Bernd Nitzschke
»Halbjude« oder ganzer Mensch?
Über fremdbestimmte und selbst gewählte
Identität.
Ein Buchessay zu Karl von
Motesiczky und
zum Verein »Der halbe Stern«
Nach
der Besetzung Österreichs durch Hitlers Truppen im März 1938 emigrierte
Marie-Louise von Motesiczky mit ihrer Muter Henriette – beide waren
tschechische Staatsbürgerinnen – über Holland nach London, während ihr 34-jähriger
Bruder Karl von Motesiczky, der die österreichische Staatsbürgerschaft besaß,
in Wien blieb, um den umfangreichen Besitz der Familie zu verwalten. Außerdem
wollte er das Medizinstudium zu Ende bringen, das er vor Jahren begonnen, dann
aber unterbrochen hatte. Und er wollte seine Ausbildung als Psychotherapeut
fortsetzen. So schloss er sich dem Kreis um August Aichhorn an, der zu den
wenigen Mitgliedern der aufgelösten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehörte,
die nicht emigriert waren.
In
den folgenden Jahren fühlte sich Motesiczky dann offenbar sicher genug, um die
Villa Todesco in der Hinterbrühl – das im Wiener Wald gelegene
herrschaftliche Anwesen der Familie – zu einer Art »Judenzufluchtsstätte«
zu machen. Hier fanden Verfolgte Schutz, wie etwa Franz und Annie Urbach (die
Tochter von Freuds Stellvertreter Paul Federn), bevor sie ins Ausland entkommen
konnten. Als einem Ehepaar aus Polen bei der Flucht in die Schweiz geholfen
werden sollte, wurde der Plan jedoch verraten. Karl von Motesiczky und seine
Freunde Kurt und Ella Lingens wurden verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
Das Ehepaar Lingens überlebte, Motesiczky starb im Lager an Flecktyphus.
Nach
dem Krieg wurde das Familienanwesen in der Hinterbrühl verkauft. Heute befindet
sich dort ein SOS-Kinderdorf – und ein Gedenkstein, den die Schwester und die
Mutter errichten ließen: »Karl von Motesiczky – geb. 1904, gest. 1943. Für
die selbstlose Hilfe, die er schuldlos Verfolgten gewährte, erlitt er den Tod.«
1980
wurde dieser stille Held als einer von 83 Österreichern mit der Auszeichnung »Gerechter
unter den Völkern« vom Staat Israel geehrt. Sein Lebens- und Leidensweg blieb
dennoch weitgehend unbekannt. Das hat sich geändert, nachdem Christiane Rothländer
mit ihrer Promotionsarbeit, die jetzt in überarbeiteter Fassung als Buch
erschienen ist (Rothländer 2010), eine gründlich recherchierte Werkbiografie
vorlegen konnte. Der Untertitel ihres Buches – »Eine biographische
Rekonstruktion«– ist jedoch allzu bescheiden. Denn die Autorin hat anhand des
in den Archiven aufgefundenen und von ihr sorgfältig aufbereiteten Materials
nicht nur eine Biografie rekonstruiert, sondern mit ihren Recherchen auch einen
wichtigen Beitrag zur Geschichte der Psychoanalyse geleistet, geht es doch
wesentlich um die Zeit, in der eine verschwindend kleine Minderheit unter den
Psychoanalytikern – die so genannten Linksfreudianer – versuchte, die
Psychoanalyse im Kampf gegen die NS-Ideologie einzusetzen.
Der
prominenteste Kopf dieser informellen Gruppe war Wilhelm Reich – und Karl von
Motesiczky war sein Freund. Nachdem er im Wintersemester 1929/30 in Marburg das
Theologiestudium und bereits Kontakt zur Kommunistischen Partei aufgenommen
hatte, setzte Motesiczky das Studium 1931 in Berlin fort. Ein Jahr später
begann er seine psychoanalytische Behandlung bei Reich, dessen Kampf gegen den
Nationalsozialismus er sich ebenfalls anschloss. Nach der »Machtergreifung«
gelang Motesiczky und Reich die Flucht aus Berlin. Auf Umwegen gelangten sie
nach Skandinavien. Damit waren sie der Gestapo zuvorgekommen, die nach ihnen
fahndete, nachdem die »Bundespolizeidirektion Wien« auf die beiden »wegen
kommunistischer Umtriebe« gesuchten »österreichischen Staatsangehörigen«
aufmerksam gemacht hatte. Einige Jahre später trennten sich die Wege der
Kampfgefährten für immer: Motesiczky kehrte – nur drei Monate vor dem »Anschluss«
– nach Wien zurück; und Reich erhielt – noch rechtzeitig vor der Besetzung
Norwegens durch die deutschen Truppen – eine Aufenthaltsgenehmigung für die
Vereinigten Staaten, in die er 1939 emigrierte.
