Bernd
Nitzschke Eine
Frau auf der Flucht vor dem Vater: Prostitutionswünsche
und Rettungsphantasien Von
«Anna O.» zu Bertha Pappenheim 1 Am 8. Juli 1915 schreibt Freud an James Putnam, der in einem von ihm
verfaßten, Freud zugeschickten Buch auf die Anfänge der Psychoanalyse
eingegangen war: «Gestatten Sie mir noch einen kleinen Irrtum
richtigzustellen [...]. Ich war nämlich niemals Breuers Assistent, habe
seinen berühmten ersten Fall nie gesehen, kenne ihn nur aus Breuers
Mitteilungen Jahre nachher» (Freud 1980, 322). Ich erwähne diese Bemerkung
Freuds, weil Putnam nicht der einzige blieb, der sich in Phantasien über
«Anna O.» und die Anfangszeit der Psychoanalyse erging. Bemüht sei
deshalb wieder einmal die Historie, um jener Grenze näherzukommen, die
die Historie von den Histörchen trennt. Bekanntlich war der Fall «Anna O.» Ausgangspunkt der kathartischen
Behandlungsmethode. Aus dieser Methode entwickelte sich das spätere
psychoanalytische Behandlungsverfahren sukzessive, bei allmählicher
Aufgabe der Hypnose, die bereits von Breuer geübt wurde und Freud aus
Wien – wie durch die Besuche bei Charcot und Bernheim – bekannt war
(vgl. Fichtner, Hirschmüller 1988). Die endgültige Ersetzung der
Hypnose als Mittel der Ausforschung scheinbar vergessener Erinnerungen
durch das technische Hilfsmittel der freien Assoziation wird von Freud
(vgl. 1914, 45) als das Kriterium
genannt, mit dem der Beginn der Psychoanalyse im engeren Sinn zu
bestimmen sei. Liest man Breuers Bericht über «Anna O.» in den «Studien über
Hysterie» (Breuer, Freud 1970) aufmerksam, so entdeckt man, daß in
diesem Fall die Hypnose unter anderem als ein Mittel angewandt worden
ist, mit dessen Hilfe die zunächst spontan
aufgetreten autohypnotischen Absencen der Patientin «künstlich»
wiederhergestellt werden konnten. Man versuchte damit, jenen Bewußtseinszustand
zu erreichen, in dem sich die Patientin aufgrund ihrer «Krankheit»,
also wegen ihrer «hysterischen» Flucht vor der Realität des Wachbewußtseins,
immer wieder verloren hatte. «Anna O.» besaß offenbar die den Organismus in Belastungssituationen
zunächst sichernde, auf längere Sicht jedoch entwicklungsschädigende
Fähigkeit, einer (aus welchen Gründen immer) belastenden Außenwelt-Realität,
die nicht zu ändern ist, durch Veränderung des Bewußtseins
(das heißt: durch Veränderung der Vorstellungen von dieser Außenwelt-Realität)
zu begegnen. Vermutlich handelt es sich bei diesem Sicherungs- und
Abwehrmanöver um einen grundsätzlichen Prozeß, der angesichts einer
unerträglich empfundenen Außenwelt-Realität einsetzen kann.[i] Während der Behandlung hatte die Patientin spontan eine Form der freien
Assoziation entwickelt, die aufzugreifen, zu systematisieren und in
einen theoretisch legitimierten Zusammenhang zu stellen Freud
vorbehalten blieb. Doch schon Breuer berichtet: «Andererseits war
bemerkt worden, daß sie in ihren Absencen während des Tages offenbar
immer irgendeine Situation oder Geschichte ausbildete, über deren
Beschaffenheit einzelne gemurmelte
Worte Aufschluß gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann
absichtlich, daß jemand von der Umgebung ein solches Stichwort
fallenließ, während die Patientin über das <Quälen> klagte;
alsbald fiel sie ein und begann, eine Situation auszumalen oder eine
Geschichte zu erzählen, anfangs stockend und im paraphrasischen Jargon,
je weiter, desto fließender, bis sie zuletzt ganz korrektes Deutsch
sprach [was gegen eine neurologische Begründung der Aphasie spricht, die Thornton, 1983,
abgenommen hat – B. N.]. Die Geschichten, immer traurig, waren
teilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens <Bilderbuch ohne
Bilder>[ii]
[...]; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei
einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens [...]» (Breuer, Freud 1970,
26; Hervorhebung von B. N.).[iii] Ob durch Autohypnose oder durch Fremdhypnose hergestellt, das wesentliche,
therapeutisch motivierte Ziel lag im Zugriff auf einen veränderten Bewußtseinszustand, in dem sich Affekt-Erlebnisse
reproduzieren ließen, die im normalen Bewußtseinszustand, im
Wachzustand, nur als Residuen, nur als komprimierte Symptome vorlagen.
Um deren Sinn zu verstehen,
war es notwendig, das Symptom gleichsam aufzuknüpfen, es zu
entfalten, wie dies durch die Rede der Patientin – beim Geschichtenerzählen
– ansatzweise zu geschehen schien. Dabei durchlief das Kalkül, der Patientin durch Zugriff auf den «zweiten
Zustand» zu helfen, etwa die folgenden (zum Teil von mir
interpretierten) Schritte: 1. im veränderten Bewußtseinszustand, unter der Bedingung der Absence,
in einem dem Traum ähnlichen Zustand,
der durch Autohypnose hergestellt war und durch Hypnose
wiederhergestellt werden konnte, murmelte «Anna O.» einzelne,
scheinbar sinnlose Worte; 2. ein aufmerksamer Beobachter, vermutlich Breuer selbst, griff «zuerst
zufällig, dann absichtlich» diese Worte auf und verwendete sie als «Stichworte»; 3. dafür – für seine Zuwendung – wird dieser aufmerksame Zuhörer
mit einer vollständigen Geschichte belohnt, weil er bereit ist den
scheinbar absichtslosen Worten, an denen bisher alle anderen achtlos
vorbeigehört hatten, eine Bedeutung zuzumessen;[iv] 4. in der erzählten Geschichte können die früher überhörten,
scheinbar sinnlosen Worte nun mehr und mehr als Schlüssel-Worte erkannt
werden; 5. diese Schlüsselworte lassen in dem durch die Erzählung repräsentierten
Zusammenhang ein Stück Affekt- und Phantasiegeschichte der Patientin
erkennen, deren Krankheitsgeschichte, die sich als Summe solcher –
recht verstandenen und in einen Gesamtzusammenhang eingeordneten – Erzählungen
zu erkennen gibt.[v] Der therapeutische Effekt solchen Geschichtenerzählens wird in dieser
frühen Phase der Theoriebildung von Breuer weder auf die der Patientin
zugewandte Aufmerksamkeit[vi]
noch auf den durch die erzählten Geschichten allmählich hergestellten
Zusammenhang zurückgeführt. Vielmehr wird für das therapeutische
Resultat das Wiedererinnern vergessener «Szenen» und das Abreagieren
der mit diesen Szenen verbundenen – zwischenzeitlich «eingeklemmten»
– Affekte verantwortlich gemacht.[vii]
Von hier bis zur Entfaltung des späteren psychoanalytischen
Behandlungsverfahrens liegt also noch ein weiter Weg vor den Augen eines
an der Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse interessierten
Betrachters – ein Weg, den wir an dieser Stelle nicht weiterverfolgen
wollen, weil es jetzt um die Frau geht, mit deren Hilfe zwei Männer
(Breuer und Freud) den Weg finden konnten, der als verschlungener Pfad
in die – allen Positivisten endgültig verschlossene – «Seele» führt.
Diese Frau, diese Führerin in ein bis dahin nicht systematisch geortetes Land, Breuers Patientin «Anna O.» hat es
verdient, in unserem Gedächtnis zu überleben – und zwar nicht nur
als «Stichwortgeberin». 2 Als die Deutsche Bundespost 1954 – anläßlich der Gründung des «Jüdischen
Frauenbundes» durch Bertha Pappenheim vor damals 50 Jahren – eine
Wohlfahrtsmarke in der Serie «Helfer der Menschheit» mit dem Profil
einer etwas streng blickenden, aber doch sehr zart erscheinenden Frau
herausbrachte, konnte vermutlich kaum einer mit dem Namen der
Portraitierten jene berühmte Patientin verbinden, deren Pseudonym
Ernest Jones in seiner gerade eben erst englisch erschienenen
Freud-Biographie aufgedeckt hatte. Bertha Pappenheim und «Anna O.»
– die jüdische Frauenrechtlerin[viii]
und die hysterische Patientin: dabei sollte es sich um ein und
dieselbe Person handeln? «Es ist eben diese Diskrepanz zwischen der
beklagenswerten Patientin <Anna O.> und der imponierenden Gestalt
der Bertha Pappenheim, die immer wieder Anlaß zu Fragen und neuen
Interpretationen gegeben hat» (Hirschmüller 1986, 7).
Bemühen wir uns, einige Bruchstücke der Identität dieser Frau
wiederzufinden, um vielleicht zu einigen neuen Vermutungen hinsichtlich
eines Zusammenhanges zwischen ihrem früheren Leben als Leidender und
ihrem späteren Leben als Helferin der Leidenden zu kommen. Es geht also
um den Weg einer Patientin zur Therapeutin oder – in Anklang an den
Aufdruck der Briefmarke – zu einer «Helferin der Menschheit». Wir dürfen
vermuten, daß im späteren Helfen noch etwas vom früheren Leiden,
von den früheren Konflikten wiederzufinden ist. Am Ende seines Berichts über den Fall «Anna O.» beschreibt Breuer «die
schließliche Abheilung der Hysterie» der Patientin. Der Leser wird
nicht im Zweifel darüber gelassen, daß es Breuer, wenngleich unter
Schwierigkeiten, gelang, die Patientin zu heilen (vgl. Breuer, Freud
(1970, 40). Aufgrund
detaillierter Quellenforschungen (vgl. Ellenberger 1972;
Hirschmüller 1978) wissen
wir nun allerdings, daß das Breuersche happy
end eine dem Leser suggerierte
Fiktion darstellt. Die ziemlich weitgehende Nicht-Übereinstimmung des von Breuer
geschilderten Behandlungsendes mit der Realität des Endes der
Behandlung war Freud schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der «Studien»
bekannt. Zum einen hatte er mit Breuer wiederholt Gespräche über die
Patientin geführt, aus denen er wußte, wie briefliche Mitteilungen
Freuds an Martha belegen, daß Breuer noch lange nach dem offiziellen happy
end seine frühere Patientin
so leidend sah, daß er ihr – aus Mitleid – den Tod gewünscht hätte
(Brief Freuds an Martha vom 05.08.1883; Inhalt zitiert nach Jones 1962,
I, 268). Zum anderen war die Patientin eine nahe Freundin von Martha, so
daß wir annehmen dürfen, Freud habe auch durch Martha immer wieder von
Berthas Zustand gehört. Breuer und Freud präsentierten 1895 der Öffentlichkeit also eine
Geschichte, die – zumindest für den Fall «Anna O.» – in
entscheidenden Punkten die Effektivität des neuen, von ihnen
beschriebenen Behandlungsverfahrens falsch darstellte. Tatsächlich
wurde Bertha im Sommer 1882 – nach der Beendigung der Behandlung durch
Breuer – morphin- und chloralabhängig in das Kreuzlinger Sanatorium
Robert Binswangers eingeliefert. Wegen einer seit Frühjahr 1880
bestehenden Trigeminusneuralgie mit periodisch auftretenden Schmerzen
(von der im offiziellen Bericht Breuers in den «Studien» nicht die
Rede ist) hatte Breuer seiner Patientin Betäubungs- und Schlafmittel
verschrieben. Im Lauf der Zeit war die Patientin süchtig geworden. In
Kreuzlingen sollte deshalb eine stationäre Entwöhnung durchgeführt
werden. Dies mißlang allerdings (weil die Schmerzen nicht beseitigt
werden konnten). Bereits im Herbst 1882 wurde Bertha auf eigenen Wunsch
wieder aus der Kreuzlinger Klinik entlassen. Zu diesem Zeitpunkt
bestanden die neuralgischen Schmerzen, die Suchtmittelabhängigkeit, die
Sprachstörungen und die abendlichen Dämmerzustände, in denen sie
sich im «zweiten Zustand» befand, noch immer.[ix] Bertha Pappenheim (1859-1936) war in einer reichen jüdischen Familie
aufgewachsen[x]
und in der Rolle einer «höheren Tochter» erzogen worden. Was das
bedeutete, führte sie später in einer Schrift über die «Erziehung
der weiblichen Jugend in den höheren Ständen» (Berthold 1898) so aus:
Die «gute Erziehung» verfolge das Ziel, das Mädchen «über all das,
was sich außerhalb des Rahmens der Häuslichkeit ereignete, im Dunkeln
oder doch im Unklaren zu lassen». Die Realität, das wirkliche Leben «mit
seinen mächtigen Anforderungen» mußten so «verhüllt bleiben». «Den
Zusammenhang zwischen Armut, Krankheit und Verbrechen kennen diese mit
verschleierten Augen aufwachsenden Menschen nicht» (zitiert nach
Jensen 1984, 19; Hervorhebung von B. N.).[xi] Obgleich sie aus streng religiösem Elternhaus stammte, erschien die
Patientin Breuer als areligiös: «Die Kranke ist aus orthodox jüdischem
Hause, persönlich völlig glaubenslos [...]» (Brief an Robert
Binswanger vom 04.11.1881; zitiert nach Hirschmüller 1978, 365). Außerdem
war nach Breuers Meinung bei Bertha «das sexuale Element [...]
erstaunlich unentwickelt» (Breuer, Freud 1970, 20). Offenbar
schien Bertha auffallend wenig an Sexualität in dem Sinne interessiert zu sein,
den man von einer Frau Anfang Zwanzig erwarten konnte – Sexualität,
eingebettet in das Interesse an der Beziehung zu einem Mann, verknüpft
mit einer Hoffnung auf Bindung (Ehe). Warum sonst hätte Breuer diesen
Punkt gesondert hervorheben sollen? Er könnte natürlich auch
angenommen haben, daß die Prüderie der damals 21jährigen, die sich,
als sie erkrankte, gerade in dem Alter befand, in dem sie «heiratsfähig»
war (beziehungsweise nach standesüblichen Normen hätte sein sollen),
über das zeitgenössisch zu erwartende Maß hinausreichte. Über die
Standards der Erziehung und das äußere Verhalten der «höheren Töchter»
jener Zeit war Breuer wohl genügend informiert. Er hätte andererseits
wahrscheinlich wenig Aufhebens von diesem Punkt gemacht, wäre Bertha
in dem nach zeit- und standesbedingten Umständen zu erwartenden Sinne
«prüde» oder sogar übertrieben «prüde» erschienen. Aber der
Begriff «unentwickelt» läßt ja auch noch eine weitere Interpretation
zu (siehe unten im Text), bedeutet er doch nicht einfach das gänzliche Fehlen,
vielmehr nur das in seiner Entwicklung stagnierte
«sexuelle Moment». Da viele Zeugnisse aus ihrem späteren Leben Berthas Religiosität
belegen, kann vermutet werden, daß sich Breuers Urteil über Bertha
(zur Zeit ihrer Krankheit) auf eine Phase der allgemeinen Auflehnung der
Tochter gegen die Normen ihres Elternhauses bezieht. Die Flucht in die
Krankheit kann also, wenigstens zum Teil, auch als eine maskierte
Auflehnung gegen die ihr auferlegten Normen und gegen die von ihr
erwarteten Rollen verstanden werden. Jedenfalls fiel Bertha, mit Hilfe
der Krankheit, ganz entschieden aus der Rolle, die für eine «höhere
Tochter» vorgesehen war. Zu dieser Rolle gehörte es unter anderem,
nach orthodox-jüdischem Ritus den Ehebund mit einem Mann zu schließen,
dessen Auswahl in erster Linie den Interessen der Gesamtfamilie und
erst in zweiter Linie nach der Stimme des Herzens der Braut zu erfolgen
hatte. Das, so scheint es, widersprach Bertha zutiefst. Und es gibt eine
Unzahl von Belegen in Berthas späteren publizistischen und
literarischen Arbeiten, die zeigen, daß sie zwar einerseits im Sinne
einer Religion des Herzens tief religiös war, daß sie aber
andererseits mit heftigem Zorn jede religiös verbrämte Fassade bekämpfte,
hinter der sie andere, heuchlerisch versteckte Motive vermutete.[xii] Tatsächlich sollte Bertha nie heiraten. In einer ihrer Schriften charakterisierte
sie später einmal (anläßlich
einer Reise, 1903, durch Galizien) die heiratsfähigen, auf den künftigen
Mann wartenden jüdischen Mädchen, die an echter Ausbildung durch
Tradition und Elternhaus gehindert würden, folgendermaßen: «denkfaul»;
«Haustiere im niedrigsten Sinne»; «müßiggehende Mädchen, die nur
darauf warten, durch eine möglichst <gute Partie> ihrem
Schicksal, der geschlechtlichen Verwertung, zu verfallen»
(Pappenheim, Rabinowitsch 1904, 48).
