekommen konnten, das erfuhren die Opelianer auch: „Kontaktadresse unter anderen: Lotta Continua, c/o Fischer, 6 Frankfurt, Bornheimer Landstr. 64.“ Mit „Fischer“ ist der bereits erwähnte elder statesman gemeint, der früher Joseph hieß und heute nur noch Joschka gerufen wird. Er erläuterte den Opelarbeitern gestern die polit-ökonomischen Zusammenhänge, von denen er heute prächtig zu leben versteht. „Da trafen zwei Welten aufeinander […]“, erinnerte sich sehr viel später ein Kampfgefährte aus alten Tagen, Wolf-Dietrich von Verschuer, der bei Opel auch für die Revolution zuständig war. Er hatte zu diesem Zweck „auf demselben Gabelstapler wie Reimut Reiche, der Psychoanalytiker“, Platz genommen (Esch 2004). Inzwischen hat Reimut Reiche den Schnee von gestern weggeräumt und neue Blumen der Erkenntnis gepflanzt. Und so lesen wir jetzt: „Aus der Retrospektive wird klar, daß die psychoanalytische Kulturkritik, die mit den Namen von Marcuse, Mitscherlich, Parin, Richter und mit der Studentenbewegung assoziiert wird, auch eine große Entlastungsfunktion bot, ja die Aufforderung enthielt, den Anderen, den, über den aufgeklärt wurde, als den Bösen und mich selbst, den Empfänger der Botschaft, als den Guten zu betrachten. Dieser Andere konnte viele Gestalten annehmen: die Familie als neurotische Burg; der Analcharakter, der keinen Schmutz, oder der oral fixierte Konsumterrorist, der keine Unlustspannung ertragen kann; die Unfähigkeit zu trauern; der auf Triebunterdrückung aufbauende Leistungskapitalismus oder der auf repressiver Entsublimierung aufbauende Konsumimperialismus. Das alles ist längst Geschichte“ (1995, S. 241).
Geschichte hin oder her oder rauf und runter, heute wissen wir Bescheid: Nicht nur die Bibel, auch die 68er hatten doch recht! Sie hatten zwar Bueb (2006) noch nicht gelesen, doch sie wussten bereits, was der erst ein halbes Jahrhundert später erkennen sollte: Ohne Disziplin, Gehorsam und Selbstüberwindung kann es keinen Führer geben! Das hatten die 68er bei Horkheimer gelesen, der sie über „Autorität und Familie“ (1936) belehrte. Und von Adorno et al. (1950) hatten sie noch mehr über den „autoritären Charakter“ erfahren. Und dann erschien Herbert Marcuse und bot ihnen auch noch eine nicht ganz einfach zu verstehende Theorie und eine noch viel schwerer zu praktizierende Übung an. Sie handelte vom befreiten Eros, mit dem man alle Grenzen überwinden kann. Und wenn es einmal soweit sein wird, dann wird der „Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, überwunden [sein]. Das Sein wird als Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so daß die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewaltsamkeit die Erfüllung der Natur ist. Da sie angesprochen, geliebt, umsorgt werden, erscheinen Blumen, Quelle und Tier als das, was sie sind – schön nicht nur für jene, die sich ihnen zuwenden und sie beschauen […]. Der Gesang Orpheus’ befriedet die tierische Welt, versöhnt den Löwen mit dem Lamm und mit dem Menschen“ (Marcuse 1971, S. 164). Heidschi Bumbeidschi. – Mama – Ich sing ein Lied für dich. Amen. Und damit Schluss? Nein! Denn die Wirklichkeit ist noch viel sperriger als die Utopie. Und deshalb musste Reimut Reiche 1988 nachlegen. Also zitierte er diesen Passus aus Herbert Marcuses Buch Der eindimensionale Mensch (1967): „Das Sexuelle wird in die Arbeitsbeziehungen und die Werbetätigkeit eingegliedert und so (kontrollierter) Befriedigung zugänglich gemacht. Technischer Fortschritt und ein bequemeres Leben gestatten, die libidinösen Komponenten in den Bereich von Warenproduktion und -austausch systematisch aufzunehmen. […] Indem sie derart die sexuelle intensiviert, beschränkt die technologische Wirklichkeit die Reichweite der Sublimierung. […] Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter Befriedigung nimmt erheblich zu; aber auf dem Wege dieser Befriedigung wird das Lustprinzip reduziert – seiner Ansprüche beraubt, die mit der Gesellschaft unvereinbar sind. Derart angepaßt, erzeugt Lust Unterwerfung“ (Marcuse, zit. n. Reiche 1988, S. 54). Das könnte eine Umschreibung dessen sein, was Marcuse mit „repressiver Entsublimierung“ gemeint haben könnte oder verstanden wissen wollte. Jedenfalls habe ich das so verstanden. Schade nur, dass Marcuse nicht verstanden hat, dass das Lustprinzip keinen inhaltlich bestimmten Wunsch hat – vielmehr die inhaltsleere Urform aller Wünsche ist. Schade, schade. Doch was dem einen sein Ul, das ist dem anderen sein Nachtigal. Und während die 68er Herren meinten, sie seien gerade dabei, sich von „repressiven Sexualstandards“ zu befreien, klagten die 68er Damen, man versuche soeben, sie einer neuen Form von Repression zu unterwerfen. Dagegen wehrten sie sich dialektisch. Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen! Dieser neckische Satz stand auf dem Flugblatt, das der Frankfurter Weiberrat beim Delegiertentreffen des SDS 1968 in Hannover verteilte. Darauf war eine Frau mit Scharfrichterbeil abgebildet, die vor einer Trophäensammlung stand, die aussah, als sei sie von Jägern eingerichtet worden. In diesem Fall war es aber eine Jägerin und an der Wand hingen keine Hirschgeweihe, sondern die abgeschnittenen Schwänze namentlich genannter SDS-Genossen. Damit prangerte frau witzig-spritzig den „sozialistischen Bumszwang“ an, der mit„sozialistischem intellektuellem Pathos“ verkündet wurde. Ja, so war das 1968: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung überall. Im Western nichts Neues? Doch! Jetzt kam der Italo-Western – und vorbei war’s mit der Bewunderung für die Helden Hollywoods, die bis zur letzten Patrone Skalp und Weib gegen die Roten und gegen die Banditen verteidigen mussten. Jetzt war John Wayne passé. Django war angesagt. Jetzt siegten die Mestizen. Jetzt bissen die Viehbarone ins Gras. Jetzt eroberten Kleinkriminelle die Herzen des jungen Publikums. Sie unterstrichen das Diktum, wonach der Besitz einer Bank weit größeren Schaden anrichtet als der Einbruch in eine Bank. Der Bankräuber und seine Lady konnten im Film Bonnie and Clyde (1967) also machen was sie wollten – doch am Ende war die Welt wieder in (alter) Ordnung. Da lagen Bonnie (Faye Dunaway) und Clyde (Warren Beatty) durchlöchert von Schüssen tot zu Füßen des Gesetzes, das in Gestalt robuster Hüter desselben höhnisch grinste. Auch im zweiten Kult-Film jener Jahre, Easy Rider (1969), ebenfalls ein Roadmovie, angefüllt mit der Musik der Zeit, war der Spaß von kurzer Dauer. Born to be wild. Das war die Hymne der Rebellen, die die Hard-Rock-Band Steppenwolf vortrug, deren Name ebenfalls Programm war. Doch Wölfe sind nicht immer – wie bei Hermann Hesse – Einzelgänger. Sie schließen sich – wie die Biker Peter Fonda und Dennis Hopper im Film – bisweilen auch zu Gruppen zusammen. Diese beiden langhaarigen Hippies, die als kleine Dealer auf Motorrädern in den USA unterwegs sind, nehmen ungefragt an einer Parade patriotischer Amerikaner teil – und bezahlen ihren Frevel mit dem Leben. Sie werden abgeknallt wie tolle Hunde – von guten Amerikanern, die das Gesetz in die Hand nehmen, um es zu schützen. Gute Amerikaner? Das sind „in der Regel […] Leute zwischen 35 und 50 Jahre […]. Die meisten […] stammen aus der konservativen weißen Mittelklasse. In der Mehrheit sind das Christen und Republikaner.“ Nein, damit sind jetzt nicht die Mitglieder der Tea-Party gemeint, die derzeit in den USA den rechten Ton angeben. Damit hat die Fotografin Naomi Harris (2008) die Teilnehmer der Gruppensexpartys charakterisiert, die sie gebeten hatten, sie möge das rastlose Treiben der US Swinger-Szene für mehr als eine Stunde festhalten. Ja, gute Amerikaner – wie die Mörder im Film Easy Rider. Das sind Menschen wie du und ich, Menschen, die die Freiheit lieben – und vor niemandem mehr Angst haben als vor Menschen, die keine Angst mehr vor der Freiheit haben.
4
Und
die Moral von der Geschichte: High
sein, frei sein,
überall dabei sein! Es gab 1968 explizit politische, es gab aber auch Parolen, die zur
psychedelischen Revolution aufriefen. Man konnte das Bewusstsein demnach
nicht nur mit Hilfe von Büchern und politischen Aktionen verändern;
man konnte es auch mit Drogen und Musik erweitern. Ja, nicht nur Herbert
Marcuse, auch Timothy Leary war ein Prophet der 68er. Turn
on, tune in, drop out! Das war die Parole der Blumenkinder,
die in Kabul (Afghanistan), Katmandu (Nepal), Goa (Indien) und in
Essaouira (Marokko) kifften. Sie wollten hier
und jetzt glücklich sein. Also durften sie nicht daran denken, dass
sie sich in Ländern aufhielten, die ihre Großväter militärisch
unterworfen hatten und die von ihren Vätern ökonomisch ausgeplündert
wurden. Für die Hippies war die Welt ein großes Openairkonzert: High sein,
frei sein, überall dabei sein! Es begann 1967 mit dem Monterey
Pop Festival und endete 1969
mit dem Woodstock Music and Art Festival.
Beide Male trat Janis Joplin auf, deren Welt aus „Sex, Drugs
& Rock’n’Roll“ bestand. „Das unstillbare Verlangen nach
Drogen kann bei ihr allenfalls von der Lust auf Sex übertroffen werden,
bei dem ihr schnell auffällt, dass Sex mit Männern nicht das volle
Spektrum abdeckt, worauf ihr das eigene Geschlecht mit einigen Affären
aushilft. Die Lebensweise der knallharten, fluchenden, saufenden, vögelnden
und Heroin drückenden Schlampe gibt Janis scheinbaren Rückhalt bei
ihrer rastlosen Suche nach Anerkennung“ (http://www.laut.de/wortlaut/artists/j/joplin_janis/biographie/index.htm).
Ein Jahr nach Woodstock war
Schluss: Janis Joplin war tot, gestorben an einer Überdosis
Heroin. Im selben Jahr starb Jimi Hendrix, voll gepumpt mit Alkohol.