In
Kopenhagen, Malmö und Oslo war Motesiczky nicht mehr nur Reichs Patient; er war
jetzt auch dessen Mitarbeiter und Mäzen. Mit seinem Vermögen unterstützte er
die »naturwissenschaftlichen« Forschungsarbeiten zur »Sexualökonomie«, mit
deren Hilfe Reich die bio-elektrischen Grundlagen von Sexualität und Angst
erforschen wollte. Außerdem finanzierte er den Sexpol-Verlag und damit die
organisatorische Zusammenarbeit der Gruppe um Reich mit anderen linken
Oppositionellen, die gegen Hitler-Deutschland agitierten – vor allem mit
Vertretern des dänischen Kulturradikalismus. Das war nicht ganz ungefährlich,
denn der »Führer« galt vielen westlichen Staatsmännern als ein –
wenngleich etwas ungeschliffener, so doch nützlicher – Verbündeter im Kampf
gegen den Bolschewismus. Das musste auch der dänische Journalist Edvard Heiberg
schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dessen Fall Christiane Rothländer
dokumentiert. Er hatte 1934 »Hitler-Deutschland in der Zeitschrift Plan als
Land der Kulturbarbarei bezeichnet und Hermann Göring kritisiert«. Deshalb
wurde er in einem Gerichtsverfahren »wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes
eines fremden Landes und dessen Reichsminister zu einer Gefängnisstrafe von
vierzig Tagen verurteilt«.
Reich
war in dieser Zeit für Motesiczky aber weit mehr als nur ein Freund und Lehrer.
Motesiczky sah in Reich den Erlöser, der ihn von der Einsamkeit befreien
sollte, unter der er so sehr litt. Im April 1935 war es dann endlich so weit.
Befreit schreibt Motesiczky an die damals noch in Wien lebende Schwester: »Ich
habe eine Freundin! Eine Richtige: nicht bloss so für einmal. Eine Frau, die
aus dem gleichen Kreis kommt, wie ich, die gleiche Weltanschauung hat, sehr
gebildet ist, Vorträge hält und Artikel schreibt und ausserdem sehr schön
ist. – Also drei Jahre Analyse und Qual waren nicht umsonst […] Reich
musste unendlich viele Illusionen kaputt schlagen um mich aus einer stets leicht
komischen Figur zu einem Mann umzubauen, den eine Frau wirklich lieb haben kann.
Das war schmerzlich, aber es hat sich gelohnt.«
Motesiczkys
Sehnsucht nach einem väterlichen Freund wird verständlich, wenn man seine
Kindheit kennt. Er war erst fünf Jahre alt, als der Vater starb. Edmund von
Motesiczky de Kesselökeö, ein ungarischer Adeliger und Bohemien, begeisterter
Jäger und Cellist, hatte 1903 die 16 Jahre jüngere Henriette von Lieben
geheiratet. Sie gehörte dem jüdischen Wiener Großbürgertum an, der Vater war
katholisch. Gemeinsam traten sie zum evangelischen Glauben über. Das
erleichterte die Formalitäten für die von beiden gewünschte christliche Ehe.
Zeitlebens
litt Motesiczky unter diesem frühen Verlust des Vaters, zumal die Mutter, die
nach dem Tod ihres Mannes innerlich zerbrochen war, dem Sohn nun auch keinen
Halt mehr geben konnte. Also suchte er Halt bei einem Ersatzvater. In den 1920er
Jahren sollte das der 13 Jahre ältere Schriftsteller Heimito von Doderer sein.