In Berthas Augen bestand die weniger sittliche, die unfromme
Kehrseite dieses häuslichen «Schicksals» im Schicksal der öffentlichen
Prostitution, dem jene Mädchen zu verfallen drohten, die elternlos
aufwuchsen oder, wegen eines «Fehltritts», aus der Obhut religiöser
Toleranz herausfielen. Man interpretiert die Grundaussage ihrer späteren
Schriften wohl nicht falsch, wenn man behauptet, Bertha sah in der einen
Form des für die orthodox erzogene jüdische Frau vorgesehenen «Schicksals»
nur eine Modifikation der anderen Form dieses «Schicksals». Daher ist
ihr lebenslanger Kampf gegen den «Mädchenhandel» eben nicht nur im
vordergründigen, im unmittelbaren, sondern auch im übertragenen Sinn
zu verstehen. Während ihrer Krankheit (bzw. während der Zeit der Betreuung durch
Breuer, November 1880 bis Juli 1882)
fällt Berthas zeitweise hochgradig aggressive Erregtheit auf, die
von Breuer auch beschrieben wird. Die Aggressionen richteten sich
teilweise gegen andere, teilweise äußerten sie sich selbstdestruktiv;
vorübergehend bestand Suizidgefahr. Im Sanatorium Kreuzlingen scheinen
sich die aggressiven Attacken dann vor allem gegen die Mutter gerichtet
zu haben. Aus eigener Einsicht beschließt die Mutter, vorübergehend
auf Besuche bei der Tochter zu verzichten.[xiii]
Betrachten wir die Krankheit als eine Phase des Protests, so bedeutet
dies, daß sich der Protest in erster Linie gegen die weibliche Rolle
(erweitert: gegen die Identifikation mit der Mutter) richtete. Im Falle
Berthas verfehlte dieser Protest schließlich doch sein Ziel. Das heißt,
sie konnte sich zwar lebenslang weigern, eine Ehe wie
die Mutter einzugehen. Doch die Identifikation mit der Mutter
stellte sie auf einer anderen Ebene wieder her. Es spricht sogar vieles
dafür, daß sie lebenslang an ihre Mutter gebunden blieb, sich nicht
von ihr trennen, nicht zu einer tatsächlich eigenen Identität finden
konnte. Jedenfalls kam es im emotionalen Sinne nicht zu einer Ablösung
von der Familie, nicht zu einer neuen Lebensbindung an einen Menschen außerhalb
der Familie. Mehrere Jahre nach dem Tode des Vaters (1881)
zog Bertha mit ihrer Mutter nach Frankfurt[xiv],
wo sie bis zu deren Tod (1905) mit
ihr zusammenlebte. Es scheint, als hätte der Tod des Vaters die
Fesselung der Tochter an die Mutter besiegelt. Zwar hatte sich Bertha bereits vor dem Tod ihrer Mutter in Frankfurt
sozial engagiert. Aber jetzt, nach deren Tod, baute sie ihr Engagement
in großem Umfang aus: Als Mitglied und Vorsitzende in zahlreichen jüdisch-karitativen
Organisationen nimmt sie bis zu ihrem Lebensende an sämtlichen für sie
erreichbaren nationalen und internationalen Kongressen gegen den Mädchenhandel
teil. Und sie gründet 1907, also zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, ein Institut, ein Waisen-
und Mädchenheim, in dem gefährdete und bereits gefallene Mädchen
und Frauen mit ihren unehelich geborenen Kindern Zuflucht finden.[xv]
Jetzt – selbst mutterlos und selbst nie Mutter werdend – ist es ein
von Bertha wiederholt erklärtes Ziel, anderen die Mutter zu ersetzen, was immer dies im Hinblick auf ihre eigene
Mutter-Beziehung heißen mag. Während ihres weiteren Lebens reist Bertha wiederholt im Auftrag
diverser Frauenkomitees durch aller Herren Länder, um die Ursachen des
Mädchenhandels und seine Folgen möglichst vor Ort zu studieren. Sie
besucht Galizien, den Orient, fährt nach Amerika, ist ständig im Kampf
gegen Mädchenhandel und Prostitution unterwegs, mit Observationen,
Kongressen und Vorträgen beschäftigt. Im doppelten Sinne des Wortes
verstanden: eine «höhere Tochter» reis(s)t aus: Während der Zeit
ihrer Krankheit war sie an einen verborgenen inneren Ort gereist, den
sie nur in ihrer Phantasie finden konnte. Jetzt reist sie durch die äußere
Welt und sucht auch hier die verborgenen, die heimlichen Orte auf. Von Männern,
die sie in fremden Ländern gerade erst kennenlernt, denen sie sich aber
verbunden fühlt, weil diese als jüdische Honoratioren wie sie selbst
für die Rettung gefallener Frauen eintreten, läßt sie sich an die
Orte des Lasters führen, die von «sittsamen» Frauen in der Regel eher
gemieden werden, es sei denn, es fände sich ein moralisch
gerechtfertigter (zum Beispiel ein karitativer) Grund, sie zu betreten. An die Freundinnen in der Heimat, die wie sie selbst den Kampf gegen die
Prostitution führen, schreibt Bertha ausführliche Briefe über ihre
Abenteuer in fremden Ländern. Diesen Briefen verdanken wir den Einblick
in die Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt der «Anna O.», Jahrzehnte
nach Abschluß der Behandlung bei Breuer. Erinnern wir uns in diesem
Kontext an eine der Charakterisierungen Breuers: Bei «Anna O.» sei das
«sexuelle Moment» erstaunlich «unentwickelt», hatte es geheißen.
Vielleicht verstehen wir diese Mitteilung Breuers jetzt noch einmal anders,
als sie bisher – mit Freud beginnend – verstanden worden ist. Das Wort «unentwickelt» deutet nämlich auch auf Sexualität in einem
frühen, infantilen Zustand, in einer Vor- oder Frühform, hin. Zu
diesen Frühformen der Sexualität gehören, wie Freud ermittelte, vor
allem Partialtrieberscheinungen, die zum einen relativ objektunabhängig
auftreten (das heißt, das Objekt ist leichtaustauschbar, es ist das am
wenigsten Konstante der Triebbefriedigung); zum anderen handelt es sich
um noch wenig integrierte Triebimpulse, die auch untereinander in
Widerspruch geraten mögen. Im Fall der Neurose werden durch derartig
widersprüchliche, in eine konstante Beziehung zum Objekt nicht leicht
aufzunehmende Triebwünsche heftige Abwehrreaktionen provoziert, denen
ein «unreifes» («archaisches») Über-Ich entspricht, dessen «Strenge»
offenbar notwendig ist, soll die latente sexuelle Desintegration nicht
manifest agiert werden.[xvi]
Ich meine also, daß in Bertha Pappenheims heftigem Interesse für die
Prostitution (das heißt für eine relativ bindungslose, wenig am
konkreten Objekt interessierte Sexualität) auch noch etwas anderes als
nur karitatives Interesse zum Ausdruck gekommen ist. Letzteres erlaubte
einen Kompromiß: die Annäherung an einen konfliktbehafteten Gegenstand
bei gleichzeitigem Schutz, dessen Reizen selbst zu verfallen. Zurück zu den Briefen Berthas, die sie in die Heimat schickt, vergleichbar
einer Korrespondentin, die den Zuhausegebliebenen vom Kampf an der Front berichtet. In diesen Briefen wird das
Laster in grellen Farben geschildert. Die ausführlichen Nachrichten über
Berthas Streifzüge durch die Bordelle der Welt zu Beginn des 20.
Jahrhunderts sind für sich genommen eine Art Kulturdokument, wenn sie
auch nur eine «Schatten»-Seite der Kultur beleuchten. Auf Berthas
Besuchsprogramm stehen etwa die Bordellviertel von Belgrad, Sofia,
Saloniki, Smyrna oder Alexandria (so während einer Reise 1911).
Bisweilen gerät Bertha, die einstmals «höhere Tochter», beim Anblick
eines der bedauernswerten Geschöpfe, denen ihre Anteilnahme, aber eben
auch ihre Bewunderung und Neugier gehören, ins Schwärmen. So heißt
es in einem Brief vom 01.03.1911[xvii]
aus dem fernen Griechenland: «Die Jüdinnen von Saloniki sollen
besonders schön sein. Die schönste, die ich hier sah, vielleicht eine
der schönsten Jüdinnen, die ich je sah, oder die es gibt, fand ich
heute in – einem Bordell. Ein Jammer, so eine stolze Menschenblüte in
solcher Umgebung zu solchem Lebenszweck geboren. Ich begreife, daß ein
Mann um eines solchen Weibes willen jede Torheit begeht, aber ich
begreife diese 20jährige Person nicht, die das Schönste und Beste, was
sie hat – ihren Körper – so feilbietet. Ob sie keine Seele hat?»
(Pappenheim 1924, 40). Die junge Prostituierte, um die es hier geht, ist in etwa so alt wie
Bertha war, als deren «Krankheit» begann. Aus dem Brieftext geht
hervor, daß Bertha sich mit demjenigen sehr gut identifizieren kann,
der dieses Mädchen begehrt, also mit dem Mann, mit dem «Freier», mit
dem potentiellen Geschlechtspartner der Prostituierten. Hingegen wird im
Brieftext die Identifizierung mit dem sich feilbietenden Mädchen
ausdrücklich und strikt zurückgewiesen. Einer solchen möglichen
Identifizierung steht bei Bertha die (schöne) «Seele» im Weg, die
andererseits der jungen Prostituierten zu fehlen
scheint. Wie im weiteren Brieftext offensichtlich wird, entspricht
die junge Prostituierte dennoch einem Ideal Berthas: Sie symbolisiert
einen Engel, wenn auch einen gefallenen Engel. Wie aber der Teufel
bekanntlich nur die Rückansicht Gottes ist und beide Gestalten, nach
Ansicht Freuds, nur Projektionen des Menschen sind, die sich in dessen
Brust zu einem (dann allerdings realistisch gesehenen) «Ganzen» zusammensetzen
ließen, so dürfen wir vermuten, daß sich uns in der Begegnung
zwischen Bertha und der Prostituierten in Saloniki durchaus noch etwas
anderes zeigt als nur zwei Frauen, von denen die eine das krasse
Gegenbild der anderen wäre. Bertha erfährt, wie sie in ihrem Brief mitteilt, auch den Namen des Mädchens,
für das sie sich so sehr interessiert: Jolanthe. Bertha wird in ihrem Brief nun von der «schönen
Jolanthe» sprechen. Über sie heißt es weiter: «Wenn sie außer der
goldenen Zahnkrone im Mund auch noch eine goldene Krone auf dem Haupt
getragen hätte – ich hätte es nicht unpassend gefunden» (1924, 4).
Das klingt nun wirklich, als wäre Bertha im Bordell von Saloniki der
Prinzessin aus einem ihrer eigenen Märchen begegnet, als hätte sie
endlich die Frau mit der «Krone» gefunden, nach der sie so lange
suchen mußte. Nach dem Besuch im Bordell, nach der Begegnung mit der «schönen
Jolanthe», formuliert Bertha denn auch eine Hoffnung: «Vielleicht träume
ich von der schönen Jolanthe, die mir heute, seit ich sie gesehen habe,
gar nicht aus dem Kopf geht.» Doch leider wird diese Hoffnung enttäuscht.
Bertha träumt zwar, jedoch etwas ganz anderes: «Ich habe natürlich
nicht von Jolanthe geträumt, sondern ich wollte heute Nacht meine
Gummischuhe einschmelzen lassen, da sie mir doch zu schwer vorkamen!»
Und die Assoziationen der Träumerin führen im Brief nun geradewegs
zu den lieben Eltern, zur guten Erziehung zurück. Die Schreiberin
notiert: «Es ist mit das Schönste auf meiner Reise, daß ich unzähligemale
des Tages an Aussprüche, Ansichten usw. von meinen beiden Eltern und
meinem Fräulein Hoffmann[xviii]
erinnert werde.» Und in diesem Zusammenhang fällt Bertha nun auch noch
ein tröstlicher Spruch ein: «Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt.»
Schließlich endet Berthas Gedankengang (im Brief) mit einer hintergründig
klingenden Bemerkung: «Jolanthe hat noch eine Mutter, hier in Saloniki»
(1924, 41). Im selben Brief (weiter oben) hatte Bertha geschrieben: «Es
sind hunderte von jüdischen Mädchen dort [in den Bordellen Salonikis],
viele Russinnen, viele von hiesiger
Stadt, was schon auf einen gewissen Grad der Verkommenheit deutet,
denn sonst gehen sie meist in die andere Stadt, um das Gewerbe dort zu
treiben, wo man sie nicht kennt» (1924, 40). Die «schöne Jolanthe» bleibt in «hiesiger Stadt». Sie scheint, ganz
nahe der Mutter, dieser etwas demonstrieren zu wollen. Vielleicht ihre
Schamlosigkeit; oder ihre Verachtung für Heimlichkeiten, für doppelte
Moral? Jedenfalls sind hier (im Brief) wie dort (in «Saloniki») «Mutter»
und «Hure» am selben Ort anwesend.[xix] Ein Jahr nach der Reise über den Balkan und durch den Vorderen Orient
ist Bertha, 1912, in Galizien unterwegs, das sie bereits 1903 «zum
Zwecke, Informationen über den jüdischen Mädchenhandel und dessen Bekämpfung
einzuziehen» (Pappenheim, Rabinowitsch 1904, 67), mit einer gleichfalls
engagierten Kollegin bereist hatte. Jetzt befindet sie sich wieder in
diesem ärmlichen Landstrich, an der Grenze des Habsburger-Reiches, nahe
dem Königreich Rußland, einem Landstrich, aus dem, nebenbei gesagt,
Freuds väterliche Familie stammt. Berthas Aufmerksamkeit richtet sich
auch während dieser Reise auf alle Anlässe der Verführung, das heißt
auf die möglichen ersten Schritte, mit denen der Weg in die
Prostitution ihrer Meinung (Phantasie) gemäß beginnen könnte.
Dazu gehören nach Berthas brieflichen Auskünften eben nicht nur
Armseligkeit, Unwissenheit und wirtschaftliche Not[xx],
sondern auch: die neueste Mode; die Putz- und Schminksucht der Frauen;
schließlich der sittlich-religiöse Verfall ganz allgemein. Am 4. Mai
1912 schreibt Bertha beispielsweise aus Lodz: «Das Straßenbild in
Bezug auf die jüdischen weiblichen Einwohner ist entsetzlich.
Verkommenheit, Genußsucht, auffallende, in Form und Farbe und Mode übertriebene
Geschmacklosigkeit, lässige lachende Verdorbenheit sieht man schon
bei kleinen Mädchen» (1924, 146).[xxi]
Kein Wunder also, wenn die Gefahren überall lauern – und überall zu
bekämpfen sind. Es handelt sich bei diesem Kampf um eine «Sisyphus-Arbeit».