Aus. Vorbei. Die Party der 68er endete mit einem großen Kater. „Eine
Generation der Ausgeschlossenen, von Anfang an“ (Nitzschke 1978). Das heißt, einige spielten Bonnie und Clyde, verkleidet als Rote Armee
Fraktion, weiter, so als hätten sie das Ende des Films nicht gesehen.
Andere sangen das Lied vom Tod allein im stillen Kämmerlein. Sie fixten
und soffen sich ins Grab, getreu der Devise, auch das Private ist
politisch. Und wieder andere traten jetzt – trotz
alledem! – in eine K-Partei ein. Daraus wurde der Krampf im
Klassenkampf. Diese jungen Aktivisten suchten und fanden die
Arbeiterklasse in den verrauchten Hinterzimmern ihrer Großväter oder
im kleinen roten Buch eines fernen Großen Vorsitzenden. Das gab ihnen
Kraft, um morgens früh um fünf vor den Werkstoren den Kampf mit dem
falschen Bewusstsein der Arbeiterklasse aufzunehmen und
Agitationsflugschriften zu verteilen. Diese Arbeiterfreunde waren
Utopisten. Daher nannte man sie auch nicht „Realos“. Diese
Bezeichnung verdienten sich erst einige Jahre später die Mitglieder
einer Partei, die sich als Alternative zum Stammtisch verstanden – und
dort ankamen, wo sie immer nur die anderen vermutet hatten: am
Stammtisch. Was, bitte, ist realer als der Stammtisch? Und wie, bitte,
lautete doch noch mal dieser treffliche Spruch der Neuen
Frankfurter Schule? Richtig: Die
größten Kritiker der Elche, werden später selber welche. In einer Welt, in der alles zur Ware wird, muss jeder zum Händler
werden. Das ist die Welt, in der für Geld alles zu haben ist. All you need is love
– But money can’t buy me love. Das ist die wirkliche Welt, in der sich alles ins Gegenteil verkehrt:
„Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den Haß in
Liebe, die Tugend in Laster, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den
Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn. Da das
Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle
Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung
und Vertauschung aller Dinge,
also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen
und menschlichen Qualitäten […]. Setze den Menschen
als Menschen und sein Verhältnis
zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe
austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen […]“ (Marx 1844/1968, S.
106 f.). Liebe gegen Liebe, Vertrauen gegen Vertrauen – das klingt wie
ein Kindermärchen, wie ein Wunsch aus grauer Vorzeit, wie ein Lied aus
uralten Tagen. Damals, als die Liebe ein Geschenk war: das war in der Zeit, in der Geld
noch nichts wert war. Damals war Geld nur ein Stück Metall oder ein
Fetzen Papier. In jener Zeit waren wir glücklich, wenn uns der Mensch,
den wir liebten, in den Arm nahm, weil er uns liebte. An diese
Kinderzeit dachte Sigmund Freud, als er Heinrich Schliemanns (1881)
autobiographische Aufzeichnungen las. Schliemann war nicht
deshalb glücklich, weil er jetzt Gold in Hülle und Fülle hatte. Ja,
er hatte als Kind den Wunsch, eines Tages einen Schatz zu finden. Dieser Wunsch war in Erfüllung gegangen. „Der Mann war glücklich,
als er den Schatz des Priamos fand, denn Glück gibt es nur als Erfüllung
eines Kinderwunsches“ (Freud 1986, S. 387). Und wenn sich ein Kinderwunsch erfüllt hat, dann sollte man daran
denken, dass man nicht ewig Kind bleiben kann. Daran dachten die
Hippies, die 1967 in Kalifornien ihre Bewegung symbolisch zu Grabe
trugen. Das war ein Jahr vor 1968. Das war im Summer
of Love. Damals sang Scott McKenzie
das Lied, das für immer mit Flower
Power verbunden bleiben wird, die Hymne der Hippies: All across the
nation such a strange vibration People in motion There’s a whole
generation with a new explanation People in motion, people in motion For
those who come to San Francisco Be
sure to wear some flowers in your hair If
you come to San Francisco Summertime
will be a love-in there. Ja, die 68er spielten mit Worten wie Kinder mit Glasperlen. Und so kamen
immer neue Sprüche zustande. Unter
den Talaren – Muff von 1000 Jahren. Unter
dem Pflaster liegt der Strand. Und selbst der Titel eines Buches aus
jener Zeit ist zum geflügelten Wort geworden: Die
Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972). Das Buch
war das Ergebnis der Diskussionen, die der Club
of Rome führte. Diese Gruppierung kam 1968 auf Initiative des
Industriellen Aurelio
Peccei und des Direktors der OECD-Abteilung
für Wissenschaft, Technologie und Erziehung Alexander
King zustande. Man wusste
demnach aus erster Hand, wohin die rücksichtslose Ausbeutung der
Rohstoffe und eine weiter ungehemmte Industrialisierung führen würden:
zu verbrannter Erde, zu vergifteter Luft und zu noch mehr verseuchtem
Wasser (Nitzschke 1974). Nur
eines der vier Elemente würde rein
überleben: das Feuer. Man konnte das vorhersehen. Und es gab einige,
die begriffen hatten, dass alle Warnungen nichts ändern würden.