Auch ihn unterstützte Motesiczky mit Geld – doch er bekam von ihm nicht, was
er sich wünschte: Verlässlichkeit. In einem Brief an die Schwester heißt es
dazu bitter: »Ich habe ihm [Doderer] ja auch geschrieben, daß er es [das Geld]
behalten kann, wenn er es noch braucht. Aber daß er nur mit mir befreundet ist,
wenn er mich braucht und spurlos verschwindet, wenn es ihm gerade nicht ganz
bequem ist, […] das wirft kein gutes Licht auf ihn!«
Und
auch das zeigt die Ungleichheit der beiden Männer – und wirft einen Schatten
auf das Bild des später berühmten Romanciers: Während Doderer im April 1933
der (österreichischen) NSDAP beitrat, suchte die Gestapo in Berlin nach
Motesiczky.
Zum
Verwandtschaftskreis der Mutter gehörten die Familien Lieben, Gomperz, Todesco,
Auspitz und Wertheimstein. Es waren assimilierte Juden, die sich als
deutschliberal verstanden und kosmopolitisch eingestellt waren. Sie haben den
Modernisierungsprozess der Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert
wesentlich mitgestaltet (vgl. Rossbacher 2003). Dazu gehörten bedeutende
Bankiers, Unternehmer und Erfinder, aber auch Gelehrte wie Theodor Gomperz, der
Freud als Student mit der Übersetzung einiger Schriften von John Stuart Mill
beauftragt hatte. Franz von Brentano, vormals katholischer Priester und jetzt
Professor für Philosophie an der Universität Wien, bei dem Freud als Student
Vorlesungen gehört hatte, war ebenfalls Mitglied dieser Großfamilie. Er hatte
Ida von Lieben geheiratet, die Schwester des 1891 nobilierten Bankiers Leopold
von Lieben, Karl von Motesiczkys Großvater. Und dessen Frau, Anna von Lieben,
das war die »hochintelligente Dame, der ich auch viel Förderung im Verständnisse
hysterischer Symptome verdanke« – so charakterisierte Freud Karl von
Motesiczkys Großmutter in den Studien über Hysterie (1895, S. 129f., Anm.
2), in denen er sie unter dem Pseudonym »Cäcilie M.« als Patientin
vorgestellt hat. Weniger begeistert vom Ausgang dieser Behandlung mittels
Hypnose und Suggestion, die Josef Breuer, der Hausarzt der Familie Lieben,
vermittelt hatte, war Theodor Gomperz, der 1893 an seine Frau schrieb: »Alle
vernünftigen Leute mit Ausnahme Breuer’s und Freud’s warnen unaufhörlich
vor der Fortsetzung dieser bisher mehr als ergebnislosen Experimente.«
Wer
also war Karl von Motesiczky? Er war – wie der Vater – Cellist. Er war ein Mäzen
für Kunst und Wissenschaft. Er war ein Kulturweltbürger. Er engagierte sich für
die individuelle (Psychoanalyse) und kämpfte für gesellschaftliche (Marxismus)
Emanzipation. Er hatte Mitleid mit den Verfolgten und Gedemütigten – und
riskierte für sie sein Leben. Er war ein Mensch. Für die Nationalsozialisten
aber, die vom Wahn besessen waren, die »Identität« eines Menschen ließe sich
durch dessen »Rasse« definieren, war er nur ein halber Mensch: ein »Halbjude«.
In
den vormodernen Zeiten waren die Heimat – der Landstrich, in den man
hineingeboren und in dem man in der Regel auch wieder begraben wurde –,
die Religion und der Beruf ausreichend, um die »Identität« eines Menschen
festzustellen. Als der Lauf der Welt dann aber immer schneller wurde und sich
immer mehr Menschen an immer neuen Orten nach immer neuer Arbeit umsehen
mussten, weil ihr alter Beruf nicht mehr taugte, das Überleben zu sichern, und
als dann auch noch die Religion ihre Kraft verlor, den Lebenslauf eines Menschen
von der Wiege bis zur Bahre mit Sinn auszustatten, da hatte man mit der Heimat
auch die alten Gewissheiten verloren. Jetzt suchte man nach neuen Ritualen und
Symbolen, die Halt geben sollten – und man fand Ahnen und Urahnen, die einem
dabei halfen, die eigene »Identität« abzusichern.