Und tatsächlich tragen eben diesen Titel die beiden Bücher, die Bertha
Pappenheim (1924, 1929) publiziert, um von ihren Reisen und von ihrem
Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution zu berichten. 1930, beim
«VIII. Internationalen Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels»
in Warschau, präzisiert Bertha Pappenheim ihre Definition zur «Sisyphus-Arbeit»:
«Wenn ich nun in diesem Zusammenhang den in unserem Frauenkreise zum
Kennwort gewordenen Begriff der Sisyphus-Arbeit gebrauche, so wissen
Sie, daß ich damit die Stellung der Juden im Mädchenhandel und zu
seiner Bekämpfung meine» (Pappenheim 1930, I).[xxii]
Der Begriff der «Sisyphus-Arbeit» deutet auf eine nie zum Ziele
kommende Lebensaufgabe hin, die Bertha dennoch – wie der tragische
Held, der das Vorbild liefert – immer wieder von neuem in Angriff
nehmen muß. Sie wälzt eine schwere Last vor sich her und muß doch
immer wieder feststellen, daß diese Last ihre Kräfte übersteigt; daß
diese Last sie immer wieder in die Niederungen zurückreißt – in die
Niederungen ihres eigenen Trieblebens vermutlich, denen sie so
verzweifelt zu entkommen sucht. Bei diesen inneren und äußeren Kämpfen verliert Bertha, auf eine
tragisch anmutende Weise, zunehmend das Augenmaß. Spätestens in den
zwanziger und dreißiger Jahren gewinnt ihre Auseinandersetzung mit der
– wie sie teils fürchtet, teils glaubt, teils widerlegen zu können
hofft – These eines vor allem von Juden betriebenen Mädchenhandels
eine paranoide Färbung, die wahrscheinlich in ihrer psychodynamisch individuellen
Genese und Motivierung zu erklären wäre, wüßten wir mehr über
Berthas infantiles (und womöglich pubertär-adoleszentes) Schicksal. Da
aber in der damaligen Öffentlichkeit Berthas Äußerungen in diesem
Sinne nicht hinterfragt werden, spielt Berthas persönlicher Kampf den
Antisemiten, und damit der Propaganda der Nationalsozialisten,
unfreiwillig in die Hände.[xxiii]
Das ist um so tragischer, als Berthas Lebenswerk, das Neu-Isenburger
Heim, in der Pogrom-Nacht 1938 eben von dem durch antisemitische
Propaganda aufgeputschten Pöbel zerstört und die letzten ihrer Schützlinge
wenig später ins Konzentrationslager deportiert wurden. Ihr Tod (1936)
ersparte es Bertha, dies mitzuerleben. Bei ihrem verbissenen Kampf um die «Wahrheit» ignoriert Bertha auch
die warnenden Stimmen mancher ihrer Volks- und Glaubensgenossen (vgl.
Pappenheim 1929). Sie will die Wahrheit wissen, und sie will diese
Wahrheit auch publizieren. Sie entfacht eine öffentliche Kampagne. Eine
ihrer Unterschriftenaktionen dient dem Zweck Zugang zu
Untersuchungsmaterial zu bekommen, das beim Völkerbund in Genf unter
Verschluß liegt; sie hofft, dadurch genauen
Aufschluß über den tatsächlichen Anteil der Juden am Mädchenhandel
und an der Prostitution zu gewinnen (vgl. ebd.). Sogar Albert Einstein
unterstützt diese Aktion, die aber nicht zum Ziel führt: Bertha erhält
keinen Einblick in die Daten dieser Erhebung. Wenn es in den zahlreichen literarischen Hinterlassenschaften Bertha
Pappenheims ein Motiv gibt, das immer
wiederkehrt, so ist es das Motiv des «Ehrenmannes», hinter dessen
bürgerlicher Fassade sich ein sexuell gieriges, ausbeuterisches Wesen
verbirgt. Bertha ist also mit einer speziellen Spielart der Dialektik
von Wesen und Erscheinungsform beschäftigt: Der von ihr gemeinte Mann
treibt ein doppelbödiges Spiel. Er tarnt sich durch Sitte, Anstand, ja,
gar hinter einer demonstrativ zur Schau gestellten Religiosität.
Dadurch gerät eine unschuldig-naive Frau in seine Fänge. Sie wird sein
Opfer. Sein sexuelles Verlangen ruiniert diese Frau, da er nur deren Körper,
nicht aber deren «Seele», geschweige denn ihr seine eigene zu
offenbaren begehrt. All dies ist nicht nur ein literarisches Motiv, das
in Berthas Werken immer wiederkehrt (zum Beispiel im Drama «Frauenrecht»
[Berthold 1899]; zum Inhalt vgl. Karpe 1961, 15 f). Auch Berthas bis zum
Lebensende geführter Kampf gegen die, wie sie immer wieder betont, als
«Ehrenmänner»[xxiv]
getarnten Mädchenhändler, deren naive Opfer, die verführten Mädchen,
zu retten sind, ist von diesem Motiv geprägt. Worin immer die
phantasierten und/oder realen Wurzeln dieses Motivs liegen mögen, der
Kampf gegen den Mädchenhandel wird zum alles beherrschenden
Lebensthema einer Frau, die unter «Ehrenmännern» aufgewachsen ist. Welches Motiv konnte also
Bertha Pappenheim haben, sich diesem Thema – literarisch und praktisch
– lebenslang zu verschreiben? Wir wissen es nicht. Wir kennen den «Ehrenmann»
ihrer nächsten Umgebung, ihrer Kindheit oder Jugend, ihrer Phantasien
oder auch ihrer realen, traumatischen Erlebnisse nicht, dessen wahres
Wesen sie aufzuschlüsseln suchte. Was wir aber wissen, ist, daß sich
Berthas besonderer, am Ende paranoid gefärbter Verdacht gegen Juden
richtete – und das hieße interpretiert: Ihre Phantasien, ihr Verdacht
kreisten um einen bestimmten Mann,
der dem ihr vertrauten Kreis
entstammte, ihrer nächsten Umgebung angehörte. Berthas Verdacht war
mit der Überzeugung gepaart, es bestehe unter ihren Glaubensbrüdern
(in ihrer Familie?) ein Komplott
des Schweigens, durch das die Ermittlung der Wahrheit verhindert
werden solle. Nach ihrer Überzeugung war es daher ihre Aufgabe, alles
zu tun, um die Wahrheit zu finden, aufzudecken und zu verkünden. Es war
ihre Pflicht, ihre Mission, den Kampf zu führen, um die geschickten
Inszenierungen aufzudecken, die andere ersonnen hatten oder gleichgültig
tolerierten, um die «Realität», die Wahrheit, ihre Wahrheit zu verschleiern.[xxv]
Erinnern wir uns: in einer ihrer Schriften hatte Bertha Pappenheim davon
gesprochen, daß Mädchen wie sie, die als «höhere Töchter»
erzogen werden, am Ende «mit verschleierten Augen» (vgl. Jensen
1984, 19) vor der Realität, vor der Welt stünden. 3 In Bertha Pappenheims Märchen und Novellen, die man vielleicht als die
schriftlich ausformulierten und weiterentwickelten Texte jener Märchen
ansehen kann, die Breuer seinerzeit als erster zu hören bekam[xxvi],
finden sich manche Phantasien, die Aufschluß geben über die inneren Kämpfe
Berthas, die offenbar zeitlebens anhielten. Eine der Erzählungen aus
dem Buch «Kämpfe» (Pappenheim 1916)[xxvii]
trägt den Titel «Der Erlöser». Und das ist ein ganz und gar
programmatischer Titel, denn – der «Erlöser» ist mit dem Zerstörer
identisch. Auch in diesem (literarischen) Fall tarnt sich der «Erlöser», der
zugleich ein potentieller Mörder ist, sittlich. Aufgrund eines
besonderen Umstandes gehören die Sympathien der Autorin – und die
Zustimmung ihres Gewissens – trotzdem diesem «Erlöser». Er ist ein
junger Mann, der sich in ein sehr schönes Mädchen verliebt hat, von
dem er jedoch zu seinem Leidwesen erkennen muß, daß es als Prostituierte
arbeitet. Wenn er das Mädchen schließlich umbringt, dann tötet er sie
zwar, er «erlöst» sie aber auch, nämlich von dem Übel der
Prostitution, dem sie ohne erkennbaren Widerwillen nachzugehen scheint.
«Es war erfüllt. Er mußte ihr Erlöser sein» – so endet die Geschichte
(ebd., 42). «Erlösung» gibt es nur um den Preis eines Totschlags;
so lautet eine der verdeckten Botschaften dieser Erzählung. Einen
anderen Aspekt dieser Geschichte (und damit Berthas innerer Geschichte,
ihrer Phantasiewelt) enthüllt die Tatsache, daß es durchweg
Muttergestalten sind, die die Töchter der Prostitution zuführen. Der Tod erlöst vom Übel (der Sexualität). Die Askese, der sich Bertha
Pappenheim in ihrem Leben offenbar verschrieben hat (und sei es erst im
Anschluß an ein, wie immer geartetes, traumatisches Erlebnis), wird nun
aber auch als Mittel erkennbar, Macht über sich selbst und über andere
auszuüben. Es geht bei Bertha Pappenheim – wie bei Freud – um
Selbsterziehung und Nacherziehung in unmittelbarem Verbund mit Askese
(Abstinenz). Das ist – neben dem Kampf gegen den Mädchenhandel
(bzw. gegen die Prostitution) – der zweite große Inhalt im Leben
Bertha Pappenheims: der Kampf für Erziehung, für Sittlichkeit, Tugend,
Selbstbeherrschung und Reinheit. Sie sorgt in ihrem Heim für gefährdete
und für solche Mädchen, die der Gefahr (der Prostitution) wieder
entronnen sind. Ein wichtiges Mittel dieser Für-Sorge (hinter der gewiß
eigene Sorgen stecken) ist die Askese – zum Beispiel in Sachen
Kleidung, Ernährung oder Stundenaufteilung. Über Berthas Lebensstil,
ihre Erziehungsmethoden und ihren Charakter, wie er sich in jener Zeit
darstellte, gibt es Zeugnissen ihrer Wegbegleiter, Kampfgenossinnen und
Gegner. So berichtet zum Beispiel Helene Krämer, eine frühere Schülerin
und spätere Mitarbeiterin im Neu-Isenburger Heim, über Berthas Bemühungen,
die Mädchen zu tüchtigen Menschen «und guten Juden» zu erziehen: «Dazu
schien es ihr notwendig, die äußerste Einfachheit entgegen den bis
dahin üblichen Gewohnheiten walten zu lassen; so war das Essen manchmal
zu spartanisch einfach, und die unnachsichtige Strenge, die sich in
den Anforderungen an uns zeigte, hätten wir manches Mal gern gemildert
gesehen. Wenn wir uns später darüber unterhielten und ihr dies
gestanden, hat sie oft und mit Stolz gesagt, daß ihr Erziehungssystem
kein schlechtes gewesen wäre, da fast alle Frauenvereinskinder ihre
Posten im Leben ausfüllen konnten» (zitiert nach Jensen 1984, 47). Der Rabbiner Caesar Seligmann sah Bertha ähnlich, betont aber zudem
ihre Einstellung Männern gegenüber: «Aber bei aller Philanthropie war
sie eine harte Forderin, hart bis zum Asketismus gegen sich selbst, aber
auch hart gegen andere. Sie erkannte nur soziale Tätigkeit an und
machte kein Hehl aus ihrer Verachtung gegen alle, die nicht wie sie das
Soziale zu ihrem Lebensinhalt machten.» – «Mit Männern vertrug sie
sich schlecht, wenn sich die Männer nicht ihrem Willen und ihrer Führung
unterordneten» (zitiert nach Jensen 1984, 60). Das Urteil des Rabbiners
Georg Salzberger war im letzten Punkt, also Berthas Einstellung Männern
gegenüber betreffend, noch entschiedener: «Sie war unverheiratet und
Männerfeindin, aber ich konnte mich über sie nicht beklagen» (ebd.). Cora Berliner, Vorstandsmitglied des «Jüdischen Frauenbundes»,
urteilte über die Weggefährtin ebenfalls hart: «Es lebte ein Vulkan
in dieser Frau, der ausbrach, wenn ihr Zorn gereizt wurde. Hatte sie
Freude am Kampf? Zum Teil auch das. Denn wenn der Angegriffene sich zur
Wehr setzte, seinen Standpunkt zu verteidigen suchte, ihr Ungerechtigkeit
oder gar Selbstgerechtigkeit vorwarf, so kränkte oder ärgerte sie das
nicht im geringsten. Im Gegenteil, sie fühlte eine gewisse Befriedigung
darüber, den anderen aufgestachelt zu haben, und
sah die Wunden nicht, die sie schlug»
(zitiert nach Schweighofer 1987, 170; Hervorhebung von B. N.). Bertha Pappenheim bemerkt schließlich über ihre Erziehungsideale und
damit – implizit – über sich selbst[xxviii]:
«Die Einrichtung [des Neu-Isenburger Heimes] sollte primitiv sein, d.
h. durchweg und bei aller Zweckhaftigkeit doch so gemütlich und
einfach, wie man es in jener Iängstvergangenen Zeit unter dem
inzwischen verlorenen Begriff des kleinbürgerlichen Haushaltes
verstand. Darum: keine Heißwasserversorgung, keine Zentralheizung, kein
fließendes Wasser in einem allgemeinen Waschraum, dagegen als unumstößliche
Vorschrift für alle Hausbewohner gemeinsame Mahlzeiten und selbstverständliches
Zusammenleben bei Arbeit und Ferien, Sabbath und Festtagen» (zitiert
nach Jensen 1984, 69 f). Objekt der besonderen Aufmerksamkeit Bertha Pappenheims, ihrer
Erziehungsideale, ihrer Zuneigung, ja, ihrer Liebe wurde vorübergehend
ein ganz besonderes Mädchen. Es hieß Marya.[xxix]
Der Name der Heldin in der Geschichte vom «Erlöser», also der jungen
Prostituierten, die vom «Erlöser» umgebracht wird, nachdem er sich
zuvor alle Mühe gegeben hat, sie auf andere Weise von ihrem
unsittlichen Lebenswandel abzubringen, lautet Mareia
(beziehungsweise, da sie zuletzt in Paris arbeitet, Marie). Bertha hatte erwogen, Marya zu adoptieren. Das bedeutete, das Mädchen
hatte sich mit der Liebe einer Frau auseinanderzusetzen, der –
vermutlich seit dem Tode ihrer eigenen Mutter – kein Mensch mehr
sonderlich nah gekommen war beziehungsweise kommen durfte. In einem
Nachruf auf Bertha Pappenheim umschrieb Martin Buber diese Frau als «liebstreng
und gewaltig fordernd» (zit. n. Edinger 1963, 7). Marya, Schützling in Berthas Heim, sah sich also mit den
Liebesforderungen einer Frau konfrontiert, die mitunter so aussehen
konnten, wie in einem Brief Berthas (an Sophie Mamelok vom 18.06.1908)
illustriert. Ein bevorstehender Schulausflug Maryas erweckte den Argwohn
Berthas, die – wie aus dem Text des Briefes hervorgeht – damals
gerade in Galizien unterwegs war, diesmal vermutlich nicht wegen der
dortigen Prostitution, sondern um Pogromwaisen aus Rußland außer
Landes zu helfen beziehungsweise ihnen Schutz anzubieten. Berthas im
Brief an Sophie ausgedrücktes Interesse ist es, Marya nicht allein,
nicht unbegleitet, nicht unbewacht am Schulausflug teilnehmen zu lassen.
