Bernd Nitzschke

 

»Halbjude« oder ganzer Mensch?

Über fremdbestimmte und selbst gewählte Identität.

Ein Buchessay zu Karl von Motesiczky und

zum Verein »Der halbe Stern«

 

Nach der Besetzung Österreichs durch Hitlers Truppen im März 1938 emigrierte Marie-Louise von Motesiczky mit ihrer Muter Henriette – beide waren tschechische Staatsbürgerinnen – über Holland nach London, während ihr 34-jähriger Bruder Karl von Motesiczky, der die österreichische Staatsbürgerschaft besaß, in Wien blieb, um den umfangreichen Besitz der Familie zu verwalten. Außerdem wollte er das Medizinstudium zu Ende bringen, das er vor Jahren begonnen, dann aber unterbrochen hatte. Und er wollte seine Ausbildung als Psychotherapeut fortsetzen. So schloss er sich dem Kreis um August Aichhorn an, der zu den wenigen Mitgliedern der aufgelösten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehörte, die nicht emigriert waren.

 

In den folgenden Jahren fühlte sich Motesiczky dann offenbar sicher genug, um die Villa Todesco in der Hinterbrühl – das im Wiener Wald gelegene herrschaftliche Anwesen der Familie – zu einer Art »Judenzufluchtsstätte« zu machen. Hier fanden Verfolgte Schutz, wie etwa Franz und Annie Urbach (die Tochter von Freuds Stellvertreter Paul Federn), bevor sie ins Ausland entkommen konnten. Als einem Ehepaar aus Polen bei der Flucht in die Schweiz geholfen werden sollte, wurde der Plan jedoch verraten. Karl von Motesiczky und seine Freunde Kurt und Ella Lingens wurden verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Das Ehepaar Lingens überlebte, Motesiczky starb im Lager an Flecktyphus.

 

Nach dem Krieg wurde das Familienanwesen in der Hinterbrühl verkauft. Heute befindet sich dort ein SOS-Kinderdorf – und ein Gedenkstein, den die Schwester und die Mutter errichten ließen: »Karl von Motesiczky – geb. 1904, gest. 1943. Für die selbstlose Hilfe, die er schuldlos Verfolgten gewährte, erlitt er den Tod.«

 

1980 wurde dieser stille Held als einer von 83 Österreichern mit der Auszeichnung »Gerechter unter den Völkern« vom Staat Israel geehrt. Sein Lebens- und Leidensweg blieb dennoch weitgehend unbekannt. Das hat sich geändert, nachdem Christiane Rothländer mit ihrer Promotionsarbeit, die jetzt in überarbeiteter Fassung als Buch erschienen ist (Rothländer 2010), eine gründlich recherchierte Werkbiografie vorlegen konnte. Der Untertitel ihres Buches – »Eine biographische Rekonstruktion«– ist jedoch allzu bescheiden. Denn die Autorin hat anhand des in den Archiven aufgefundenen und von ihr sorgfältig aufbereiteten Materials nicht nur eine Biografie rekonstruiert, sondern mit ihren Recherchen auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Psychoanalyse geleistet, geht es doch wesentlich um die Zeit, in der eine verschwindend kleine Minderheit unter den Psychoanalytikern – die so genannten Linksfreudianer – versuchte, die Psychoanalyse im Kampf gegen die NS-Ideologie einzusetzen.

 

Der prominenteste Kopf dieser informellen Gruppe war Wilhelm Reich – und Karl von Motesiczky war sein Freund. Nachdem er im Wintersemester 1929/30 in Marburg das Theologiestudium und bereits Kontakt zur Kommunistischen Partei aufgenommen hatte, setzte Motesiczky das Studium 1931 in Berlin fort. Ein Jahr später begann er seine psychoanalytische Behandlung bei Reich, dessen Kampf gegen den Nationalsozialismus er sich ebenfalls anschloss. Nach der »Machtergreifung« gelang Motesiczky und Reich die Flucht aus Berlin. Auf Umwegen gelangten sie nach Skandinavien. Damit waren sie der Gestapo zuvorgekommen, die nach ihnen fahndete, nachdem die »Bundespolizeidirektion Wien« auf die beiden »wegen kommunistischer Umtriebe« gesuchten »österreichischen Staatsangehörigen« aufmerksam gemacht hatte. Einige Jahre später trennten sich die Wege der Kampfgefährten für immer: Motesiczky kehrte – nur drei Monate vor dem »Anschluss« – nach Wien zurück; und Reich erhielt – noch rechtzeitig vor der Besetzung Norwegens durch die deutschen Truppen – eine Aufenthaltsgenehmigung für die Vereinigten Staaten, in die er 1939 emigrierte.