Nun
besaß man eine neue »politische« Religion, die aber hatte alte Wurzeln. Sie
reichen zurück in die Zeit, in der man die Welt zu »zivilisieren« begann –
sprich: fremde Völker versklavte und fremde Kulturen zerstörte. Schon damals
wusste man genau, wer der weißen »Herrenrasse« und wer einer »primitiven«
Rasse angehörte. Kurz: Der Rassismus ist älter als der Rassen-Antisemitismus,
der sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, als man mitten in Europa ein neues »fremdes«
Volk (er)fand, ein Kollektiv, das sich bis dahin durch seine Religion, nicht
aber als »Rasse« definiert hatte.
Jetzt
gab es nicht nur religiöse, sondern auch noch »unsichtbare« Juden: getaufte
und areligiöse Menschen, die sich von der Religionsgemeinschaft ihrer Vorfahren
längst verabschiedet hatten. Damit stellte sich die »Judenfrage« in neuer Dringlichkeit. Denn sie würde ja auch dann »existiren,
wenn alle Juden ihrer Religion den Rücken gekehrt und zu einer der bei
uns vorherrschenden Kirchen übergetreten wären. Ja, ich behaupte, dass in
diesem Fall die Auseinandersetzung zwischen uns und den Juden sich als ein noch
weit dringenderes Bedürfnis fühlbar machen würde, als dies ohnehin schon der
Fall ist. Gerade die getauften Juden sind stets diejenigen gewesen, die ohne
Hindernisse am weitesten in alle Canäle der Gesellschaft und des politischen
Gemeinlebens eingedrungen«, heißt es bei Eugen Dühring (1881/1901, S. 4),
einem der Begründer des Rassen-Antisemitismus, der sich darum bemühte, die »unsichtbaren«
Juden wieder sichtbar zu machen. Das war notwendig, wollte man den Volkskörper
»rein« erhalten. Und so wurde nun – nach der über Jahrhunderte im Namen der
christlichen Religion praktizierten Diskriminierung und Verfolgung der Juden –
im Namen der »Rasse« auch noch die Eliminierung der Juden gefordert. Denn: »Kein
geistiges, kein sociales, kein politisches System kann die Hebraer wesentlich zu
etwas Anderm machen, als was sie sind und auch stets waren. Die Schädlichkeiten,
aus denen sich ihr Nationalcharakter zusammensetzt, können daher nur mit ihnen
selbst zurückweichen und verschwinden« (ebd., S. 137).
Die
Nationalsozialisten setzten dieses Programm in mörderische Taten um. Doch wie
konnten sie alle Juden finden? Nach jüdisch-religiöser (halachischer)
Auffassung ist derjenige ein Jude, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde
(matrilineare Abstammung), wobei es keine Rolle spielt, wer oder was der Vater
war. Das genügte den Nationalsozialisten nicht. Nach ihrer Definition sollte
jeder ein »Volljude« sein, der drei oder vier jüdische Großeltern hatte.
Deren Judentum wurde nun aber wiederum aufgrund von deren Zugehörigkeit zur jüdischen
Religionsgemeinschaft festgestellt, wodurch sich die verrückte Mischung aus
Religion und »Rasse« ergab, mit deren Hilfe nun auch solche Menschen wieder
als Juden feststellt werden konnten, die sich selbst kaum mehr als Juden
verstanden hatten. So sagte die Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda
beispielsweise über sich selbst: »Für mich ist mein Judentum erst mit Hitler
eine wirkliche Identität geworden« (zit. n. Ash 2005, S. 274, Anm. 9).
Jean
Améry hat seine »Identität als Tiroler« auch erst durch die Nürnberger
Gesetze verloren. Sie machten ihn zum »Schicksalsjuden« (Weiss 2005, S. 371),
zu einem Menschen, der das Schicksal der Verfolgung mit allen zu teilen hatte,
die jetzt dem von den Nationalsozialisten nach »rassischen« Kriterien
konstruierten Kollektiv zugerechnet wurden. Die in Wien geborene und über Palästina
in die USA emigrierte Psychoanalytikerin Else Pappenheim verweigerte sich dieser
Fremdzuschreibung. In einem Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Regimes geführten
Interview sagte sie über sich und ihre Familie, sie hätten die »jüdische
Identität« nicht angenommen, »die Hitler uns aufoktroyieren wollte«. Das
gelte auch für die meisten ihrer Wiener Freunde: »Sie waren Juden, weil Hitler
mit seinen Rassengesetzen beschlossen hat, dass sie Juden sind« (Pappenheim
2004, S. 71). Ernst Federn, der im Widerstand kämpfte und die
Konzentrationslager Dachau und Buchenwald überlebte, war gemäß
nationalsozialistischer Rassentheorie ebenfalls »Volljude«, doch auch er ließ
sich seine Identität nicht von den politischen Gegnern vorschreiben. Er habe
sich selbst »nie als Jude betrachtet«, heißt es dazu in der von Bernhard
Kuschey (2003, S. 264) verfassten Biografie Federns.