Also wird Sophie aufgefordert, Marya zu begleiten. Dieses Interesse,
diese Absicht ist allerdings zu tarnen, vor den Augen Maryas zu
verschleiern. Marya soll die wahren Motive ihrer Begleitung nicht
erfahren. Es wird ein briefliches Arrangement getroffen, um den
intendierten «Schutz» Maryas zu garantieren. Es ist anzunehmen, daß
dieses Arrangement Praktiken glich, denen Bertha einst selbst, in ihrer
Kindheit, ausgesetzt war und deren (Aus-)Wirkungen sie in anderen
Zusammenhängen, als es um die Beschreibung des Erziehungsschicksals
einer «höheren Tochter» ging, selbst durchschaut und kritisiert
hatte: «Und nun zu Maryas Ausflug nach dem Niederwald. Ich bin zu
ängstlich, sie einen ganzen Tag allein loszulassen [...].» Daher solle
Sophie mitgehen. «Natürlich darf die Sache nicht so dargestellt
werden, daß Marya einen großen Begriff von ihrer eigenen Wichtigkeit
bekommt. Sondern es muß so gemacht werden, daß ich Dir die Freude machen will, den Ausflug mitzumachen.» Aber: «Sollte
Marya unartig sein – ich meine ernstlich – dann darf sie nicht mit,
und ich bitte Dich, ihr das aus diesem Brief vorzulesen» (zit. n.
Edinger 1963, 33 f). Zur «liebstrengen» Erziehung gehört esoffenbar, in durchaus guter
Absicht hinter dem Rücken des Kindes Intrigen einzufädeln, durch die
die Realität verdreht wird. Hirschmüller bemerkt über die Beziehung
Bertha-Marya, Bertha habe versucht, Marya genau «so
zu erziehen, wie sie selbst aufgewachsen war (Klavierspiel, höhere
Schule, schöne Kleider usw.). Es war eine große Enttäuschung, daß
ihre Erziehung gerade bei diesem Mädchen einen Mißerfolg brachte;
Marya soll Prostituierte geworden und als Hysterika in einer Anstalt
gestrandet sein» (1978, 163, Anm. 252). Es stellt sich in diesem Zusammenhang der Gedanke an Ferenczis
klassische Abhandlung ein: «Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen
und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft)»
(1984). Es scheint, als habe Marya, der auserlesene Schützling, die
potentielle Adoptivtochter Berthas, deren Sprache der Zärtlichkeit, die
sich hinter Strenge und Überwachung verbarg, nur schlecht verstanden.
Um so besser verstand sie offenbar eine andere, in der doppelbödigen
Kommunikation verborgene Sprache – die Sprache der verdrängten
Leidenschaft.[xxx]
Auch wenn in der Phantasie mancher Männer die «Heilige» und die «Hure»
in zwei schier unvereinbare Gegensätze zerfallen, so scheint doch die
Begegnung zwischen Bertha und Marya, wie schon früher jene zwischen
Bertha und der «schönen Jolanthe», die Annahme einer dialektischen
Einheit dieser Gegensätze nahezulegen, die als Einheit nicht nur im
Kopf eines Mannes existieren muß (wie in jenem Freuds, der diese
Einheit immer wieder betonte). Und daß es auch eine Einheit zwischen
dem Heiligen und dem Sündhaften, also eine religiös-dialektische
Einheit dieser Gegensätze geben könnte, dafür liefern manche Sätze
Berthas eine Bestätigung. Jedenfalls liegen im Erleben (und in den
schriftlichen Zeugnissen) Berthas Religionsübungen und sexuelle
Erregung dicht beieinander. So heißt es etwa in Bertha Pappenheims
Aphorismensammlung («Denkzettel» Nr. 58 und Nr. 59): «Daß die jüdischen Frauen an den gottesdienstlichen Handlungen nur
als Zaungäste teilnehmen dürfen, ist aus den psychologischen
Schwierigkeiten jeder Coedukation zu erkennen, weil mit Ausnahme
seltener Höhepunkte im Leben Einzelner die sexuelle Reizbarkeit stärker
ist als andächtige Versenkung.» «Diese Erkenntnis hätte – wenn die Frau bei den Juden nicht als
geistig und sozial minderwertig angesehen würde, die keinen Zutritt zur
Lehre haben darf, die Lehre nur aus zweiter Hand empfangen darf, zu
reinen Frauengottesdiensten führen müssen. Diese könnten, kurz und
ehrfürchtig durchgebildet, heute noch von großer religiöser Bedeutung
sein» (zitiert nach Jensen 1984, 187).[xxxi] In diesem Zusammenhang sei noch einmal ausdrücklich daran erinnert,
welche Bedeutung in Breuers Krankengeschichte dem Beten, also einer Religionsübung, zukommt. Bertha hatte seinerzeit
am Bett des kranken Vaters gewacht. Das war im Sommer 1880, und zwar in
– wie durch Swales (1988) ermittelt, damals noch nicht Bad – Ischl.[xxxii]
In Breuers Bericht, den er für die Ärzte des Kreuzlinger Sanatoriums
geschrieben hatte (abgedruckt bei Hirschmüller 1978, 348-362), heißt
es im Hinblick auf diese Zeit, der an Peripleuritis erkrankte Vater
habe an hohem Fieber gelitten. Es darf angenommen werden, daß er im
Fieber delirierte, also unzusammenhängende, scheinbar sinnlose Worte
und Phantasmen produzierte, die sich – wenigstens einmal – so sehr
steigerten, daß der nicht anwesende Breuer von Familienmitgliedern eine
Beschreibung erhielt, die ihm die Formulierung «acute Psychose» (ebd.,
348) nahelegen mußte. Was sprach
der Vater in diesen Fieberphantasien aus? Was hörte die Tochter von
ihm? Was erfuhr sie auf diese Weise von ihm? Ich vermute, daß sie
Dinge hörte, die ihr, im Doppelsinn des Wortes, die Sprache
verschlugen: Fieberworte des Vaters, eines frommen Mannes, der Mitbegründer
der Wiener «Schiffschul», einer Synagoge mit streng orthodoxem Ritus
(vgl. Hirschmüller 1978, 135) war, dessen (nunmehr ausgesprochene)
Phantasien – wie bei jedem anderen auch – nicht mit seinem
offiziellen Habitus und schon gar nicht mit dem Bild übereinstimmten,
das sich die sittsam und weltfremd erzogene «höhere» Tochter vom
Vater gemacht hatte. Es ist also durchaus möglich, daß Bertha, als sie
am Bett des phantasierenden Vaters wachte, das Bild des «Ehrenmannes»
nicht mehr erkennen konnte. So hätte Bertha den Widerspruch zwischen «Kultur»
und «Natur» unfreiwillig, eben auf eine kränkende und krank-machende
Art entdeckt.[xxxiii]
Hat sie den Vater wegen dieses angenommenen unabsichtlichen
Selbstverrats zu hassen begonnen? Bisher ist die entscheidende Szene der Nacht vom 17. auf den 18. Juli
1880, in der Bertha am Bett des kranken Vaters die von Breuer
beschriebenen Schlangenhalluzinationen hatte, mit denen, nach Breuers
Meinung, alles begann, mit Verweis auf die Tanzmusik gedeutet worden,
die Bertha damals hörte. Diese Musik habe Bertha zum Tanz verlockt, während
sie beim kranken Vater wachen mußte. Also seien in ihr Aggressionen
gegen den Vater entstanden, die sie wiederum abwehren mußte. Von
Aggressionen gegen den Vater – dargestellt als Schlangen, die aus der
Wand kriechen, um den Vater zu töten, bis sich schließlich sogar die Hände
Berthas, die Fingernägel, in Schlangen, in Ungeheuer verwandeln, die
dem Vater gefährlich werden könnten – ist in Berthas Halluzinationen
jener Nacht ganz offensichtlich die Rede. Liest man Breuers Bericht
genau, so verstärkt sich jedoch der Eindruck: diese Schlangenhalluzinationen
traten nicht in jener Nacht
auf, in der Bertha die Tanzmusik hörte (auf die Musik reagierte sie
vielmehr mit dem Symptom des nervösen Hustens,[xxxiv]
dessentwegen Breuer im Herbst 1880 als Arzt zugezogen werden mußte).[xxxv]
Es handelte sich also um zwei verschiedene
Nächte, in denen Bertha am Bett des Vaters jeweils Verschiedenes
erlebte. Woher kamen also die Aggressionen gegen den Vater? Wie waren
sie begründet? Das Motiv der Tanzmusik mag in einem anderen Zusammenhang seine
Bedeutung behalten, verwendet Bertha dieses Motiv später doch selbst in
einer ihrer Kurzgeschichten. Es handelt sich dabei um die Erzählung
«Die Weihernixe» (in: «Kleine Geschichten für Kinder», ca. 1888).
Dort heißt es über die von einem bösen Geist in den Weiher gebannte
Nixe: «Durch ein Büschel Schilf vor den Augen ihres steinernen
Beobachters [der sie zugleich bewacht] richtete das
Nixchen neugierig seine Blicke nach dem Hause, dessen beleuchtete
Fenster und die an denselben vorbeischwebenden Gestalten keinen Zweifel
darüber ließen, daß sich die Menschen dort dem Vergnügen des Tanzes
hingaben. Wie schön müßte es sein, einmal, wenn auch nur kurze Zeit,
das kalte Element zu verlassen und im hell erleuchteten Saal, umrauscht
von Musik, von warmer Hand geführt, dahinzufliegen» (anonym, o. J.,
36).[xxxvi] Die Nixe bezahlt in der Geschichte den – vom bösen Geist verbotenen
– Ausflug zum Tanz mit dem Leben. Im eisigen Frost kommt sie um, weil
der Teich während ihrer Abwesenheit zugefroren ist. Sie findet deshalb
nicht mehr ins Wasser, in ihr Lebenselement, zurück. Also auch hier:
Der Tod ist der Preis für das verbotene Vergnügen. Immerhin wächst
dort, wo die Nixe stirbt, eine Blume, ein Schneeglöckchen – und man
darf vermuten, daß die «Nixe» in dieser verwandelten Form wenigstens
den Menschen, die sie sehen, doch noch Freude bereiten kann.[xxxvii] Noch einmal meine Hypothese: Bertha hörte in der Nacht vorn 17. auf den
18. Juli 1880 aus den
Fieberdelirien des Vaters Dinge, die sie zutiefst bestürzen, die das
Bild ihres bis dahin idealisierten Vaters zerstören, so wie die
Schlangen, die Aggressionen, die das Gehörte provozierte, den Vater
zu zerstören drohen. In ihrer Hilflosigkeit, in ihrer Not versuchte
Bertha zu beten. Und eben beim Versuch, ein Gebet zu sprechen, verliert sie die Sprache, findet sie die Sprache
nicht mehr – die religiöse Sprache, die ihr der Vater beigebracht
hatte. Sie kann jetzt, weitergehend interpretiert, ebenso wenig beten
wie der Vater, mit dem sie sich identifiziert. Beide sind nicht so fromm, wie sie bisher erscheinen mochten. Beide sind sündig.
Erst nach einer gewissen Zeit findet
Bertha die Sprache wieder; aber jetzt handelt es sich um eine
Fremdsprache (Englisch). Alles ist fremd geworden, alles hat sich verändert;
jetzt wird Bertha in einer fremden Sprache weiterreden – beten.
Von nun an wird die Sprachstörung zu einem ihrer Leitsymptome.[xxxviii]
Immerhin fallen Bertha auch noch Jahrzehnte nach dem Ende ihrer Behandlung
durch Breuer zum Stichwort Psychoanalyse religiöse
Assoziationen ein: «Psychoanalyse ist in der Hand des Arztes, was
die Beichte in der Hand des katholischen Geistlichen ist; es hängt von
dem Anwender und der Anwendung ab, ob sie ein gutes Instrument oder
ein zweischneidiges Schwert ist» (zitiert nach Edinger 1963, 12 f).[xxxix] Als Bertha Pappenheim unter dem Pseudonym «Anna O.» Ende des 19.
Jahrhunderts die Bühne der Öffentlichkeit betrat, fesselte sie
sogleich das Interesse – vor allem auch das der Poeten. Sie verkörperte
einen Frauentypus, der offenbar der Zeit entsprach. Denn nun hatten
gerade die klassisch-antiken, die «tragischen» Frauengestalten Züge
des Hysterischen angenommen. Anders ausgedrückt: Die Poeten erkannten
die Tragödie, die sich in der Hysterie verbarg. So trägt Hofmannsthals «Elektra» manche Züge des Leidens der «Anna
O.» Beiden gemeinsam ist die Trauer um den verlorenen Vater.[xl]
Elektra gerät wie Bertha jeweils am Abend, im Dämmer- oder
Zwielicht, in den «zweiten Zustand», in den ver-rückten Zustand, in
dem sie die Vergangenheit stets aufs neue heraufbeschwören kann.[xli] Für die Tragödie der Elektra ist seit der Antike das Motiv der Rache
kennzeichnend. Und vielleicht wäre in diesem Zusammenhang auch noch
einmal daran zu erinnern, daß in den «Studien über Hysterie», also
zu Beginn der Psychoanalyse, der Affekt, der befreit werden soll, zunächst
stets mit einem Affekt identifiziert wird, der einer Kränkung
adäquat ist (vgl. Nitzschke 1988b), aber aufgrund sozialer Rücksichten
nicht gezeigt werden kann. Was durch die neue Behandlungsmethode befreit
werden soll, das sind die «Affekte [...]: vom Weinen bis zum Racheakt»
(Breuer, Freud 1895, 11; Hervorhebung von B. N.). Beim Vatermord,
den die antike Tragödie thematisiert, wäre allerdings nicht nur an die
explizite Tat, an die äußere Realität zu denken. Vielmehr stellt die
Tragödie, hier wie auch sonst, ein inneres Drama dar. Um welches Drama
könnte es dabei gehen? An welche Kränkung des Kindes wäre zu denken? Wenn
das Bild des Vaters im Inneren des Kindes zerstört wird, «ermordet»
wird,[xlii]
dann kommt dies einer «Tragödie», unter Umständen – in letzter
Konsequenz – einem «Weltuntergang» gleich. Es scheint, als habe
auch Hofmannsthal die Tragödie der Elektra, die Tragödie einer durch
die Schuld der Mutter vaterlos gewordenen Tochter, genau in diesem
Sinn begriffen: als die Tragödie einer Tochter, die aufgrund des
Verlustes des Vaters hinfort, wenngleich rachsüchtig, an die Mutter
gefesselt bleibt. Ist Ödipus der tragische Held, der mit der Mutter verschmilzt, so ist
Elektra das Spiegelbild dieses Helden – auch sie ist in selbstzerstörerischer Weise an die Mutter gebunden. Ödipus wie
Elektra sind, auf je verschiedene Weise, jedoch mit dem gleichen (selbstzerstörerischen)
Ergebnis, Opfer eines
Vatermordes, einer Tat, die sie an die Mutter fesselt. Vatermord und
Inzest, also die Ausschaltung des «Dritten» und die dadurch
erzwungene, nicht mehr aufhebbare «Symbiose», bedingen sich
wechselseitig. Elektras «Tragödie» besteht im aussichtslosen, weil
unversöhnbaren Kampf gegen die Mutter. Bei Hofmannsthal lautet der
zentrale Vorwurf Elektras an die Mutter Klytämnestra den such so: «Du
bist ja / wie ein Koloß, aus dessen ehernen Händen / ich nie
entsprungen bin. Du hast mich ja / am Zaum. Du bindest mich, an was du
willst./ Du hast mir ausgespieen, wie das Meer, / ein Leben, einen Vater
und Geschwister: / und hast hinabgeschlungen, wie das Meer, / ein Leben,
einen Vater und Geschwister./ Ich weiß nicht, wie ich jemals sterben
sollte – / als daran, daß du stürbest» (1979, 200). Hofmannsthals Bilder sind eindrucksvoll: die Mutter – das Meer. Was
sie an äußerer Realität dem Kinde gibt, das verschlingt sie wieder.