 

In Kopenhagen, Malmö und Oslo war Motesiczky nicht mehr nur Reichs Patient; er war jetzt auch dessen Mitarbeiter und Mäzen. Mit seinem Vermögen unterstützte er die »naturwissenschaftlichen« Forschungsarbeiten zur »Sexualökonomie«, mit deren Hilfe Reich die bio-elektrischen Grundlagen von Sexualität und Angst erforschen wollte. Außerdem finanzierte er den Sexpol-Verlag und damit die organisatorische Zusammenarbeit der Gruppe um Reich mit anderen linken Oppositionellen, die gegen Hitler-Deutschland agitierten – vor allem mit Vertretern des dänischen Kulturradikalismus. Das war nicht ganz ungefährlich, denn der »Führer« galt vielen westlichen Staatsmännern als ein – wenngleich etwas ungeschliffener, so doch nützlicher – Verbündeter im Kampf gegen den Bolschewismus. Das musste auch der dänische Journalist Edvard Heiberg schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dessen Fall Christiane Rothländer dokumentiert. Er hatte 1934 »Hitler-Deutschland in der Zeitschrift Plan als Land der Kulturbarbarei bezeichnet und Hermann Göring kritisiert«. Deshalb wurde er in einem Gerichtsverfahren »wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes eines fremden Landes und dessen Reichsminister zu einer Gefängnisstrafe von vierzig Tagen verurteilt«.

 

Reich war in dieser Zeit für Motesiczky aber weit mehr als nur ein Freund und Lehrer. Motesiczky sah in Reich den Erlöser, der ihn von der Einsamkeit befreien sollte, unter der er so sehr litt. Im April 1935 war es dann endlich so weit. Befreit schreibt Motesiczky an die damals noch in Wien lebende Schwester: »Ich habe eine Freundin! Eine Richtige: nicht bloss so für einmal. Eine Frau, die aus dem gleichen Kreis kommt, wie ich, die gleiche Weltanschauung hat, sehr gebildet ist, Vorträge hält und Artikel schreibt und ausserdem sehr schön ist. – Also drei Jahre Analyse und Qual waren nicht umsonst […] Reich musste unendlich viele Illusionen kaputt schlagen um mich aus einer stets leicht komischen Figur zu einem Mann umzubauen, den eine Frau wirklich lieb haben kann. Das war schmerzlich, aber es hat sich gelohnt.«

 

Motesiczkys Sehnsucht nach einem väterlichen Freund wird verständlich, wenn man seine Kindheit kennt. Er war erst fünf Jahre alt, als der Vater starb. Edmund von Motesiczky de Kesselökeö, ein ungarischer Adeliger und Bohemien, begeisterter Jäger und Cellist, hatte 1903 die 16 Jahre jüngere Henriette von Lieben geheiratet. Sie gehörte dem jüdischen Wiener Großbürgertum an, der Vater war katholisch. Gemeinsam traten sie zum evangelischen Glauben über. Das erleichterte die Formalitäten für die von beiden gewünschte christliche Ehe.