Der
Widerspruch zwischen der von außen zugeschriebenen und der innerlich
akzeptierten und damit selbstbestimmten Identität wird von Menschen, die –
wie Karl von Motesiczky – Vorfahren haben, die verschiedenen Religionen, Völkern
oder Nationen angehörten, oft in besonders leidvoller Weise erlebt. Die damit
einhergehenden Identitätskonflikte sind mitbedingt durch die Reaktionen der
anderen Menschen, die von sich glauben, »reinen« Ursprungs zu sein, und sich
von »Mischlingen« verächtlich abgrenzen. Die meisten der entsprechenden
Unworte sind in der Zeit des Kolonialismus entstanden: »Halbblut«, »Mestize«,
»Mulatte«. Die Nationalsozialisten fügten neue Unworte hinzu: »Halbjude«,
»Vierteljude«, »Mischling 1. Grades« usw.
In
dem von Brigitte Gensch und Sonja Grabowsky herausgegebenen Band »Der halbe
Stern« (2010) werden die Bedingungen des Lebens dieser vermeintlich »halben«
Menschen während der Zeit des NS-Regimes sowie die bis heute andauernden Folgen
ihres Überlebenskampfes beschrieben. Der Titel des Buches ist identisch mit dem
Namen eines Vereins, der sich um das Schicksal der Menschen (und ihrer
Nachkommen) kümmert, die im NS-System als »jüdische Mischlinge«
stigmatisiert wurden oder als »jüdisch versippt« galten, weil sie, obgleich
von »rein arischer« Abstammung, mit einem »Volljuden« oder einer »Volljüdin«
verheiratet waren.
»Sag
bloß nicht, daß du jüdisch bist«, unter diesem Motto stand die 2009 in
Berlin abgehaltene Tagung des Vereins. Die dort gehaltenen Vorträge sind jetzt
in überarbeiteter Fassung in einem aufrüttelnden Buch nachzulesen. Dabei erfährt
man eine Fülle von Fakten über die NS-Zeit, die so nicht allgemein bekannt
sind. Etwa über »Judenchristen« (getaufte Juden und deren Nachkommen), die
von ihren Glaubensbrüdern und -schwestern während des Dritten Reiches oft schmählich
im Stich gelassen worden sind. Aber war Christus nicht selbst ein Jude? Waren
die ersten Christen nicht alle getaufte Juden? Sind die heutigen christlichen
Palästinenser womöglich gar die Nachkommen dieser ersten Judenchristen?
Dem
Buch ist eine DVD beigegeben, die Aufzeichnung eines Gruppengesprächs, das während
der Tagung stattfand. Vier Frauen und ein Mann geben Auskunft über ihre
Verfolgungserfahrungen und stellen ihre bis in die Gegenwart andauernde Bemühung
um eine selbst bestimmte Identität dar. Ich greife als Beispiel Ruth Kitschler
heraus, die 1926 geborene Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen
Mutter. Ihr älterer Bruder fiel als Soldat in Russland (so genannte »Halbjuden«
wurden mitunter zur Wehrmacht eingezogen), ihr jüngerer Bruder wurde nach einem
missglückten Fluchtversuch nach Auschwitz deportiert, überlebte jedoch das
Lager (es fand keine systematische Vernichtung der so genannten »Halbjuden«
statt). Über die Lebensgeschichte dieser Frau erfährt man nur durch die DVD,
da sie – anders als Freimut Duve – nicht zu den Autoren und Autorinnen des
Bandes gehört.