Als unauflöslich wird die Bindung an sie dargestellt – und eben
das macht die «Tragödie» für das Kind aus. Der Aufruf zur Versöhnung
mit der Mutter, trotz des am Vater verübten Mordes – und in der Tragödie:
die Ersetzung des Vaters durch einen anderen Buhlen der Mutter –, vernachlässigt
den psychologischen Unterschied zwischen
der Mutter und der Tochter. Während jene das Objekt tatsächlich
ersetzen kann, weil sie es genital begehrt, kann diese den Verlust nicht
überwinden, weil sie die Bindung an den Vater noch zum Aufbau ihrer
eigenen Identität und damit für die Abgrenzung von der Mutter benötigt.
Wenn die Mutter über das Objekt (den Vater), das für die Tochter
Garant einer äußeren Realität, einer Abgrenzung, einer eigenen, von
der Mutter verschiedenen Identität sein könnte,
so willkürlich verfügen kann, dessen Macht ganz offenbar zerstören
kann, dann entwertet sie eben nicht nur das Objekt, sondern auch jede
Bedeutung, die dieses Objekt für das Kind in der Phase der Loslösung
von der Mutter haben könnte. Und dieser Bedeutungsverlust ist nicht
durch ein neues, von der Mutter scheinbar ebenso willkürlich-mächtig
ausgewähltes Objekt, durch einen neuen Vater, einen neuen «Buhlen»,
zu kompensieren. Die Zerstörung des väterlichen Objekts, das für die
Tochter «Nicht-Mutter» heißen könnte, zwingt Elektra in eine Bindung
an die Mutter zurück, für deren Unauflöslichkeit sie die Mutter
hinfort hassen wird. Im analogen Fall war Ödipus selbst der (unwissende) «Mörder» des
Vaters. Er kehrte demnach «blind», ohne Vernunft und Wissen, als Opfer
seines eigenen Begehrens nämlich, in die Arme der Mutter zurück. Er
wird sich selbst bestrafend blenden. Elektra hingegen kehrt sehend
zur Mutter zurück. Sie sieht, was sie nicht sehen soll; und sie
erinnert, woran sie sich nicht erinnern darf. Ihre schwächere Schwester,
Chrysothemis, hingegen fordert das Vergessen. Elektra soll vergessen,
so, wie man «alle bösen Träume» vergessen kann. Doch genau dieses
Vergessen verweigert Elektra. Indem sie sich weigert, den Traumzustand,
die Absence, den «zweiten Zustand» zugunsten eines gereinigten, der
Katharsis ausgelieferten Wachbewußtseins aufzugeben, bleibt sie «krank»,
bleibt sie «tragisch». Und hier (bei «Elektra») wie dort (bei «Ödipus»)
bleibt die Tragödie, recht verstanden, ein Synonym des Wissens
wie des Unwissens. Wütend antwortet Elektra auf das Ansinnen
ihrer Schwester, die das Vergessen, die Versöhnung fordert: «Vergessen?
Was! bin ich ein Tier? vergessen? / Das Vieh schläft ein, von
halbgefressner Beute / die Lefze noch behängt, das Vieh vergißt sich /
und fängt zu käuen an, indes der Tod / schon würgend auf ihm sitzt,
das Vieh vergißt, / was aus dem Leib ihm kroch, und stillt den Hunger /
am eigenen Kind – ich bin kein Vieh, ich
kann nicht / vergessen!» (Hofmannsthal
1899, 195). Noch einmal, und auch in dieser Szene wieder: die Beschwörung der
Mutter, die ihre Kinder verschlingt. Die Tragödie, die Hofmannsthal
entfaltet, besteht im Widerspruch, den
Vater vergessen zu sollen und nicht vergessen zu wollen (oder zu können).[xliii] 4 In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts tritt Bertha Pappenheim
nicht nur unter dem – von anderen ausgewählten – Pseudonym «Anna
O.» vor die Augen der Öffentlichkeit. Sie wählt auch selbst, als
Autorin und Übersetzerin, ein Pseudonym: «P. Berthold».[xliv]
Diesem Pseudonym sieht man das Geschlecht nicht mehr an. Der Klang des
Namens läßt allerdings eher an einen Mann denken. «P. Berthold» verantwortet
beispielsweise das 1890 erschienene Buch «In der Trödelbude».[xlv]
Die in diesem Buch enthaltenen Geschichten handeln sehr oft vom
Wiederfinden, vom Wiedererkennen und von defekten
Gegenständen, deren Defekt aber manchmal sehr hilfreich ist,
beispielsweise dann, wenn es darum geht, etwas Verlorenes
wiederzufinden.[xlvi]
Eine der Geschichten in diesem Buch ist besonders traurig[xlvii]:
Ein kleines Mädchen, eine Zirkustänzerin, erhält von einem alten gütigen
Mann ein «Glücksschweinchen», das sie sich als Talisman um den Hals
bindet. Sie verliert aber das
Geschenk, das ihr Glück bringen soll, weil sie unbemerkt die Schleife
löst.[xlviii]
Als sie im Zirkus auf dem Hochseil das Gleichgewicht halten muß, greift
sie nach dem Anhänger, und da sie ihn nicht mehr fassen kann, gerät
sie in Bestürzung. Vor den Augen des alten Mannes, der dem Mädchen den
Anhänger geschenkt hat und ihren Kunststückchen zusieht, stürzt die Tänzerin
in den Tod.[xlix]
Der Name des Mädchens, das aus der Zirkuskuppel stürzt, lautet Anna. Es ist wahrscheinlich, daß Breuer und Freud auch dieses Buch der
Patientin kannten. Es gibt zahlreiche Briefbelege dafür, daß sie Berthas
Schicksal noch über mehrere Jahre hinweg verfolgten. Zudem war Bertha
eine intime Freundin von Freuds Verlobter und späteren Ehefrau Martha.
Berthas Vater hatte nach dem Tode von Marthas Vater die Vormundschaft für
dessen Kinder übernommen.[l]
Möglicherweise ist also das Pseudonym «Anna O.» von Breuer und/oder
Freud mit Bedacht – nämlich im Hinblick auf die Geschichte von der
abgestürzten Zirkustänzerin – gewählt worden.[li] «P. Berthold» besorgt 1899 auch eine neue (die zweite) deutsche Übersetzung
eines Buches, das sich – in direktem Anschluß an die durch die Französische
Revolution verkündeten Menschenrechte – mit Frauenrechten[lii]
beschäftigt: Mary Wollstonecrafts «Verteidigung der Rechte der Frau».[liii] Auf einer der letzten Seiten dieses Buches lesen wir Mary
Wollstonecrafts Appell, wonach sich Männer und Frauen in reiner,
keuscher Liebe begegnen sollten, da die «geschlechtliche Zuneigung»
ohne «Tugend» nur «Ekel» (1978, 226) erregen könne. Der Übersetzerin
muß diese tugendhafte Sicht der Welt sehr eingeleuchtet haben. In
ihrem Vorwort nimmt sie jedenfalls entschieden Partei für Mary
Wollstonecraft , deren persönliches Schicksal ihr nahe geht. Bertha
zitiert in ihrem Vorwort (1899, VIII-XX) denn auch ausführlich aus der
Biographie der Autorin, die deren Ehemann, der Schriftsteller William
Godwin, verfaßt hat. Darin wird unter anderem von «traurigen
Familienverhältnissen» berichtet, denen Mary aufgrund des «Charakters
ihrer Eltern und Geschwister» (IX) ausgesetzt gewesen sei. Anders als
Bertha – jedenfalls anders als die Bertha, die wir anhand des überlieferten
Materials kennen – war
Mary eine Frau, die ihre Leidenschaften bis zur Hemmungslosigkeit
und bis zur Selbstzerstörung auslebte. Als sie den Schweizer Maler
Heinrich Füßli (1741-1825)[liv]
kennenlernte, war sie knapp dreißig Jahre alt. Das daraufhin
einsetzende Drama beschreibt William Godwin in der von ihm verfaßten
Biographie – und Bertha Pappenheim wählt daraus die Passagen für das
Vorwort zu dem von ihr übersetzten Buch der Mary Wollstonecraft aus,
die sie besonders interessieren: «Sie faßte eine persönliche und feurige Zuneigung zu ihm. Herr Füßli
war verheiratet und dessen Frau eine von Mariens Bekannten. Sie fühlte
sehr bald, welche Einschränkungen dieser Umstand ihr zur Pflicht zu
machen schien, setzte sich aber ebenso schnell über jede daraus
entspringende Schwierigkeit hinweg» (XIV). – «Anfangs hatte sie es für
vernünftig und klug gehalten, eine, wie ich es nennen möchte, platonische
Liebe für ihn zu hegen; in der Folge aber fand sie bei diesem Plane
nicht die ganze Zufriedenheit, die sie sich zuerst davon versprochen
hatte» (XIV). – «Ihre feurige Einbildungskraft zauberte ihr stets
Bilder derjenigen Glückseligkeit vor die Augen, die ihr zuteil geworden
sein würde, wenn das Schicksal eine engere Verbindung zwischen ihnen
begünstigt hätte» (XV). – «Diese Gedanken machten den herzlichen
Umgang mit Herrn Füßli, worin sie anfangs eine ihrer größten Freuden
gefunden hatte, jetzt für sie zu einer Quelle unaufhörlicher Qual. Sie
hielt es für notwendig, die Kette dieser Ideenverknüpfung in ihrer
Liebe zu zerbrechen und beschloß zur Erreichung dieses Zwecks ein
fremdes Klima aufzusuchen und sich unter andere Verhältnisse zu
versetzen» (XV).[lv] Bertha Pappenheim und Mary Wollstoncraft vereint gewiß nicht das äußere
Lebensschicksal. Aber von Marys innerem Drama muß Bertha angesprochen
worden sein. Wie hier eine Frau eine verbotene, unerreichbare Liebe
aus ihrem Herzen, aus ihrer «Ideenverknüpfung» reißt, hernach ein «fremdes
Klima» aufsucht und sich «unter andere Verhältnisse» versetzt, dafür
zumindest scheint es Parallelen in Berthas Leben zu geben. Vor allem
aber einige theoretische Konsequenzen, die Mary verkündet, scheinen
Berthas Meinungen bestätigt und weiter gefestigt zu haben. Solange
die Tugend nicht gesiegt hat, sei es nicht zu vermeiden, meint die
Autorin der «Rechte der Frau», «daß die Keuschheit der Frauen» in
vielen Fällen nur ein Tarnmittel, eine «künstliche Hülle der Wollust»
(1899, 227 f) sei. Denn als Unterdrückte hätten Frauen keine andere Möglichkeit,
als sich zu verstellen, zu Lug und Trug Zuflucht zu nehmen, die Vorteile
ihrer Geschlechtlichkeit, das heißt ihren Reiz für das Begehren des
Mannes, als Mittel im Kampf gegen den Mann zu benutzen.[lvi]
Wer also die Frauen nicht befreien will, müsse sich auf dessen durch
Knechtschaft bedingte moralische Minderwertigkeit einrichten, meint Mary
Wollstonecraft. Wer die Frauen wie Tiere in Gefangenschaft halten wolle,
müsse sich nicht wundern, wenn daraus bisweilen «Bestien» würden,
denen sich der Mann dann mit seiner Angst und eben deshalb auch mit der
«Peitsche» anzunähern versuche, fährt die Autorin fort. Daher sei
– die beherrschenden, die unterdrückenden Verhältnisse vorausgesetzt
– die «Peitsche» das unvermeidliche «Geschenk, das jeder Vater
seinem Schwiegersohne am Hochzeitstage geben sollte, um damit als
Ehemann seine Familie in Ordnung zu halten» (1899, 229). Wer herrschen
will, muß züchtigen. «Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!»
Dieses geflügelte Wort des «Zarathustra», legte ein hintergründiger
Ironiker in den Mund eines «alten Weiblein»; das heißt, er holte
diese Worte aus dem Mund einer Frau, deren Schrift dazumal knapp hundert
Jahre alt war. Die Ehe unter der Bedingung der Herrschaft des Mannes über die Frau
wird als eine Sonderform der Leibeigenschaft, ja, der Prostitution
angeprangert. Das ist die Botschaft Mary Wollstonecrafts, die Bertha
Pappenheim wohl verstanden hat. Und auch mit dem Aufruf zur umfassenden
Sittlichkeit und Tugend, durch die das Geschlechterverhältnis zu
veredeln sei, gleichbedeutend mit dem Aufruf, Herrschaft und Gewalt aus
dem Verhältnis der Geschlechter zu verbannen, konnte sich Bertha
identifizieren.[lvii] Damit wäre noch einmal auf die beiden Themen zurückzukommen, die für
Bertha Pappenheim zeitlebens Stein des Anstoßes, Ausdruck des Skandals,
Anlaß eines nie zu Ende gekommenen Kampfes (und Konfliktes) waren. In
einem Text aus dem Jahre 1934 erwähnt sie zwei ihr als «Auswüchse und
krasse Zumutungen» erscheinende Tatsachen, die wenigstens jetzt in
einem Atemzug genannt werden: «Mädchenhandel und Certifikatsehe».
Unter einer «Certifikatsehe», der sie sich seinerzeit gemäß der hier
aufgestellten Hypothese durch Flucht in die Krankheit zu verweigern wußte,
wäre eine «leichtfertige, kurzsichtige Art» zu verstehen, «über
Zeit und Ort hinweg Bindungen anzubahnen, die keinerlei seelischen
Zusammenklang zur Voraussetzung haben». Durch derartige Arrangements
werden «Mädchen, resp. die Frauen» zu «Leidtragenden» (Pappenheim
1934, 120)[lviii],
das heißt, sie werden zu Freiwild für die Männer und somit zu einer
Art von Prostituierten. Das naiv gehaltene, das fromm erzogene Mädchen,
die höhere Tochter mit der Binde vor den Augen, das ist die zur «Heiligen»
erzogene Frau, die plötzlich und unerwartet mit einem Mann konfrontiert
wird,, der von ihr zu erwarten scheint, sich zu verhalten wie eine «Prostituierte».
Dieses Trauma endet – so oder so – mit einer Kapitulation. Eine Leid-Tragende war Bertha Pappenheim gewiß, auch wenn ihr das Leid
einer «Certifikatsehe» erspart blieb. Denn ihre Schriften sprechen
deutlich die Sprache des Leids – und sei es getarnt als Mitleid. Am
Ende der «Studien über Hysterie» lesen wir die Worte Freuds, die ein
Behandlungsziel formulieren. Es sei, so heißt es dort, schon «viel
damit gewonnen [...], wenn es uns gelingt, [...] hysterisches Elend in
gemeines Unglück zu verwandeln». Gegen dieses Unglück des Alltags
und der Welt könne sich der Betreffende «mit einem wiedergenesenen
Seelenleben besser zur Wehr setzen» (Breuer, Freud 1970, 246). Diesen
Worten sei zuletzt die Botschaft aus einer von Bertha Pappenheims Erzählungen
gegenübergestellt: «Ich lausche, und wenn ich höre, wieviel Elend
allenthalben in der Welt ist, wie wenig Heiteres es gibt, dann denke
ich, daß mein Unglück nur ein kleiner Teil des großen Elends ist»
(Berthold 1890, 19). Literatur Andersen,
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aus der Schnepfenthaler-Ausgabe): Zürich (Ala) 1978. Worbs, M.:
Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende.