 

Zeitlebens litt Motesiczky unter diesem frühen Verlust des Vaters, zumal die Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes innerlich zerbrochen war, dem Sohn nun auch keinen Halt mehr geben konnte. Also suchte er Halt bei einem Ersatzvater. In den 1920er Jahren sollte das der 13 Jahre ältere Schriftsteller Heimito von Doderer sein. Auch ihn unterstützte Motesiczky mit Geld – doch er bekam von ihm nicht, was er sich wünschte: Verlässlichkeit. In einem Brief an die Schwester heißt es dazu bitter: »Ich habe ihm [Doderer] ja auch geschrieben, daß er es [das Geld] behalten kann, wenn er es noch braucht. Aber daß er nur mit mir befreundet ist, wenn er mich braucht und spurlos verschwindet, wenn es ihm gerade nicht ganz bequem ist, […] das wirft kein gutes Licht auf ihn!«

 

Und auch das zeigt die Ungleichheit der beiden Männer – und wirft einen Schatten auf das Bild des später berühmten Romanciers: Während Doderer im April 1933 der (österreichischen) NSDAP beitrat, suchte die Gestapo in Berlin nach Motesiczky.

 

Zum Verwandtschaftskreis der Mutter gehörten die Familien Lieben, Gomperz, Todesco, Auspitz und Wertheimstein. Es waren assimilierte Juden, die sich als deutschliberal verstanden und kosmopolitisch eingestellt waren. Sie haben den Modernisierungsprozess der Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert wesentlich mitgestaltet (vgl. Rossbacher 2003). Dazu gehörten bedeutende Bankiers, Unternehmer und Erfinder, aber auch Gelehrte wie Theodor Gomperz, der Freud als Student mit der Übersetzung einiger Schriften von John Stuart Mill beauftragt hatte. Franz von Brentano, vormals katholischer Priester und jetzt Professor für Philosophie an der Universität Wien, bei dem Freud als Student Vorlesungen gehört hatte, war ebenfalls Mitglied dieser Großfamilie. Er hatte Ida von Lieben geheiratet, die Schwester des 1891 nobilierten Bankiers Leopold von Lieben, Karl von Motesiczkys Großvater. Und dessen Frau, Anna von Lieben, das war die »hochintelligente Dame, der ich auch viel Förderung im Verständnisse hysterischer Symptome verdanke« – so charakterisierte Freud Karl von Motesiczkys Großmutter in den Studien über Hysterie (1895, S. 129f., Anm. 2), in denen er sie unter dem Pseudonym »Cäcilie M.« als Patientin vorgestellt hat. Weniger begeistert vom Ausgang dieser Behandlung mittels Hypnose und Suggestion, die Josef Breuer, der Hausarzt der Familie Lieben, vermittelt hatte, war Theodor Gomperz, der 1893 an seine Frau schrieb: »Alle vernünftigen Leute mit Ausnahme Breuer’s und Freud’s warnen unaufhörlich vor der Fortsetzung dieser bisher mehr als ergebnislosen Experimente.«

 

Wer also war Karl von Motesiczky? Er war – wie der Vater – Cellist. Er war ein Mäzen für Kunst und Wissenschaft. Er war ein Kulturweltbürger. Er engagierte sich für die individuelle (Psychoanalyse) und kämpfte für gesellschaftliche (Marxismus) Emanzipation. Er hatte Mitleid mit den Verfolgten und Gedemütigten – und riskierte für sie sein Leben. Er war ein Mensch. Für die Nationalsozialisten aber, die vom Wahn besessen waren, die »Identität« eines Menschen ließe sich durch dessen »Rasse« definieren, war er nur ein halber Mensch: ein »Halbjude«.

 

In den vormodernen Zeiten waren die Heimat – der Landstrich, in den man hineingeboren und in dem man in der Regel auch wieder begraben wurde –, die Religion und der Beruf ausreichend, um die »Identität« eines Menschen festzustellen. Als der Lauf der Welt dann aber immer schneller wurde und sich immer mehr Menschen an immer neuen Orten nach immer neuer Arbeit umsehen mussten, weil ihr alter Beruf nicht mehr taugte, das Überleben zu sichern, und als dann auch noch die Religion ihre Kraft verlor, den Lebenslauf eines Menschen von der Wiege bis zur Bahre mit Sinn auszustatten, da hatte man mit der Heimat auch die alten Gewissheiten verloren. Jetzt suchte man nach neuen Ritualen und Symbolen, die Halt geben sollten – und man fand Ahnen und Urahnen, die einem dabei halfen, die eigene »Identität« abzusichern.