Deshalb legten amerikanische Umweltschützer einem fiktiven Indianerhäuptling,
der ohnmächtig zusehen musste, wie Viehzüchter seine Lebensgrundlage
vernichteten, indem sie die Büffel der Prärie niedermetzelten, und
gierige Goldgräber sein Land aufrissen, diese Worte in den Mund: Erst
wenn der letzte Baum gerodet, der
letzte Fluss vergiftet, der
letzte Fisch gefangen ist, werden
die Menschen feststellen, dass
man Geld nicht essen kann. Ja,
die 68er hatten hellseherische Fähigkeiten! Seither hat sich die Welt
ein paar Mal gedreht – und jetzt redet jeder von Umweltkatastrophen,
ja man malt schon wieder eine Weltwirtschaftskrise an die Wand. Man
bringt sein Geld in Sicherheit. Man flüchtet in Gold. Man wechselt in
Schweizer Franken. Money makes the
world go round. Ja, die Welt ist ein großes Casino. Ja, die Welt
ist ein Cabaret. Money, money,
money – must be funny – in a rich man’s world. Verantwortlich
für die Misere, so hört man in Talkshows, seien einige wenige Banker
und Manager, die sich nicht anständig verhalten haben. Wer war gemeint?
Klaus Zumwinkel vielleicht, der im Januar 2009 wegen Steuerhinterziehung
zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldbuße von einer Million
Euro verurteilt wurde? Er hat doch nur einen Teil seines Einkommens vor
dem Fiskus nach Lichtenstein in Sicherheit gebracht. Zwei Monate nach
seiner Verurteilung ließ er sich dann seine Pensionsansprüche in Höhe
von 20 Millionen Euro von der Deutschen Post auszahlen. Und schon stand
der arme Mann abermals am Pranger! Er sei eben „gierig“, hieß es
wieder. Warum muss man denn immer auf denselben Trottel einschlagen? Thomas
Middelhoff wäre doch mindestens genauso gut geeignet als Beispiel für
den „gierigen“ Manager. Er hatte Karstadt-Quelle in Arcandor
umbenannt und den Immobilienbesitz der Firma an ein Bankenkonsortium
verhökert. Anschließend durfte Arcandor die vormals eigenen Räume
zu überhöhten Preisen zurückmieten. So wurden das Unternehmen in den
Ruin und die Mitarbeiter in die Existenzangst getrieben – und
Middelhoff musste gehen, mit 2,2 Millionen Euro Bonus in der Tasche. Und
Georg Funke? Auch der wollte sich nicht so einfach als Verlierer vom
Spiel ohne Grenzen verabschieden lassen. Nachdem er als
Vorstandsvorsitzender mit seinen Chargen die Hypo Real Estate
gegen die Wand gefahren hatte, war er seinen Job los. Daraufhin reichte
er Klage ein. Es stünde ihm noch eine Nachzahlung von 150.000 Euro
Gehalt zu. Außerdem wären auch noch die 3,5 Millionen Euro fällig,
die ihm bis zum Ende des regulären Vertrags zugestanden hätten. Und
schließlich hätte er bis zu seinem Lebensende Anspruch auf 560.000
Euro Pension jährlich. Wer
wird denn von „Gier“ sprechen, wenn es um Recht und Gesetz geht! Darum
ging es im Fall der Supermarktkassiererin, die Pfandkarten im Wert von
1,30 Euro eingesteckt haben soll, auch: um Recht und Gesetz. Man
bedauere die fristlose Kündigung zwar, zumal die Frau jahrelang
unbeanstandet gearbeitet habe, hieß es; aber man dürfe die
Veruntreuung betriebseigenen Vermögens doch nicht stillschweigend
hinnehmen. Das war im Fall des Müllwerkers nicht anders, der ein
Kinderbett aus dem Sperrmüll, den er vernichten sollte, mit nach Hause
genommen hatte. Ihm wurde ebenfalls fristlos gekündigt. Und auch diese
Kündigung hatte einen tieferen Sinn. Man stelle sich doch nur vor,
jeder Müllwerker würde den Sperrmüll mit nach Hause nehmen, den er
vernichten sollte. Das Unternehmen, bei dem er angestellt ist, wäre überflüssig. Können
wir uns unter den Beträgen, um die es in den Fällen Zumwinkel,
Middelhoff, Funke & Konsorten geht, überhaupt noch etwas
vorstellen? Nein? Dann machen wir es uns einfacher: Wir stellen uns
jetzt die bescheidene Summe von 94 Millionen Euro vor – und schon
erscheint vor unserem Auge der Weltfußballer des Jahres 2008, der
Portugiese Christiano Ronaldo. Exakt für diese Ablösungssumme wurde er
im Sommer 2009 von Manchester United an Real Madrid verkauft. Ja,
Leistung muss sich wieder lohnen! Hat sich daran nach der
„Bankenkrise“ etwas geändert? Nein! Wer Erfolg haben wollte, der
musste weitermachen wie bisher. Das „hat eine wenig beachtete Studie
aus den Vereinigten Staaten belegt. Die Unternehmungsberatung James F.