Frankfurt a. M. (Europäische Verlagsanstalt) 1983. [i]
Noch Jahrzehnte nach Beendigung der Behandlung fiel «Anna O.s»
Sprachverhalten auf; in Diskussionen meldete sie sich oft sehr spät
zu Wort, und dann schien es manchmal, als hätte sie «die
Erdverbindung verloren» (Jensen 1984, 155). Vermutlich verweist
dieses mehr oder minder verdeckte Restsymptom auf die frühe
Beziehungs-, Realtitäts- und Bewußtseinsstörung «Anna O.s», die
nie gänzlich überwunden werden konnte. In zwei Briefen Martha
Freuds an ihre Mutter (vom 02. 01. und vom 31. 05. 1887), die knapp
fünf Jahre nach dem offiziellen Ende der Behandlung Berthas durch
Breuer geschrieben worden sind, wird mitgeteilt, daß Bertha
Pappenheim gegen Abend «noch immer an ihren halluzinatorischen Zuständen»
litt (s. Jones 1962, I, 268; Jones hat den Inhalt dieser Briefe in
eigenen Worten wiedergegeben). [ii]
Andersen (1840). [iii]
Die Erstausgabe der «Studien über Hysterie» erschien 1895 mit der
Autorenreihenfolge: Breuer, Freud. In einer Neuausgabe, die 1970
im Fischer Verlag erschienen ist, wurde die Autorenreihenfolge willkürlich
umgekehrt. Obgleich hier und im weiteren Text nach dieser
Neuausgabe zitiert wird, wird die
ursprüngliche Autorenreihenfolge
(beim Zitieren) beibehalten. [iv]
Daraus läßt sich schließen, daß der Analytiker immer nur das zu
hören bekommt, wofür er tatsächlich ein Ohr hat. [v]
Das gilt jedenfalls, soweit es sich um die subjektive, um die erlebte
Leidensgeschichte handelt. Welche «objektiven» Vorfälle
dieser subjektiven Leidensgeschichte entsprechen, in ihr «verschlüsselt»
vorliegen, das ist eine andere Frage. Ebenso berechtigt wäre die
Frage nach dem Zusammenhang der subjektiven und der objektiven
Krankheitsgeschichte,
die durch jeweils anders geartete Methoden zu erheben wären. Für
die therapeutische Beziehung ist dieser Zusammenhang interessant,
aber nicht unmittelbar relevant. In dieser Situation geht es um zwei
Aufgaben: a) um die Wiederherstellung eines bewußt erinnerten
Gesamtzusammenhangs der Leidens- und Lebensgeschichte des Patienten;
b) um die Herstellung eines Zusammenhangs, einer Beziehung zwischen
dem Patienten und dem Therapeuten, durch die im Idealfalle das
bisher unbewältigte Leiden nachträglich zu verarbeiten wäre. [vi]
D. h. erweitert: auf die mit der Patientin aufgenommene Beziehung
und Interaktion. [vii]
Daß damit gleichzeitig eine Darstellung des Erlebten in Worten,
also eine Versprachlichung des Affekts erfolgt, scheint auf
dieser frühen Stufe der Entwicklung des neuartigen Verfahrens noch
eher beiläufig, jedenfalls ganz unter kathartischem Gesichtspunkt,
gewürdigt zu werden. Mit fortschreitender Entwicklung der Psychoanalyse
wird dann aber gerade dieser Aspekt der Versprachlichung immer
wichtiger, beinhaltet er doch, etwas großartig formuliert, die
Menschwerdung des Menschen: Am
Anfang war das Wort ... [viii]
In diesem Punkt ist Bertha einer anderen Patientin Freuds verwandt:
Emma Eckstein, die ebenfalls publizistisch für die
Frauenemanzipation gestritten hatte. Aufgrund einer unnötigen,
fahrlässig ausgeführten Operation durch Fließ, dem Freud die
Patientin überantwortet hatte, war Emma Eckstein vorübergehend in
eine lebensbedrohlichen Lage geraten – jedenfalls empfand Freud
dies so, wie er in mehreren Briefen an Fließ bekundete. [ix]
Etwa zwei Wochen nach der Entlassung Berthas aus der Kreuzlinger
Klinik erfährt Freud erstmals durch Breuer von der – zu diesem
Zeitpunkt in erheblichem Umfang gescheiterten – Behandlung. Das
Gespräch fand am 18. November 1882 statt (vgl. Jones 1962, I, 269),
also nicht erst «Jahre» später, wie Freud in dem eingangs
zitierten Brief aus dem Jahre 1915 an Putnam schrieb. [x]
Berthas Vater war Getreidehändler. Seine Linie führt über
Bratislava bis ins romantisch-fränkische Städtchen Pappenheim im
Altmühltal zurück. Die Mutter stammte aus sehr wohlhabenden Verhältnissen;
ihre Familie gehörte zur jüdischen «Aristokratie» Frankfurts.
Die Konstellation der Geschwister war (nach Angaben Hirschmüllers,
1978) einigermaßen verworren: Die älteste Schwester, Henriette
(02.09.1849 - 17.04.1867), starb, als Bertha 18 Jahre alt war. Die nächstgeborene,
Flora (02.0.9.1853 - 15.10.1855), starb noch vor Berthas Geburt
(1859). Ein Jahr nach Bertha wurde der jüngere Bruder, Wilhelm
(15.08.1860 - 1937), geboren. Er ging später, nach dem Tode des
Vaters, nicht mit Bertha und der Mutter nach Frankfurt, sondern
blieb in Wien. Der Name der früh gestorbenen Schwester, Flora,
bedeutet Blume; ein gestorbenes Mädchen, das sich in eine Blume
verwandelt, spielt in einer Erzählung Berthas eine wichtige Rolle
(siehe weiter unten im Text das Märchen von der «Weihernixe»). [xi]
Später schreibt Bertha in einem Brief von unterwegs über die
Beschwerlichkeiten, die sich auf einer Reise ergaben, auf die sie
sich wegen mangelnder Kenntnisse nicht richtig vorbereitet hatte: «Alle
Leute – bis auf mich – haben noch ihre Wintersachen, das kommt
aber davon, wenn man keine Geographie kann, sondern erst unterwegs
lernt. Es gibt vielleicht Leute, die wissen, daß Sofia vor einem
schönen Gebirgszug liegt, auf dessen Höhen das ganze Jahr Schnee
liegt, der heute noch bis unten liegt und ein recht frisches Lüfterl
nach der Stadt schickt» (Pappenheim 1924, 26). Sechs Jahre nach
Publikation dieser Beschreibung taucht im Werk Freuds die folgende
Metapher über die Schwierigkeiten der Lebensreise der Jugendlichen
auf, die durch eine falsch verstandene gute Erziehung auf die
Wirklichkeit, die sexuellen und aggressiven Momente des Lebens außerhalb
der Familie, nicht genügend vorbereitet sind: «Indem sie die
Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben
entläßt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man
Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und
Karten der oberitalienischen Seen ausrüsten würde» (1930, 494,
Anm. 1). [xii]
In Frankfurt kam es zwischen Bertha Pappenheim und der Leitung der
orthodox jüdischen Schule («Cheder») im Jahre 1908 zu einem
heftigen und schließlich wegen der sich beleidigt fühlenden
Schulleitung auch zu einem gerichtlichen Streit. Darauf nimmt ein
Artikel Bezug, der in «Der Israelit» erschienen ist. Darin heißt
es über Bertha Pappenheim, sie trete dem «traditionellen Judentum»
mit einem «geradezu an das Pathologische grenzenden Haß» entgegen
(zitiert nach Jensen 1984, 61).
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, daß Berthas
Vater zu den Mitbegründern einer besonders streng orthodoxen Wiener Synagoge gehörte. In
einem der von Bertha schriftlich hinterlassenen «Gebete» heißt
es: «Grollender Zorn erfüllt mich! Ich will ihn behalten, er soll
in mir brennen – solange das besteht, was ihn zu recht erregt. Ich
will nicht nachsichtig werden, ich will nicht blind sein gegen schändliches,
schädliches Tun, ich will nicht entschuldigen, was unehrlich und
unentschuldbar ist. Daß mir die Kraft bleibe, wieder und immer
wieder in zorniger Wallung aufzurufen, jedes Unrecht zu ächten!»
(ebd., 155). Es ist bezeichnend, daß dieser flammende, zornige
Ausbruch von Bertha Pappenheim ausdrücklich als «Gebet»
bezeichnet wird (zur Bedeutung des Betens
– auch im Zusammenhang mit Aggressivität gegen den Vater –
siehe im Text weiter unten). [xiii]
In der für Kreuzlingen bestimmten Krankengeschichte Breuers, die
bei Hirschmüller abgedruckt ist, gibt es deutlich sichtbare
Indizien dafür, daß die Aggressionen auch bereits während der
ambulanten Behandlung gegen die Mutter gerichtet waren. Breuer war
es zunächst, bis zum Frühjahr 1881,
gelungen, den Zustand der Patientin zu bessern, so daß sie ihre
Bettlägerigkeit aufgeben konnte. Doch dann starb der Vater, mit
dessen akuter Erkrankung im Sommer 1880 nach Meinung Breuers alles
begonnen hatte. Der Tod, der Verlust des Vaters, führte zu einer
erneuten, diesmal erheblichen Verschlechterung im Befinden der
Patientin, die deshalb (und wegen
der nun akuten Suizidgefahr) durch Breuer von der Familie zeitweise
getrennt wurde. Sie kam (vgl. Anm. 14 und Anm. 38) vorübergehend
nach Inzersdorf, wurde in der Nähe des dortigen Sanatoriums
untergebracht und offenbar, in Abwesenheit von Breuer, durch das
dortige Pflegepersonal mitbetreut. Im Herbst 1881 schien sich das
Befinden der Patientin so weit gebessert zu haben, daß Breuer sich
entschloß, Bertha in ihre Familie zurückzugeben. «Anfang November
kam sie zur Mutter in die Stadt [...].» Breuer dachte, der Zustand
werde sich nun weiter bessern, doch statt dessen trat offenbar ein
Fiasko ein (das Breuer veranlaßte, bereits um diese Zeit erstmals
wegen einer stationären Aufnahme in Kreuzlingen bei Robert
Binswanger anzufragen, eine Aufnahme, die dann im nächsten Sommer
tatsächlich erfolgen sollte): «Dez[ember] 1881 hatte sich ihr
Zustand indes besonders was die Psyche betrifft, wesentlich
verschlimmert, sie war wieder aufgeregt, traurig verstimmt, reizbar
und hatte kaum mehr ganz gute Tage» (aus dem Bericht Breuers für
Kreuzlingen – zitiert nach Hirschmüller 1978, 362).
Die Rückverlegung Berthas von Inzersdorf in die nunmehr «vaterlose»
Familie hatte für Bertha offenbar schlimme Folgen. [xiv]
Wie Hirschmüller (1978, 156) belegt,
befand sich Bertha Pappenheim zwischen 1883 und 1887 noch insgesamt
dreimal für jeweils mehrere Monate in einem Sanatorium in der Nähe
Wiens. Das bedeutet: Nach dem «offiziellen», in den «Studien» dargestellten Ende der
Behandlung durch Breuer mußte die Patientin noch insgesamt viermal
stationär behandelt werden (den Aufenthalt in Kreuzlingen
eingeschlossen), wobei sie bereits während
der Behandlung durch Breuer quasi-stationär in Inzersdorf
aufgenommen worden war. Etwa 1 ½ Jahre nach dem letzten
Sanatoriumsaufenthalt in Inzersdorf ist Bertha erstmals in
Frankfurt gemeldet, wohin sie mit der Mutter verzog. [xv]
Nach Jensen
(1984,45f), die sich dabei auf Zeugnisse von Bertha Pappenhenn stützt,
hat Bertha ihre Entscheidung,
sich hinfort gefährdeten und gefallenen Mädchen und Frauen
zu widmen, so erklärt: Sie habe einmal einer Diakonisse, die in
einem Asyl war, die Frage gestellt, ob viele jüdische
Mädchen unter deren Klientel seien. Dabei sei Bertha sicher
gewesen, eine negative Antwort zu erhalten. Tatsächlich aber habe
sie zu hören bekommen: «Früher kam es gar nicht vor, jetzt häufiger,
daß jüdische Mädchen zu den Gefallenen zählen. Wenn wir aber ein
jüdisches Mädchen bekommen, ist es schlimmer als die Anderen,
dann ist es direkt vom Teufel besessen.» Daraufhin habe sich Bertha
entschlossen, «alle ihre Kräfte» dem Kampf gegen dieses Schicksal
zu widmen (zitiert nach Jensen 1984, 46). – In einem Artikel
(1901/02) schildert Bertha Pappenheim, daß sie eine gewisse «anerzogene
Scheu» (ebd., 54) überwinden mußte, um den weiten Weg von der «höheren
Tochter» zur Betreuerin junger Prostituierter (und anderer Mädchen)
zurückzulegen. Im Verlauf dieses Engagements verdichtet sich bei
Bertha dann allerdings zunehmend eine Idee: Am organisierten Mädchenhandel
seien möglicherweise viele Juden beteiligt; und unter den Mädchen,
die sich prostituieren, seien viele Jüdinnen. Sie wähnte, einem
schrecklichen Geheimnis auf der Spur zu sein, von dem wir, tiefer
interpretiert, annehmen dürfen, es sei – neben aller möglichen
äußeren Realität – ein Geheimnis ihrer eigenen Brust gewesen.
Entsprechend bestürzt formuliert Bertha einen Text aus dem Jahre
1910: «[...] ich erfuhr zu dem an sich Schrecklichen noch das tief
Beschämende: viele Juden sind Händler, viele jüdische Mädchen
sind Ware» (ebd.). Und in einer Rede vor den Neu-Isenburger
Mitarbeiterinnen anläßlich des 25jährigen Bestehens des Heimes
umschreibt Bertha selbst noch einmal die mit der Heimgründung
verbundenen Vorstellungen: «<Isenburg> entstand aus der
Beobachtung beginnender Auflösung der jüdischen
Sittlichkeitsbegriffe in unserer Gemeinschaft. <Isenburg>
wurde für Deutschland eine Stelle, durch die konkrete Fälle
moralischer Erkrankung zur Kenntnis kommen» konnten, wodurch es möglich
wurde, aus diesen Fällen «theoretische und praktische Schlüsse»
zu ziehen. – <Dieser Kern <Isenburg> darf nicht vergessen
werden, alles andere ist Form, Beiwerk, beweglich, auch veränderlich
nach Zeit-Umständen – darf aber nie den Kern der Mission
<Isenburg> übertönen und zerstören» (zitiert nach Edinger
1963, 100). Es geht immer um diesen «Kern», und zwar auch dann,
wenn Bertha z. B. russische Pogromwaisen (Mädchen) in ihrem Heim
aufnimmt, denn die Befürchtung, die elternlosen Mädchen könnten,
(mit-)bedingt durch ihre Not, zu Prostituierten werden, ist
allgegenwärtig, wie etwa auch der Inhalt eines ihrer Dramen («Tragische
Momente», 1913) verdeutlicht. [xvi]
Die Kompromißbildung zwischen einer Tendenz, sich dem «Schmutz»
anzunähern, und einer entgegengesetzten Tendenz, ihn zu
beseitigen, zu verbieten, aus der Welt zu schaffen, damit keiner
mehr damit etwas zu tun habe, findet bei zwanghaft-neurotischen
Schmutz-, Schund- und Pornojägern eine gesellschaftlich weitgehend
akzeptierte Äußerungsform (vgl. Nitzschke 1989). Übertriebenes
Interesse am Schmutz (scheinbar am Schmutz der anderen)
verstärkt zudem die Gewißheit des Guten (das man als Moralist selbst
immer zu besitzen
glaubt). Nicht zufällig hat Freud die Neurose als das Negativ der
Perversion begriffen. Dabei findet allerdings im Fall der Perversion
eine andere Form der Kompromißbildung statt als im Fall der
Neurose, bei der der gesamte Konflikt unbewußt und durch ein
Symptom ersetzt ist: Das Ausleben der Triebimpulse nach Maßgabe der
infantilen Organisation scheint nun aber auch in den
entsprechenden Fällen von Perversion oft in einem partiell (und
zeitweise) veränderten Bewußtseinszustand
zu erfolgen, wobei die «perverse» Persönlichkeit von der «Normal»-Persönlichkeit
weitgehend getrennt, abgespalten existiert. Stekel berichtet einmal
über einen Patienten, der sich bei ihm in Behandlung befand und
über seine leidvolle Abhängigkeit von Prostituierten klagte, er
habe zur selben Zeit in der Öffentlichkeit Brandreden gegen die
Prostitution gehalten (vgl. ähnliche, durch die Presse entlarvte, Fälle
bei amerikanischen Fernseh-Predigern). [xvii]
Vermutlich handelt es sich dabei um einen Druckfehler; es müßte,
da alle Briefe bei Pappenheim (1924) chronologisch angeordnet sind,
(erschlossenermaßen) heißen: 01.04.1911. [xviii]
«Fräulein Hoffmann» war Berthas Erzieherin, die im übrigen auch
in jenem Urlaub (in Ischl) anwesend war, in dem Berthas Vater akut
erkrankte (vgl. Swales 1988, 58).