 

Nun besaß man eine neue »politische« Religion, die aber hatte alte Wurzeln. Sie reichen zurück in die Zeit, in der man die Welt zu »zivilisieren« begann – sprich: fremde Völker versklavte und fremde Kulturen zerstörte. Schon damals wusste man genau, wer der weißen »Herrenrasse« und wer einer »primitiven« Rasse angehörte. Kurz: Der Rassismus ist älter als der Rassen-Antisemitismus, der sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, als man mitten in Europa ein neues »fremdes« Volk (er)fand, ein Kollektiv, das sich bis dahin durch seine Religion, nicht aber als »Rasse« definiert hatte.

 

Jetzt gab es nicht nur religiöse, sondern auch noch »unsichtbare« Juden: getaufte und areligiöse Menschen, die sich von der Religionsgemeinschaft ihrer Vorfahren längst verabschiedet hatten. Damit stellte sich die »Judenfrage« in neuer Dringlichkeit. Denn sie würde ja auch dann »existiren, wenn alle Juden ihrer Religion den Rücken gekehrt und zu einer der bei uns vorherrschenden Kirchen übergetreten wären. Ja, ich behaupte, dass in diesem Fall die Auseinandersetzung zwischen uns und den Juden sich als ein noch weit dringenderes Bedürfnis fühlbar machen würde, als dies ohnehin schon der Fall ist. Gerade die getauften Juden sind stets diejenigen gewesen, die ohne Hindernisse am weitesten in alle Canäle der Gesellschaft und des politischen Gemeinlebens eingedrungen«, heißt es bei Eugen Dühring (1881/1901, S. 4), einem der Begründer des Rassen-Antisemitismus, der sich darum bemühte, die »unsichtbaren« Juden wieder sichtbar zu machen. Das war notwendig, wollte man den Volkskörper »rein« erhalten. Und so wurde nun – nach der über Jahrhunderte im Namen der christlichen Religion praktizierten Diskriminierung und Verfolgung der Juden – im Namen der »Rasse« auch noch die Eliminierung der Juden gefordert. Denn: »Kein geistiges, kein sociales, kein politisches System kann die Hebraer wesentlich zu etwas Anderm machen, als was sie sind und auch stets waren. Die Schädlichkeiten, aus denen sich ihr Nationalcharakter zusammensetzt, können daher nur mit ihnen selbst zurückweichen und verschwinden« (ebd., S. 137).

 

Die Nationalsozialisten setzten dieses Programm in mörderische Taten um. Doch wie konnten sie alle Juden finden? Nach jüdisch-religiöser (halachischer) Auffassung ist derjenige ein Jude, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde (matrilineare Abstammung), wobei es keine Rolle spielt, wer oder was der Vater war. Das genügte den Nationalsozialisten nicht. Nach ihrer Definition sollte jeder ein »Volljude« sein, der drei oder vier jüdische Großeltern hatte. Deren Judentum wurde nun aber wiederum aufgrund von deren Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft festgestellt, wodurch sich die verrückte Mischung aus Religion und »Rasse« ergab, mit deren Hilfe nun auch solche Menschen wieder als Juden feststellt werden konnten, die sich selbst kaum mehr als Juden verstanden hatten. So sagte die Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda beispielsweise über sich selbst: »Für mich ist mein Judentum erst mit Hitler eine wirkliche Identität geworden« (zit. n. Ash 2005, S. 274, Anm. 9).

 

Jean Améry hat seine »Identität als Tiroler« auch erst durch die Nürnberger Gesetze verloren. Sie machten ihn zum »Schicksalsjuden« (Weiss 2005, S. 371), zu einem Menschen, der das Schicksal der Verfolgung mit allen zu teilen hatte, die jetzt dem von den Nationalsozialisten nach »rassischen« Kriterien konstruierten Kollektiv zugerechnet wurden. Die in Wien geborene und über Palästina in die USA emigrierte Psychoanalytikerin Else Pappenheim verweigerte sich dieser Fremdzuschreibung. In einem Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Regimes geführten Interview sagte sie über sich und ihre Familie, sie hätten die »jüdische Identität« nicht angenommen, »die Hitler uns aufoktroyieren wollte«. Das gelte auch für die meisten ihrer Wiener Freunde: »Sie waren Juden, weil Hitler mit seinen Rassengesetzen beschlossen hat, dass sie Juden sind« (Pappenheim 2004, S. 71). Ernst Federn, der im Widerstand kämpfte und die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald überlebte, war gemäß nationalsozialistischer Rassentheorie ebenfalls »Volljude«, doch auch er ließ sich seine Identität nicht von den politischen Gegnern vorschreiben. Er habe sich selbst »nie als Jude betrachtet«, heißt es dazu in der von Bernhard Kuschey (2003, S. 264) verfassten Biografie Federns.