Reda aus New York untersuchte die Geschäftsberichte von 200 großen
amerikanischen Unternehmen und versuchte herauszufinden, wie sich die
Bezahlung der Manager durch die Krise verändert hat. Das schockierende
Ergebnis: Die Anreizsysteme werden in diesem Jahr [2009] nicht etwa
langfristiger orientiert sein, wie man nach all den hehren Worten der
vergangenen Monate hätte hoffen können, sie werden kurzfristiger
[sein].“ Soweit der Wirtschaftsexperte Nikolaus Piper (2009). Die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit über unser Wirtschaftssystem
konnte man auch im Spiegel
nachlesen. Schwarz auf Weiß stand dort 2009 auf dem Titelblatt von Heft
Nr. 11: „Der Jahrhundert-Fehler. Wie die Pleite einer einzigen Bank
die Weltkrise auslöste.“ Jetzt wusste man es besser: Es waren doch
nicht einige wenige Manager, die sich unanständig benommen hatten; es
war eine „einzige“ Bank, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt
hatte. Gemeint war die US-Investmentbank Lehman
Brothers, deren Zusammenbruch als Auslöser der Finanzkrise 2008
verstanden werden sollte. Und nun verstand man endlich, welch
dummes armes Schwein Mackie Messer war, der die Unterwelt, anstatt die
Bankenwelt beherrschen wollte. Er war ein ganz ganz böser Mensch –
und glaubte doch noch an das Gute in den Menschen. Natürlich
hab ich leider recht: Die
Welt ist arm, der Mensch ist schlecht. Wir
wären gut – anstatt so roh, Doch
die Verhältnisse, sie sind nicht so. (Bert
Brecht – Dreigroschenoper) Ja,
was erreicht man denn durch den Einbruch in eine Bank im Vergleich zum
Besitz einer Bank? Der Einbrecher in eine Bank ist ein schlechter Mensch
– und der Besitzer einer Bank kann sich auf die Verkommenheit seiner
Kunden verlassen, die nach immer größeren Renditen gieren. Wie hätte
Bernard Madoff, der seinen Investmentfond nach dem Schnellballsystem
organisierte und im Juni 2009 zu 150 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde,
nachdem der Schwindel aufgeflogen war, denn sonst an die 65 Milliarden
Dollar kommen sollen, die er veruntreute – wenn er sich nicht auf die
Gier der Leute hätte verlassen können, die das Geld zu ihm brachten? Und
dann tauchte im Zusammenhang mit der so genannten Finanzkrise
ausgerechnet in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung auch noch eine alte – früher oft mit
antisemitischen Konnotationen versehene – Unterscheidung auf, nämlich
die zwischen „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, wenngleich
sie in diesem Fall mit fein geschliffenen Worten daherkam. Der Direktor
des US-Immobilienunternehmens Spitzer
Enterprise ließ in einem Interview mit besagter Zeitung wissen:
„Es ist eine Sache, ob eine Investmentbank riesige Summen verdient,
indem sie quasi als Hedge-Fonds an den Märkten Volatilitäten und
Fehlbewertungen ausnutzt, und
eine andere, reale Werte und Jobs zu schaffen.
In meinen Augen konzentriert sich die amerikanische Wirtschaftspolitik
gegenwärtig viel zu stark auf die Rettung der Finanzindustrie, statt
die Realwirtschaft voranzubringen, die den wahren Mehrwert produziert“
(FAZ.Net 22.09.2009 – http://www.faz.net/-00n12d).
„Der wahre Mehrwert!“ Das klingt ja so, als sei Karl Marx von den
Mausetoten auferstanden, hatte der doch immer nur vom Mehrwert als dem
Wert gesprochen, den der Knecht der Arbeit (genannt: „Arbeitnehmer“)
schafft und den der Herr der Arbeit (genannt: „Arbeitgeber“) an sich
rafft. Kapital
sei tote Arbeit, meinte Karl Marx. Es schaffe keinen Wert. Es sei doch
immer auf lebendige Arbeit
(sprich: auf Menschen) angewiesen, wenn es sich langfristig lohnen
solle. Kapital ist, bildlich gesprochen, einem Vampir vergleichbar, der
immer neue Blutzufuhr braucht, wenn er als Untoter weiterleben will. Das
kann auf Dauer nicht gut gehen. Irgendwann platzt jede Blase. Dann ist
die Luft raus. Und auf die sind die Händler an der Börse angewiesen.
„Ein Händler an der Börse ist einem Alchimisten im Mittelalter
vergleichbar, nur macht er nicht aus Blei Gold, sondern aus Luft Geld“
(Ziegler 2000, S. 61). Hans Christoph Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Sankt Gallen, hat die Erfindung des Geldes im 7. Jh. v. Chr. verortet. Die Folgen dieser Erfindung hat er so beschrieben: „Indem man mit Münzen bezahlte, konnte sich der Handel leicht über alle Grenzen ausbreiten und mit ihm eine immer weiter ausgreifende Arbeitsteilung. Mit dieser wurde die Produktivität der Wirtschaft enorm gesteigert. Gleichzeitig wurde die Wirtschaft aber immer mehr in den Bann des Geldes und seiner Dynamik gezogen. Man konnte aus wenig Geld mehr Geld machen […]. Daraus ergibt sich eine Expansionsspirale, der man kaum mehr ausweichen kann. Dies wurde schon zu Beginn der Münzprägung erkannt. So schreibt Pittakos, einer der sieben Weisen des Altertums: ‚Gewinn ist unersättlich.’ […] Diese Unersättlichkeit hat aber auch schon sehr bald zur Überbeanspruchung der Natur geführt, zu einem Raubbau, in Griechenland insbesondere durch die Abholzung der Wälder, um Holz zu gewinnen für den Bau von Schiffen, Hafenanlagen und Gebäuden. Es kam zu einer zunehmenden Verkarstung der Küstengebiete“ (Binswanger 2000, S. 6). Der Zusammenhang von Geldwirtschaft und Umweltzerstörung ist also seit alters her bekannt. Und deshalb kann man im nächsten Sommer, wenn bei den neueren Griechen wieder einmal die Wälder brennen werden, bei einem alten Griechen – bei Platon – nachlesen, welches Bild der nach der Abholzung der Wälder vor Augen hatte. Es sah, so heißt es im Dialog Kritias, nur „noch das Knochengerüst eines Leibes […], der von einer Krankheit verzehrt wurde; ringsum ist aller fette und weiche Boden weggeschwemmt worden, und nur das magere Gerippe des Landes ist übrig geblieben“ (zit. n. Binswanger 2000, S. 6). 5.