Das heißt: Nach dem Besuch im Bordell von Saloniki, nach der
Begegnung mit der «schönen Jolanthe» träumt Bertha; und in
ihren Assoziationen zum Traum tauchen Personen auf, die in dieser
Konstellation an den Ort zurückführen, an dem «alles» (Berthas
Krankheit, aber wohl auch die Psychoanalyse) begann. [xix]
Was Berthas eigene Mutter angeht, so hatte diese in eine «arrangierte
Heirat» (Hirschmüller 1978, 136) eingewilligt, war also offenbar
aufgrund von Familien-, und das heißt in diesem Falle auch: von
Geldinteressen, die Frau ihres Mannes (Berthas Vater) geworden. [xx]
So heißt es bereits im Bericht über die Reise 1903 durch Galizien
im Zusammenhang mit der «das Land verseuchenden geheimen
Prostitution»: «Für die Beurteilung der Sachlage ist von
größter Wichtigkeit, daß es nicht nur Not und Verführung
sind, die die Mädchen zum Verkauf ihres Körpers drängen. Es ist
mir wiederholt und besonders von
medizinischer Seite (Hervorhebung
v. B. N.; vgl. dazu auch Anm. 24) gesagt worden, daß eine erschreckend große Anzahl Mädchen und
Frauen <besserer> Familien[!], solche, bei denen von Erwerb
oder Nebenverdienst ganz abgesehen werden kann, einem geheimen und
außerehelichen Geschlechtsverkehr zugänglich sind. Und zwar sind
dies nicht etwa Frauen und Mädchen, die auf irgendeine Art von
modernen oder emanzipierten Ideen <infiziert> sind. Es sind
Frauen und Mädchen, die ultraorthodox leben, den Sabbat halten, die
Speisegesetze und alle
anderen rituellen Vorschriften mit der größten Ängstlichkeit
befolgen und dennoch in sittlicher Beziehung absolut haltlos sind»
(Pappenheim, Rabinowitsch 1904, 47).
– Das Zitat belegt 1. die Assoziation zwischen Prostitution
und außerehelichem Geschlechtsverkehr (in Berthas Vorstellung);
2. daß Bertha nicht nur den vermeintlichen «Ehrenmännern»,
sondern ebenso
scheinbaren «Ehrenfrauen» auf der Spur ist (wobei auch hier
wiederum die religiöse Fassade vor dem in Berthas Augen
unsittlichen Verhalten auffällt); 3. daß es offenbar auch «höhere
Töchter» gibt, die der Gefahr ausgesetzt sind, zu «Prostituierten»
zu werden; und 4. daß in
diesen letzteren Fällen – da sie keine Entschuldigung durch Armut
besitzen – wohl am ehesten eine Triebgefahr, ein eigenes
Begehren vermutet bzw. gefürchtet werden muß (also gerade in
diesen Fällen die ausschließliche Projektion des «Sündhaften»
auf den Mann schwerer gelingt). [xxi]
Auf der Reise lernt
Bertha einen älteren Herrn kennen, mit dem sie sich in der Absicht
einig ist, daß die «Pornographie» bereits bei der modernen
Kleidung beginne: «Ich kann nur sagen, daß der alte Herr recht
hat. Die Übertreibung der Mode mit den engen Röcken ist unter den
polnischen Jüdinnen bis zur Widerlichkeit angenommen [...].
Verfall und Zerfall in allen Schichten des jüdischen Volkes»
(1924, 200). [xxii]
Bereits von ihrer ersten Reise durch Galizien hatte Bertha gemeldet:
«Die Zahl der öffentlichen Häuser ist sehr groß, und daß
Inhaber und Inwohner meist Juden resp. Jüdinnen sind, ist bekannt»
(Pappenheim, Rabinowitsch 1904, 47). [xxiii]
Vgl. z. B. die Argumentation bei Rosenberg (1937, 544-564), der sich
dabei ausdrücklich auch auf von ihm als jüdisch apostrophierte
Quellen stützt. Laut Edinger (1963, 19) wurden denn auch Zitate aus
den Schriften von Bertha Pappenheim von der Zeitschrift «Der Stürmer»
zu antisemitischen Propagandazwecken mißbraucht. [xxiv]
In einem ihrer Reisebriefe wird ein Arzt beschrieben, der seine
ehrenwerte Tätigkeit dazu benutzt, unschuldige Mädchen sexuell
zu verführen und zu mißbrauchen. Über ihn heißt es in der
Diktion Berthas: «Ich habe noch nie einen Menschen von so tief
eingewurzelter und verankerter Sittenlosigkeit oder Unmoral
gesprochen, der er noch immer ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen
will. Ich kann mir natürlich nicht all seine Weisheitsaussprüche
merken, aber der folgende kann genügen: Ich habe noch nie über
Nacht ein Mädchen bei mir gehabt, das ich nicht am nächsten
Morgen sittlich gehoben entlassen hätte. Dadurch, daß ich Arzt
bin, kann ich sie warnen und aufklären, und ich schenke auch jeder,
was sie braucht, um sich ohne Schaden amüsieren zu können.>!!!
Sie können sich denken, daß ich ihm sagte, daß er Mißbrauch mit
seinen medizinischen Kenntnissen treibe [...]» (1924, 87). – Im
Lichte dieser Briefstelle gewinnen manche eher «umschriebene»
Bemerkungen Freuds über Breuer und dessen Beziehung zu Bertha ein
neues Gewicht. Das gilt für die von Freud an Martha übermittelte
Nachricht, sie solle ihn nicht mit Breuer vergleichen, sie müsse
nicht (wie Breuers Frau) wegen einer Patientin eifersüchtig sein
(Brief vom 04.11.1883, zitiert nach Jones 1962, 268). Und das gilt
auch für Freuds Bemerkung über Berthas hysterisch motivierte
Scheinschwangerschaft, wegen der Breuer die Behandlung fluchtartig
abgebrochen haben soll (so Freud in einem Brief an Stefan Zweig vom
02.06.1932). In diesem Brief legt Freud Bertha Pappenheim einen Satz
in den Mund, den er von Breuer übermittelt bekommen habe: «Jetzt
kommt das Kind, das ich von Dr. B. habe» (vgl. Freud 1980, 427
f). Der weitere Text dieses Freud-Briefes läßt keinen Zweifel
daran, daß Freud selbst nicht
an eine reale (sondern eben nur an eine phantasierte) sexuelle
Begegnung Berthas mit Breuer glaubte. Auch wenn Hirschmüller (1978,
172 ff) einige eklatante Widersprüchlichkeiten zwischen Freuds
(bzw. Jones’) Darstellungen zu diesen Punkten nachweisen kann,
gewinnt der Themenkomplex doch an sich – im Lichte der hier
referierten Stellen aus den Schriften Bertha Pappenheims – neue
Aspekte. Für ein bei Bertha lange nachwirkendes traumatisches
Erlebnis (welcher Art immer) im Zusammenhang mit der Behandlung
durch Breuer spricht außerdem die Tatsache, daß Bertha jede
psychoanalytische Behandlung (nicht aber eine psychiatrische
Behandlung; vgl. ihren eigenen Wechsel von Breuer = kathartische
Behandlung/Psychoanalyse zu Binswanger = Psychiatrie) in ihrem
Neu-Isenburger Heim «streng verboten» (Edinger, 1963, 13) hatte.
Auch Anna Freud teilt mit, daß Bertha nach Abschluß der Behandlung
zeitlebens «feindselig zur Analyse» (1971, 13) gestanden habe. [xxv]
Noch als 70jährige Frau gibt Bertha Pappenheim (1929) ein Buch
heraus, das mit den Worten beginnt: «Mädchenhandel. Gibt es einen
Mädchenhandel?» Sodann sagt sie, es gebe zumindest Organisationen
(an deren Spitze sie selbst steht), die gegen
den Mädchenhandel kämpften. Und sie fährt fort: «Aber ebenso
lange werden Stimmen anderer laut, die die Bestrebungen der
Organisationen belächeln, als einen Kampf gegen Windmühlen
bezeichnen und erklären, daß es einen Mädchenhandel nicht gibt.»
Sodann fällt ihr ein Thema ein, das an längst vergangene Zeiten gemahnt,
an ihre eigene Betäubungsmittelabhängigkeit:
<,Wer Gründe hat und gelten läßt, die dem
Alkoholgenuß Vorschub leisten, die den Opiumgenuß (mit anderen
Rauschgiften) nicht ungern dulden und die den hemmungslosen,
unverantwortlichen Geschlechtsgenuß auch zu einer leicht und billig
käuflichen Lebensfreude erklärt wissen wollen – die sehen in
der Prostitution von Männern und Frauen nur eine fröhliche
<Lebensbejahung>» (1929, 3). Bei dieser Bemerkung könnte man auch daran denken, daß Breuer als
einfühlsamer Arzt die Gewissenskonflikte seiner damals etwa 20jährigen
Patientin im Zusammenhang mit Sexualität erkannt hatte, um ihr
vielleicht sodann mehr oder weniger verschlüsselt verstehen zu
geben, daß nicht jede Form sexuellen Erlebens außerhalb
orthodox-religiös zulässiger Grenzen «Sünde» sein müsse; daß
die Patientin auf eine solche Botschaft aber verschreckt (über ihr
eigenes Begehren erschreckt) reagiert haben könnte. – Der weitere
Text gerade dieses Buches von Bertha Pappenheim (das wiederum Briefe
enthält) läßt keinen Zweifel daran, daß es der Verfasserin im
Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution um etwas ganz Besonderes
geht: «[...] ich habe das Gefühl einer Mission, der ich mich
nicht entziehen kann [...]» (1929, 38). Vordergründig geht es
Bertha Pappenheim um die Klärung der Vorwürfe, die gegen Juden
gerichtet sind und zum großen Teil, das sieht auch sie selbst, von
Antisemiten stammen. Aber es geht auch um eine Frage des eigenen Gewissens; in
einem Brief vom 17.04.1928 heißt es: «Ich bringe mich Ihnen in
Erinnerung, weil mein Gewissen mir keine Ruhe läßt, daß wir Juden
– Männer und Frauen – in der Frage der Bekämpfung des Mädchenhandels
sträflich gleichgültig und tatenlos sind» (1929, 37). Im übrigen
erinnert Berthas Lebenskampf um die Aufdeckung einer verborgenen
Wahrheit, um das Entkommen aus einem feingesponnenen Netz familiärer
Beziehungsstrategien auch an den Fall «Dora». [xxvi]
Fritz Homburger, Berthas Cousin, schreibt am 04.01.1883 an Robert
Binswanger über Bertha, nachdem sie seit einigen Wochen die
Kreuzlinger Klinik verlassen hatte, um sich nun, nach einem
Zwischenaufenthalt in Karlsruhe (bei ihren Verwandten), wieder nach
Wien zu begeben: «In den letzten Tagen ihres Hierseins verkehrte
sie häufiger mit meiner Cousine Anna Ettlinger [...], welcher sie
einige selbstverfaßte Märchen vorlas, die sehr gefielen. A(nna)
E(ttlinger) rieth ihr zu, [...] sich mit litterarischen Arbeiten zu
befassen [...]» (zitiert nach Hirschmüller 1978, 381) – ein Rat,
den Bertha in der Folgezeit ausgiebig befolgte. [xxvii]
Das von mir durch Fernleihe ausgeliehene Exemplar trug noch einen
mit Hakenkreuz und Reichsadler versehenen Stempel: «Bibliothek
– Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland». Auch
dies scheint Beweis dafür zu sein, daß Bertha Pappenheims Bücher
den Nationalsozialisten als geeignet erschienen, ihr Bild von «den»
Juden zu vervollständigen. [xxviii]
Vgl. zur Selbsteinschätzung Bertha Pappenheims auch die von ihr
verfaßten, selbstironischen «Nachrufe» (für den Fall ihres
Ablebens), abgedruckt bei Edinger (1963, 150 f). [xxix]
Bei Hirschmüller (1978, 163) wird dieses Mädchen, unter Berufung
auf Bertha Pappenheims langjährige Bedienerin bzw. auf Frau
Goldmann, die es von der Bedienerin Erna Segelmann so gehört
haben will, Manya genannt.
Wahrscheinlich – aber nicht sicher – handelt es sich dabei um
einen durch die Informantin Hirschmüllers tradierten Hör- oder
Lesefehler (Hirschmüller, pers. Mitteilung). [xxx]
Anders formuliert:
Bertha, die Heilige, die «Helferin der Menschheit», und Marya, die
Hure, wären am Ende doch nur eine Person, so, wie wir das bereits
vermuteten, als wir die Szenen kennenlernten, die sich bei der
Begegnung zwischen Bertha und der «schönen Jolanthe» abspielten. [xxxi]
Es gibt durchaus bezeichnende Stellen in Berthas Schriften, die den
in ihrem Erleben (und auch sonst: vgl. Nitzschke 1988a)
bestehenden engen Zusammenhang zwischen Religion und Sexualität
belegen. So schreibt sie etwa über das Bibelstudium in den
Cheder-Schulen Galiziens, in denen auf manche anrüchige Bibelstelle
von den Lehrern nicht sonderlich acht gegeben werde: «Es ist
selbstverständlich, daß dieses <Bibelstudium> auf die
ohnedies frühreifen Kinder dieselbe Wirkung übt, wie es die berüchtigten
Beichtfragen auf die katholische Jugend tun. Es ist mir auch von maßgebender
pädagogischer Seite bestätigt worden, daß in den Chedern vielfach
der Keim zu sittlicher Verwahrlosung und Verrohung gelegt wird [...]»
(Pappenheim, Rabinowitsch 1904, 12).