 

Der Widerspruch zwischen der von außen zugeschriebenen und der innerlich akzeptierten und damit selbstbestimmten Identität wird von Menschen, die – wie Karl von Motesiczky – Vorfahren haben, die verschiedenen Religionen, Völkern oder Nationen angehörten, oft in besonders leidvoller Weise erlebt. Die damit einhergehenden Identitätskonflikte sind mitbedingt durch die Reaktionen der anderen Menschen, die von sich glauben, »reinen« Ursprungs zu sein, und sich von »Mischlingen« verächtlich abgrenzen. Die meisten der entsprechenden Unworte sind in der Zeit des Kolonialismus entstanden: »Halbblut«, »Mestize«, »Mulatte«. Die Nationalsozialisten fügten neue Unworte hinzu: »Halbjude«, »Vierteljude«, »Mischling 1. Grades« usw.

 

In dem von Brigitte Gensch und Sonja Grabowsky herausgegebenen Band »Der halbe Stern« (2010) werden die Bedingungen des Lebens dieser vermeintlich »halben« Menschen während der Zeit des NS-Regimes sowie die bis heute andauernden Folgen ihres Überlebenskampfes beschrieben. Der Titel des Buches ist identisch mit dem Namen eines Vereins, der sich um das Schicksal der Menschen (und ihrer Nachkommen) kümmert, die im NS-System als »jüdische Mischlinge« stigmatisiert wurden oder als »jüdisch versippt« galten, weil sie, obgleich von »rein arischer« Abstammung, mit einem »Volljuden« oder einer »Volljüdin« verheiratet waren.

 

»Sag bloß nicht, daß du jüdisch bist«, unter diesem Motto stand die 2009 in Berlin abgehaltene Tagung des Vereins. Die dort gehaltenen Vorträge sind jetzt in überarbeiteter Fassung in einem aufrüttelnden Buch nachzulesen. Dabei erfährt man eine Fülle von Fakten über die NS-Zeit, die so nicht allgemein bekannt sind. Etwa über »Judenchristen« (getaufte Juden und deren Nachkommen), die von ihren Glaubensbrüdern und -schwestern während des Dritten Reiches oft schmählich im Stich gelassen worden sind. Aber war Christus nicht selbst ein Jude? Waren die ersten Christen nicht alle getaufte Juden? Sind die heutigen christlichen Palästinenser womöglich gar die Nachkommen dieser ersten Judenchristen?

 

Dem Buch ist eine DVD beigegeben, die Aufzeichnung eines Gruppengesprächs, das während der Tagung stattfand. Vier Frauen und ein Mann geben Auskunft über ihre Verfolgungserfahrungen und stellen ihre bis in die Gegenwart andauernde Bemühung um eine selbst bestimmte Identität dar. Ich greife als Beispiel Ruth Kitschler heraus, die 1926 geborene Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter. Ihr älterer Bruder fiel als Soldat in Russland (so genannte »Halbjuden« wurden mitunter zur Wehrmacht eingezogen), ihr jüngerer Bruder wurde nach einem missglückten Fluchtversuch nach Auschwitz deportiert, überlebte jedoch das Lager (es fand keine systematische Vernichtung der so genannten »Halbjuden« statt). Über die Lebensgeschichte dieser Frau erfährt man nur durch die DVD, da sie – anders als Freimut Duve – nicht zu den Autoren und Autorinnen des Bandes gehört.