Duves
Biografie demonstriert die Paradoxien fremdbestimmter Identität in besonders
krasser Weise und zeigt zugleich die befreienden Möglichkeiten eines selbst
bestimmten Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte auf. Freimut Duve ist beides
zugleich: Nachkomme der Täter und der Opfer. Nationalsozialistischer
Gesetzgebung gemäß wäre er »Halbjude«. Er ist der unehelich geborene Sohn
einer Mutter, deren Vater der Gründer der NSDAP in Hamburg-Altona war; und er
ist der Sohn von Bruno Herzl, der ein Großneffe Theodor Herzls war, des Autors
der Schrift Der Judenstaat, die als Gründungsurkunde des (west)europäischen
Zionismus gilt. Die Mutter überlebte, die Familie des Vaters wurde umgebracht.
Freimut Duve, langjähriger Herausgeber der Taschenbuchreihe rororo aktuell, später
Bundestagsabgeordneter der SPD und von 1997 bis 2001 Beauftragter der OSZE für
die Freiheit der Medien, hat aus dieser Familiengeschichte folgenden Schluss
gezogen: »[I]ch habe mein Studium dem Rassismus gewidmet. Mein erstes Buch
handelt von Südafrika und dem Kampf gegen die Apartheid« (S. 286). In erster
Ehe ist Duve mit einer Ägypterin verheiratet, mit der er zwei Töchter hat. Für
sie sollten Namen gefunden werden, die nicht nur in Ägypten, sondern auch »in
Deutschland und in Israel verstanden würden, denn meine Cousine, die die Shoa
überlebte, wohnte inzwischen in Israel. […] Meine älteste Tochter heißt
[…] in Ägypten Tamra, in Deutschland und Israel Tamara. Die zweite Tochter
nannten wir Miriam bzw. Mariam. Und da ich sowohl in Kairo als auch in Jerusalem
[…] Friedensvorträge gehalten habe, weil mich die falsche, nämlich die
Kriegspolitik in den Ländern des Nahen Ostens immer wütend gemacht hat, erzählte
ich bei dieser Gelegenheit stets diese Geschichte der Namensfindung« (S. 287).
Es
ist eine Geschichte, die, wie viele andere in dem hier besprochenen Buch
enthaltenen Geschichten, nicht nur die schmerzlichen Seiten einer von außen
aufgezwungenen Identität, sondern auch die befreienden Möglichkeiten des
selbst bestimmten Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte zeigt.
Literatur
Ash, M.G. (2005): Learning from Persecution: Emigre
Jewish Social Scientists’ Studies of Athoritarianism and Antisemitism after
1933. In:
Kaplan, M. & Meyer, B. (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18.
Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen (Wallstein), S. 271–294.
Dühring,
E. (1881/1901): Die Judenfrage als Racencharakters und seiner Schädlichkeiten für
Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Mit einer denkerisch freiheitlichen und
praktisch abschliesenden Antwort. 5. Auflage, Nowawes-Neuendorf bei Berlin (Personalist-Verlag
von Eugen Dühring).
Gensch,
B., Grabowsky, S. (Hg.) (2010): Der Halbe Stern. Verfolgungsgeschichte und
Identitätsproblematik von Personen und Familien teiljüdischer Herkunft. Mit
einer DVD: »Sag bloß nicht, daß du jüdisch bist« – ZeitzeugInnen-Plenum
6. März 2009. Gießen (Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag).
Kuschey,
B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine
biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des
Konzentrationslagers, Bd. 1. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Pappenheim,
E. (2004): Hölderlin, Feuchtersleben, Freud. Beiträge zur Geschichte der
Psychoanalyse, der Psychiatrie und Neurologie. Hg. u. eingel. v. B. Handlbauer.
Graz, Wien (Nausner & Nausner).
Rothländer,
C. (2010): Karl Motesiczky, 1904–1943. Eine biographische Rekonstruktion. Wien
(Turia + Kant)
Rossbacher,
K. (2003): Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der
liberalen Ära zum Fin de Siècle. Wien (Böhlau).
Weiss,
Y. (2005): Das Fremde in uns selbst. Über Identität und Wahrnehmung. In:
Kaplan, M. & Meyer, B. (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18.
Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen (Wallstein), S. 361–372.
Dieser Beitrag ist erschienen in: psychosozial 34
(Nr.125 / Heft III), 2011, S. 113-118.
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