Brennende
Gier – versengte Seelen. Und die Erlösung kommt von oben Das
politökonomische Wissen, das der Spiegel
im März 2009 unters Volk gebracht hatte, wurde im Mai 2009 vertieft. In
Heft Nr. 20 erfuhr man nun alles über „Das Prinzip Gier“. Und man
erfuhr auch noch gleich: „Warum der Kapitalismus nicht aus seinen
Fehlern lernen kann“. Ja, der Kapitalismus! Er kann überhaupt nichts
anderes als weitermachen. Immer weiter, immer schneller … Und so
konnte man bereits drei Jahre nach der Spiegel-Fechterei
von 2009 unter dem Suchwort „Weltwirtschaftskrise 2011“ bei Google
(allein in deutscher Sprache) 732.000 Einträge finden. Jetzt standen
Europa und die USA vor der Pleite. Und wer bezahlte die Zeche? Doch wohl
nicht die Trunkenbolde? Nein! „Zahlen müssen immer die Bürger“
(Focus 29.06.2011 – http://www.focus.de/finanzen/news/tid-22745/tid-22747/staatspleiten-in-der-geschichte-zahlen-muessen-immer-die-buerger_aid_639555.html).
Alles
wie gehabt. High sein, frei
sein, überall dabei sein! Das war schon immer so: „Ende 2008
rettete Spaniens Regierung die Banken mit Milliarden von Euros, die sie
nicht hatte. […] Doch während die Zahl der Arbeitslosen ein
historisches Hoch erreichte, strichen die 35 größten an der Madrider Börse
notierten Unternehmen rund 50 Milliarden Euro ein, 25 Prozent mehr als
2009. Für den lautesten Aufschrei sorgte der Mobilfunkkonzern Telefónica.
Er kündigte die Entlassung von 6000 Mitarbeitern an – und zahlte
seinen Managern Gehälter in Höhe von 450 Millionen Euro und 6,9
Milliarden Euro an Boni“ (Gutiérrez 2011).
Doch dann stand plötzlich die halbe Welt in Flammen. „Seit
Anfang des Jahres [2011] erheben
sich überall die Jungen. In Tunesien und Ägypten haben sie zwei
Diktatoren gestürzt. In Griechenland und Spanien haben sie vor den
Regierungsgebäuden gezeltet. In Israel überraschen sie die Regierung
mit ihren Massendemonstrationen für niedrigere Mieten. […] All
diese Länder sind sehr unterschiedlich, aber die Jungen haben lange
eine Erfahrung geteilt: Sie waren unten, und die Alten waren oben. […]
Das trifft auch auf London zu.
Vielleicht hatten auch die Plünderer von London einmal Hoffnung. Schließlich
begann alles mit einer friedlichen Demonstration vor einer Polizeiwache
in Tottenham, bevor es zu einer Serie von nächtlichen Massenkrawallen
in London und anderen Städten ausartete. […] Wer
in Tottenham lebt, ist, statistisch gesehen, öfter arm und auf
staatliche Hilfe angewiesen. Die streicht die konservativ-liberale
Regierung gerade stark zusammen. Die härtesten Sparmaßnahmen seit dem
Zweiten Weltkrieg treffen vor allem die Schwachen“ (Pham 2011). Norbert
Nedophil, Gerichtspsychiater, schrieb unter der Überschrift „Gewalt
bei Jugendlichen“ in der Süddeutschen Zeitung: „Wir leben in Zeiten, in denen den Menschen
immer größere Anpassungsleistungen an eine komplexe, globale Umwelt
abverlangt werden. Dies treibt einen kleinen, aber nicht zu übersehenden
Teil der Bevölkerung immer weiter ins Abseits.“ Sie befinden sich in
einer Überforderungssituation, die Angst und Aggression auslöst, was
dazu führt, dass „vorausschauendes Planen“ und die damit verbundene
Berücksichtigung der Konsequenzen des eigenen Handelns nicht mehr möglich
sind. Stattdessen werde dann der „kurzfristige Triumph“ gesucht.
Nein, Nedophil (2009) meinte nicht die Banker und Manager, die wir bei aller öffentlichen
Verurteilung heimlich beneiden; er meinte auch nicht die Spitzensportler, die wir als Helden verehren, obgleich wir
wissen, dass sie bis zur Halskrause mit Dopingmitteln voll gepumpt sind.
Nedophil meinte die von allen guten Geistern und jeder sozialen
Einbindung verlassenen Jugendlichen, die auf einer U-Bahnstation wegen
gekränkter Ehre oder wegen ein paar Cent oder „einfach nur so“
einen Menschen erst halbtot und dann ganz tot prügeln. Immer weiter,
immer schneller, immer höher, immer brutaler – ohne Rücksicht auf
die Konsequenzen des Handels und des Handelns. Die
Finanzkrise 2008 hatte ihren Ausgangspunkt eben gerade nicht im Zusammenbruch
der Investmentbank Lehman Brothers;
sie hatte ihren Ausgangspunkt im Höhenflug
der Finanzakrobaten, die zu extrem niedrigen Zinssätzen
Hypothekenkredite an Menschen verkauften, die sich damit Häuser
leisteten, die sie sich niemals hätten leisten dürfen. Die Verkäufer
dieser Darlehensverträge sackten fette Boni ein, und die Käufer dieser
Immobilien steckten den Kopf in den Sand – bis sie ein paar Jahre später
die Vertragsbestimmungen durchlasen und erkannten, dass sie bei
steigenden Zinsen steigende Zinszahlungen zu leisten hatten. So kam es,
wie es kommen musste: Nachdem die Häuserpreise jahrelang angestiegen
waren, weil es immer mehr Menschen gab, die sich Häuser leisten
konnten, die sie sich niemals hätten leisten dürfen, brach der
Immobilienmarkt zusammen. Bereits 2007 wurden 1,3 Millionen
US-Immobilien zwangsversteigert. Doch schlaue Banker hatten vorgesorgt.