 

Duves Biografie demonstriert die Paradoxien fremdbestimmter Identität in besonders krasser Weise und zeigt zugleich die befreienden Möglichkeiten eines selbst bestimmten Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte auf. Freimut Duve ist beides zugleich: Nachkomme der Täter und der Opfer. Nationalsozialistischer Gesetzgebung gemäß wäre er »Halbjude«. Er ist der unehelich geborene Sohn einer Mutter, deren Vater der Gründer der NSDAP in Hamburg-Altona war; und er ist der Sohn von Bruno Herzl, der ein Großneffe Theodor Herzls war, des Autors der Schrift Der Judenstaat, die als Gründungsurkunde des (west)europäischen Zionismus gilt. Die Mutter überlebte, die Familie des Vaters wurde umgebracht. Freimut Duve, langjähriger Herausgeber der Taschenbuchreihe rororo aktuell, später Bundestagsabgeordneter der SPD und von 1997 bis 2001 Beauftragter der OSZE für die Freiheit der Medien, hat aus dieser Familiengeschichte folgenden Schluss gezogen: »[I]ch habe mein Studium dem Rassismus gewidmet. Mein erstes Buch handelt von Südafrika und dem Kampf gegen die Apartheid« (S. 286). In erster Ehe ist Duve mit einer Ägypterin verheiratet, mit der er zwei Töchter hat. Für sie sollten Namen gefunden werden, die nicht nur in Ägypten, sondern auch »in Deutschland und in Israel verstanden würden, denn meine Cousine, die die Shoa überlebte, wohnte inzwischen in Israel. […] Meine älteste Tochter heißt […] in Ägypten Tamra, in Deutschland und Israel Tamara. Die zweite Tochter nannten wir Miriam bzw. Mariam. Und da ich sowohl in Kairo als auch in Jerusalem […] Friedensvorträge gehalten habe, weil mich die falsche, nämlich die Kriegspolitik in den Ländern des Nahen Ostens immer wütend gemacht hat, erzählte ich bei dieser Gelegenheit stets diese Geschichte der Namensfindung« (S. 287).

 

Es ist eine Geschichte, die, wie viele andere in dem hier besprochenen Buch enthaltenen Geschichten, nicht nur die schmerzlichen Seiten einer von außen aufgezwungenen Identität, sondern auch die befreienden Möglichkeiten des selbst bestimmten Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte zeigt.

 

Literatur

 

Ash, M.G. (2005): Learning from Persecution: Emigre Jewish Social Scientists’ Studies of Athoritarianism and Antisemitism after 1933. In: Kaplan, M. & Meyer, B. (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen (Wallstein), S. 271–294.

Dühring, E. (1881/1901): Die Judenfrage als Racencharakters und seiner Schädlichkeiten für Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Mit einer denkerisch freiheitlichen und praktisch abschliesenden Antwort. 5. Auflage, Nowawes-Neuendorf bei Berlin (Personalist-Verlag von Eugen Dühring).

Gensch, B., Grabowsky, S. (Hg.) (2010): Der Halbe Stern. Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik von Personen und Familien teiljüdischer Herkunft. Mit einer DVD: »Sag bloß nicht, daß du jüdisch bist« – ZeitzeugInnen-Plenum 6. März 2009. Gießen (Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag).

Kuschey, B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des Konzentrationslagers, Bd. 1. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Pappenheim, E. (2004): Hölderlin, Feuchtersleben, Freud. Beiträge zur Geschichte der Psychoanalyse, der Psychiatrie und Neurologie. Hg. u. eingel. v. B. Handlbauer. Graz, Wien (Nausner & Nausner).

Rothländer, C. (2010): Karl Motesiczky, 1904–1943. Eine biographische Rekonstruktion. Wien (Turia + Kant)

Rossbacher, K. (2003): Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der liberalen Ära zum Fin de Siècle. Wien (Böhlau).

Weiss, Y. (2005): Das Fremde in uns selbst. Über Identität und Wahrnehmung. In: Kaplan, M. & Meyer, B. (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen (Wallstein), S. 361–372.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in: psychosozial 34 (Nr.125 / Heft III), 2011, S. 113-118.