Sie wussten, dass die Möchtegern-Immobilienbesitzer ihre Kredite
langfristig gar nicht bedienen konnten. Also hatten sie die faulen
Kredite in komplizierten Finanzpapieren versteckt, die sie an weniger
kluge Banker verkauften, die sie an noch dümmere Banker
weiterverkauften. Und am Ende dieser wundersamen Geldvermehrungskette saßen
die Dümmsten auf wertlosen Papieren fest. Und weil zu diesen Allerdümmsten
auch die Manager der Nord-LB und anderer Kreditinstitute gehörten, übernahm
der Staat – sprich: der deutsche Steuerzahler – die Schulden, die
die Banken von den Schuldnern nun nicht mehr bezahlt bekamen. Und weil
der Steuerzahler auch nicht genügend Geld hatte, blieben die Schulden
des Staates, also die Schulden der Banken, bei den Kindern und
Kindeskindern des Steuerzahlers hängen. Business as usual. Mitte
2008 hatte sich bei den Banken weltweit ein Schuldenberg von 435
Milliarden Dollar angehäuft. Und da ein Unglück selten allein kommt,
erreichte der Ölpreis just zu dieser Zeit seinen (bis dahin)
historischen Höchststand. Dadurch erhöhten sich die
Nahrungsmittelpreise, denn zur Produktion und zum Transport von Nahrung
benötigt man Treibstoff, und der war jetzt so teuer wie noch nie.
UN-Experten haben schon einmal vor(aus)gerechnet: Wegen der
Nahrungsverknappung und der fortschreitenden Verseuchung der Umwelt
werden in den kommenden Jahren 150 Millionen Menschen auf der Flucht
sein. Und wenn der Klimawandel nicht aufgehalten werden kann – und das
kann er nicht –, werden in den nächsten vierzig Jahren etwa zwei
Milliarden Menschen unter Wassermangel leiden. Und Abermillionen werden
ihre Heimat verloren haben, denn weite Küstengebiete und ganze Inseln
werden im Meer versunken sein. „Sagen
wir es doch mal nüchtern: Das, was sich gegenwärtig als Realpolitik
verkauft, ist völlig illusionär, weil es nicht ein einziges der
Zukunftsprobleme – Klimawandel, schwindende Ressourcen, wachsender
Wasser- und Nahrungsmangel, Ansteigen des globalen Konfliktpotenzials
und Raubbau an der Zukunft unserer Kinder – bearbeitet. Ich würde da
eher von Krisenverliebtheit der Realpolitiker und -innen sprechen.
Krisen helfen ihnen ja auch, sich als rastlose Krisenmanager zu
profilieren“, äußerte Harald Welzer in einem Interview (Feddersen
2009). Das Wirtschaftssystem, dem „wir“ unseren Wohlstand (und die
nachfolgenden Generationen den sicheren Ruin) verdanken, verlangt nun
aber genau nach solchen „Krisenmanagern“. Diese „Narzissten
hungern nach Ruhm und Anerkennung – und gehen dafür große Risiken
ein“ (Buchhorn et al. 2009). Und solchen Erfolgs- und Tatmenschen
müssen wir vertrauen, weil uns gar nichts anderes übrig bleibt. Und
weil wir sonst verzagen würden, hören wir auch noch gern den
Polit-Zombies zu, von denen es heißt, sie seien „weise“. Gestern
waren sie noch irgendwo Erster Bürgermeister oder sonst was – und
heute sondern sie an jedem Tag der Woche bei irgendeinem Sender in
irgendeiner Talkshow Plattitüden ab, die der letzte Depp von sich geben
könnte – wenn man ihn denn dazu einladen würde. Ja,
jeder kann den Weg vom Tellerwäscher zum Millionär zurücklegen. Und
da wir schon einen Zweitwagen haben, wird in ein paar Jahren auch jeder
Chinese und jeder Inder einen bekommen. Keine
Angst! Es gibt noch Kritiker des Kapitalismus. Einer davon heißt
Horst-Eberhard Richter. „Der moderne Kapitalismus ist krank“,
gab er bekannt. Alsdann beschwor er die Frauen. Sie könnten sich jetzt
wieder als Krankenschwestern bewähren, meinte er. Warum? „Die Wertewelt von
Frauen ist stärker durch Hilfsbereitschaft und Teilen mit anderen geprägt
als bei Männern“, meinte er. Und weil Horst-Eberhard Richter Essentialist des Geschlechterunterschieds und daher der
Auffassung ist, dass die Erlösung der Welt nicht fern ist, wenn in
Politik und in Wirtschaft erst einmal mehr
Frauen als heute das Sagen haben, setzte er alles auf diese Hoffnung:
„Das ebenbürtige Einrücken der Frauen in Führungspositionen ist
noch mitten im Gang und wird sich vermutlich eher noch beschleunigen“ (Richter
2009). Und das ist auch gut so, denn mit Frau Merkel allein könnte es
noch schneller abwärts gehen. Haben
wir also Geduld, dann wird alles besser. Das ist eine alte – und sehr
kindliche – Hoffnung, die sich aus der Erfahrung mit der guten Mutter
speist, die gar nicht böse sein konnte, weil das Kind alles Böse vom
Bild fernhielt, das es sich von der guten Mutter machen musste, wenn es
ruhig einschlafen wollte. Ja,
so kindlich geht man seit Beginn der kapitalistischen
Industriegesellschaft auch kollektiv mit der vermeintlichen „Natur“
der Frauen um. Was Schritt für Schritt abgeschafft wurde, sollte im
Heim der guten Mutter überleben. Der Kälte in der Welt dort draußen
setzte man die Wärme in der Stube hier drinnen entgegen. Was in der
kapitalistischen Warenwelt zugrunde ging, sollte wenigstens drinnen –
in der Phantasie- und Wunschwelt – erhalten bleiben. Was in der Welt
des Wirtschaftens kontraproduktiv wurde, sollte in der Familie weiter
gelten: lebenslange Bindungen. Ja, das Bild der Mutter-Hausfrau musste
konservativ entworfen werden, wollte man den Glauben an das Verlorene
nicht auch noch verlieren: den Glauben an das Mitleid, die Treue, die Fürsorge
die Heimat – und an all die Menschen, die man von Kindheit an kannte.
Sie konnten sich doch nicht in alle Winde zerstreuen? Doch! In der
wirklichen Welt würde sich jeder Unternehmer ruinieren, der die
Arbeitsplätze (und damit die Arbeiter) behielte, die der Konkurrent
wegrationalisierte. Der Arbeiter ist kein Leibeigener. Der Arbeiter ist
frei. Der Arbeiter kann bleiben, wo er will. Anders
die ideale Mutter. Sie garantiert das „Ewigweibliche“. Und so wurden
die Frauen auf das Ewigbleibende eingeschworen und mit einer Bürde
beladen, die keine reale Frau auf Dauer ertragen kann. Die Frauen wurden
dazu erzogen, sich selbst als Beweis des Besseren, als Garantinnen der
Treue miss zu verstehen, während die Männer hinaus ins feindliche
Leben stürmten. Das Gedicht, in dem Schiller diese moderne kulturelle
Geschlechterpolarität festhielt, war nicht etwa als Parodie auf die
(durch die wirtschaftliche Entwicklung längst überholte) Aufgaben- und
Rollenverteilung gedacht, es sollte ein Loblied auf die „Natur“ (der
Frauen) sein: Feindlich
ist des Mannes Streben, Mit
zermalmender Gewalt Geht
der wilde durch das Leben, Ohne
Rast und Aufenthalt. Was
er schuf, zerstört er wieder […] Aber
mit zauberisch fesselndem Blicke Winken
die Frauen den Flüchtling zurücke […]. In
der Mutter bescheidener Hütte Sind
sie geblieben mit schamhafter Sitte, Treue
Töchter der frommen Natur. (Friedrich
Schiller – Würde der Frauen) Im
Bild des vorwärts rasenden Mannes, der im Namen des Fortschritts Zerstörung
hinterlässt, ist jenes Prinzip dargestellt, das Goethe in der Gestalt
des Faust dramatisiert hat:
Fortschritt um jeden Preis – auch um den Preis der Vernichtung
lebenslanger Bindungen. Goethe war Realist. Und deshalb verbrennt in
seiner Tragödie das ewig treue Paar Philemon und Baucis in der
bescheidenen Hütte, die Faust
dem Erdboden gleichmachen lässt, weil sie dem Fortschritt im Wege
steht. Goethe war aber auch ein Menschenfreund. Und deshalb tröstete er
sich, Horst-Eberhard Richter und uns alle mit einem Blick gen Himmel,
aus dem die Stimme des Engels ertönt: Gerettet
ist das edle Glied Der
Geisterwelt vom Bösen, Wer
immer strebend sich bemüht, Den
können
wir erlösen. Und
hat an ihm die Liebe gar Von
oben teilgenommen, Begegnet
ihm die selige Schar Mit
herzlichem Willkommen. (Goethe
– Faust II) Tja.
Und wer trotz alledem nicht an
Wunder glauben kann, der wundert sich auch nicht, dass wir das Zeitalter
der Vernunft hinter uns gelassen haben und in einem neuen Zeitalter des
Glaubens (und der Religionskriege) angelangt sind. Und so können wir
nun wieder alles, was uns Angst macht, in den Bösen lokalisieren, die
wir zu diesem Zweck erschaffen müssen.[i]
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Journal für Philosophie Nr. 11 (1/2000), S. 60-64. Dieser
Beitrag ist erstmals erschienen in: Konkursbuch
50, 2012, S. 115-146.
[i] Der vorstehende Text beruht auf zwei Vorträgen,
die hier überarbeitet und erweitert worden sind: 1.
Rock Pop Sexpol. 1968 und die Sexualität, gehalten am
16.01.2009 in der Reihe Erinnern
oder Verdrängen? 1968 – heute; Gesellschaft für
Psychoanalyse Innsbruck – Universität Innsbruck. 2. Brennende
Gier – Versengte Seele. Psychosoziale Aspekte der
Weltwirtschaftskrise, gehalten im Rahmen des 67.
Psychotherapie-Seminars Freudenstadt, 24.-27.09.2009.
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