– Gerade im Osten (Berthas
väterliche Familie stammte von dort, hatte jedenfalls über mehrere
Generationen dort gelebt) findet Bertha immer wieder eine große
– auch räumlich enge – Nähe zwischen Religion und Sexualität
vor. Noch als 70jährige berichtete sie aus Warschau: «Im
Warschauer Judenviertel sah ich in einem großen Hof zwei Sukkaus,
in denen laut gebetet und gesungen wurde, und in den zugehörigen
Wohnhäusern ringsum befinden sich nach lokalkundigster Angabe in
verschiedenen Stockwerken die Freudenhäuser mit durchaus jüdischem
Betrieb» (1930, 2). [xxxii]
Etwa ein Jahr vor ihrem Tod besuchte Bertha Pappenheim noch einmal
Bad Ischl (auf der Rückreise von Wien, wo sie ihre wertvolle
Spitzen-Sammlung dem dortigen «Museum für angewandte Kunst» zur
Verfügung gestellt hatte). Sie wird in Ischl prompt krank und muß
mehrere Tage in München in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Am
5. Juli 1935 schreibt sie von dort: «[...] ich hatte solche
Schmerzen in Ischl, daß ich mich dem Äskulap in die Klauen gab
[...]» (zitiert nach Edinger 1963, 130). Aufgrund der Nachforschungen von Swales (1988), der Kurlisten fand,
wissen wir, daß die Familie Pappenheim in den Jahren 1871 bis 1874
ihre Sommerurlaube in Ischl verbrachte, einem Ort des
Salzkammergutes, in dem auch der Kaiser zu weilen pflegte. Bertha
war also in Ischl nicht nur in jenem Sommer, in dem ihr Vater (und
sie selbst) erkrankte, sondern auch während mehrerer Sommer ihrer Mädchenjahre.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sie sich in einem «Gebet»
(etwa zwei Jahre vor ihrem Tod, am 02.08.1934,
niedergeschrieben) sehnsuchtsvoll an diesen Ort, an diese Zeit
zurückerinnert: «[ ...] Ischl! Sehnsüchtig träume ich von einem
Spaziergang durch die Hänge und Wiesen – möchte noch einmal das
Blümchen Augentrost am Wege sehn, die wilden Stiefmütterchen, das
korallenrote Blütchen, dessen Name ich nicht weiß und das ich so
liebe, und auf dunklen Tannenwegen gehn, wo ganz unerwartet oft ein
Wasserfaden rieselt, die Nadeln den Boden glatt bestreuen – und
den Duft zwischen den Bäumen – den Duft, den köstlichen Duft,
feucht, würzig, ursprünglich [...], einmal im Leben noch einatmen
– wie in den Tagen der Jugend – noch einmal! [...]» (zitiert
nach Jensen 1984, 23). Die Sprache ist poetisch – und es liegt
gewiß nicht nur an, der Naturlyrik, daß sie zahlreiche
sexuelle Symbole umschließt. [xxxiii]
Es ist auffallend, wie sehr das Hauptsymptom Berthas (die
Halluzinationen, die Absencen, das Phantasieren, das unzusammenhängende
Reden, das «freie», bruchstückhafte Assoziieren)
Fieberphantasien gleicht,
also dem von mir unterstellten Verhalten des Vaters,
an dessen Bett Bertha die Nächte durchwachte. Sie pflegte den Vater
– und hat sich mit ihm, so wäre zu schlußfolgern, wohl auch
identifiziert. Am Ende wäre die Erfindung der «talking cure» dann
gar nicht Bertha, sondern ihrem im Fieber frei assoziierenden Vater
zu verdanken …? Und schließlich wäre noch zu beachten, daß
die von Bertha gebrauchten Redewendungen, – «talking cure»; «chimney-sweeping»
(welcher «Kamin» immer damit gemeint war) –, die das von Breuer
praktizierte Heilverfahren charakterisieren, in englischer Sprache, also in der Sprache verfaßt sind, in der
Bertha endlich wieder beten konnte
(vgl. Anm. 38). [xxxiv]
Das ist abermals ein Symptom, das die Annahme der Identifizierung
mit dem kranken Vater nahe legt: der Vater war lungenkrank und er
starb schließlich auch an Tuberkulose. [xxxv]
Den Recherchen des minuziös auf Freuds Spuren (und aller Personen,
die ihm irgend nahestanden) wandelnden Peter Swales ist es zu
danken, daß wir mittlerweile den Abstand zwischen dem Haus «Bellevue,
Kaltenbach 58» (die heutige Straßenbezeichnung lautet:
Brennerstr. 25), in dem sich der fiebernde Vater und die
halluzinierende Tochter in einem sehr ähnlichen emotionalen Zustand
befanden, und dem Musikpavillon, in dem die verführerische
Tanzmusik ertönte, auf die Bertha hüstelnd reagierte, genau
kennen: «500 Meter» (Swales 1988, 62). [xxxvi]
Ich danke Albrecht Hirschmüller, Tübingen, der mir eine Kopie
dieses schwer zugänglichen Textes überlassen hat. Nach Hirschmüllers
Argumentation (1978, 158, Anm. 216) besteht kein Zweifel daran, daß
das anonym erschienene Buch «Kleine Geschichten für Kinder»
Bertha Pappenheim zuzuschreiben ist. [xxxvii]
Es mögen zufällige oder tatsächliche Anspielungen sein: Im Märchen
von der «Weihernixe», das Hirschmüller (1978, 167) auch
in Hinsicht auf Berthas Beziehung zu Breuer bzw. zum Vater
diskutiert, wird die Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau
ebenso unmöglich wie in Goethes Geschichte «Die neue Melusine».
Auch im Goetheschen Märchen scheitert die Beziehung; der Mann, der
sich weigert, das Nixen- oder Zwergen-Wesen der Frau zu akzeptieren,
nennt dafür den Grund: «Wie schrecklich ward mir auf einmal
zumute, als ich von Heirat reden hörte: denn ich fürchtete mich
bisher davor fast mehr als vor der Musik selbst, die mir doch sonst
das Verhaßteste auf Erden schien» (Goethe 1967, 373). Im folgenden
werden bei Goethe «Musik», «Harmonie» (im Sinne von
Verschmelzung) und «Ehe» miteinander gleichgesetzt. Im Märchen
von der «Weihernixe» schaudert der Mann nach dem Tanz, als er der Nixe in die «Augen» sieht, vor einer
weiteren Verbindung mit ihr zurück. Das heißt u. a. auch: Er kann ihr nicht mehr in die
Augen schauen! Nun ist das Element der Nixe das Wasser. Und
schon im Märchen der Brüder Grimm «Die Nixe im Teich»
symbolisiert das Wasser Unheil, Verschlingung, das Mütterlich-Unheimliche
also. [xxxviii]
Breuer schreibt: Als die Schlangenhalluzination «geschwunden war,
wollte sie [Bertha] in ihrer Angst beten, aber jede Sprache
versagte, sie konnte in keiner sprechen, bis sie endlich einen englischen
Kindervers fand und nun auch in dieser Sprache fortdenken und
beten konnte» (Breuer, Freud 1895, 34). Daß der Patientin die «Worte
fehlten» (ebd., 23), ist eine wiederholte Beteuerung Breuers, der
in der «Angsthalluzination» (Schlangenhalluzination) «die Wurzel
der ganzen Erkrankung» (ebd., 35) vermutete und daher – nach der
Reproduktion gerade dieser Szene (und der darauf bezogenen
kathartischen Prozedur) – die Heilung der Patientin mit der
wiedergewonnenen Sprache gleichgesetzt hat. Nachdem Bertha die
Ursprungszene wieder erinnert hatte, so der offizielle Bericht
Breuers, sprach sie «unmittelbar darauf Deutsch und war nun frei
von all den unzähligen einzelnen Störungen, die sie früher
dargeboten hatte» (ebd.). – Wie bereits eingangs betont, ist
diese Schilderung Breuers in ihren weiterreichenden Implikationen
einer fast vollständigen Heilung falsch. Im Bericht über den
Krankheitsverlauf in Kreuzlingen formuliert der dortige Arzt, Dr.
Laupus, für die Zeit zwischen 12.07 und 29.10.1882: «Vor dem Bilde
des Vaters hielt sie oft stundenlang einen stillen Thränencultus
[...]. Ihrer Phantasie gestattete sie öfter in abgezogenen Träumen
freien Lauf; war aber angerufen gleich praesent, und reproduzierte
bei guter Stimmung in lebhafter dramat[ischer] Diction ihr märchenhaftes
Träumen (Privattheater!). Gänzlich aus der Breite der gewöhnlichen
Hysterie entfiel jedoch der auch hier beobachtete Verlust der
Muttersprache» (zitiert nach Hirschmüller 1978, 364). – Ein
weiteres Symptom (die mit der Trigeminusneuralgie verbundenen
Gesichtsschmerzen, derentwegen die Patientin suchtmittelabhängig
geworden war) hielt auch noch in Kreuzlingen an. Dieses Symptom
hatte nichts mit der von Breuer beschriebenen Szene am Bett des Vaters zu
tun (es bestand bereits seit Frühjahr 1880 und war, wie aus einem
Brief von Berthas Mutter zu erschließen ist, womöglich im
Zusammenhang mit einem eitrigen Zahn erstmals aufgetreten). Das heißt:
Die Krankengeschichte Bertha Pappenheims enthält zwei voneinander
getrennt zu erkennende Stränge, wobei der eine auf ein psychisches,
der andere auf ein somatisches Leiden verweist. Entsprechend
uneinheitlich fielen die Diagnosen anläßlich der drei späteren
stationären Aufnahmen der Patientin in Inzersdorf zwischen 1883 und
1887 aus: «Hysterie» steht neben «somatisch krank» (vgl. Hirschmüller
1978, 156). Bertha Pappenheim befand sich während dieser drei
Aufenthalte eben an jenem Ort, an dem sie sich schon einmal, 1881 (während
der Behandlung durch Breuer), befunden hatte. [xxxix]
In einer weiteren der insgesamt eher seltenen Stellungnahmen Berthas
zur Psychoanalyse wird über ein kleines Mädchen gesagt, an ihm sei
«durch pädagogische, medizinische, psychologische oder
psychoanalytische Fehler sehr schwer gesündigt
(Hervorhebung von B. N.] worden» – und zwar vermutlich
dadurch, «daß man dem Kinde selbst zu viel über die objektiven
Beobachtungen, die man zu machen glaubte, Mitteilung machte»
(zitiert nach Jensen 1984, 153).
Vgl. dazu auch Anm. 25). [xl]
Bei Bertha wäre dies, nach der hier gegebenen Interpretation, zunächst
vor allem die Trauer um ein abrupt zerstörtes und entwertetes
Vaterbild, denn als ihre Leidenssymptome erstmals auftraten, lebte
der Vater als Person noch; es ging also noch nicht um den realen,
sondern nur um den phantasierten (in der Phantasie vorweggenommenen)
Objektverlust. Der reale Verlust trat erst später ein und verstärkte
das Leiden, nachdem es Breuer (als Stellvertreter des Vaters, der
sich dieser Übertragung nicht bewußt war) vorübergehend gelungen
war, das Bild des Vaters zu rekonstruieren. Die Trennung von Breuer
(und womöglich weitere unbekannte Erlebnisse Berthas mit Breuer) führte
dann zu einer weiteren Krise. Am Ende ihres Leidens stand für
Bertha wohl die Überzeugung fest, daß es keinen Zugang zum Vater
geben könne; daß die Bindung an ihn (und die an einen anderen
Mann) zu leidvoll oder aber gänzlich verboten sei. [xli]
Vgl. Worbs (1983, 285); Urban (1978) sind ausführliche
Studien über die Beziehung Hofmannsthal-Freud zu verdanken. Für
die Konzeption der «Elektra » hatte Hofmannsthal (1937, 384) einem
Briefzeugnis zufolge «das merkwürdige Buch über Hysterie von den
Doktoren Breuer und Freud» benutzt. [xlii]
Dem entspricht ein innerer Auflösungs- und Zersetzungsprozeß, dessen
Konsequenzen Freud im Fall des Senatspräsidenten Schreber ausführlich
dargestellt hat. [xliii]
Auch dieses Nicht-Vergessen, dieses verzweifelt-trotzige Festhalten
an der Erinnerung an den Vater hat einen Preis. Dem heimkehrenden
Orest beschreibt die Schwester ihren Zustand so: nur als «Leichnam»
habe sie überlebt. Nur noch vor dem «Spiegel» kann Elektra die
Schönheit ihres Körpers genießen: «Ich glaube, ich war schön:
wenn ich die Lampe / ausblies vor meinem Spiegel, fühlte ich / mit
keuschem Schauder, wie mein nackter Leib / vor Unberührtheit durch
die schwüle Nacht / wie etwas Göttliches hinleuchtete. /Ich fühlte,
wie der dünne Strahl des Monds / in seiner weißen Nacktheit badete
/ so wie in einem Weiher...» – «Verstehst du’s, Bruder! diese
süße Schauder / hab ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, /
wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen / nicht seine Seufzer,
drang sein Stöhnen nicht / bis an mein Bette? Eifersüchtig sind /
die Toten [...]» (Hofmannsthal 1979, 225). – Hier werden in
relativ unverhüllten Bildern narzißtisch-autoerotische Beziehungen
geschildert, die Elektra zu sich (bzw. zum Bild ihres Vaters) unterhält,
von dem auch, wie es weiter heißt, der «Haß» geschickt werde –
der «Haß», der Elektra sehend, wissend gemacht habe. [xliv]
Dieses Pseudonym behält Bertha Pappenheim ein gutes Jahrzehnt bei,
so, als bezeichne es eine Art Verpuppungszeit, die in etwa
zwischen der Abreise aus Wien (Ende der achtziger Jahre) und der
dann öffentlich sichtbaren Rolle als Frauenrechtlerin in
Frankfurt liegt. Im neuen Jahrhundert (mit dem Jahr 1900 beginnend)
schreibt sie dann unter ihrem richtigen Namen. [xlv]
Für eine Kopie dieses schwer zu beschaffenden Textes danke ich
Albrecht Hirschmüller, Tübingen. [xlvi]
So erkennt beispielsweise ein verloren geglaubter, jetzt aber wieder
heimgekehrter Sohn seinen in Not geratenen alten Vater am Klang
einer defekten Spieldose (in der neunten Geschichte). In der
Rahmenhandlung dieser Geschichte taucht das gleiche Motiv auf: Vater
und Tochter finden einander nach Jahren der Trennung dank eines
beschädigten Medaillons, das einst der Mutter gehörte. [xlvii]
Vgl. noch einmal Breuers Bemerkung über die Geschichten, die er
seinerzeit von «Anna O.» gehört hatte: «Die Geschichten, immer
traurig, waren teilweise sehr hübsch [...];
meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem
Kranken in Angst sitzenden Mädchens [...]» (Breuer, Freud 1970,
26). [xlviii]
In übertragener Bedeutung würde dies heißen: Sie verliert die
Bindung an den Vater (oder, falls der Therapeut gemeint sein sollte,
an Breuer); deshalb verliert sie den Halt und stürzt ins Bodenlose. [xlix]
Man kann den «Anhänger» auch als Penis, als das väterliche
Symbol deuten, dessen Verlust in den Abgrund des Mutterleibes, zurück
zur «Mutter» Erde führt.
Bertha Pappenheims Märchen wie auch Breuers Bericht über «Anna O.»
enthalten eine reiche sexuelle Symbolik, die hier nicht weiter
gedeutet werden soll. [l]
Dies trifft jedenfalls dann zu, wenn die entsprechenden
Nachforschungen von Swales in diesem Punkt (vgl. Jensen 1984, 35)
zuverlässig sein sollten. [li]
Es gibt natürlich auch noch andere Motivierungen für das Pseudonym
«Anna O.»; so sind etwa die Anfangsbuchstaben (A und O, Alpha
und Omega, Anfang und Ende) nur um eine Stelle im Alphabet vorgerückt
im Vergleich zu den Initialen des richtigen Namens (B
& P), während Bertha das von ihr gewählte Pseudonym mit
ihren Initialen gestaltet, allerdings in vertauschter Reihenfolge. [lii]
«Frauenrecht» heißt auch das bereits erwähnte Schauspiel von «P.
Berthold» (1899), in dem ein «Ehrenmann», ein Rechtsanwalt, von
seiner eigenen Frau entlarvt wird. Der offiziell als Mann der
ehrbaren Gesellschaft auftretende Rechtsanwalt hat sich die Not
einer Frau zunutze gemacht, sich an ihr geschlechtlich vergnügt,
sie geschwängert und schließlich verlassen. Als seine Ehefrau dies
herausbekommt, wobei der Mann an seiner Entlarvung unfreiwillig
mitbeteiligt ist, beschließt die Frau, sich wegen der gemeinsamen
Kinder nicht von ihrem Mann zu trennen, aber nur unter einer
Bedingung bei ihm zu bleiben: Sie wird sich ihm künftig sexuell
verweigern. Es scheint, als habe Bertha – bewußt oder unbewußt
– irgendwann in ihrem Leben einen ganz ähnlichen Entschluß gefaßt,
um ihr «Frauenrecht» (oder ihren Wunsch nach Rache?)
durchzusetzen. [liii]
Die erste deutsche Übersetzung von «A Vindication of the Rights of
Woman» (London 1792) war 1793/94 in zwei Bänden erschienen; sie
wird – nach dem Verlagsort – als «Schnepfenthaler»-Ausgabe
bezeichnet. [liv]
Einen Druck nach einem Bild dieses Malers, betitelt «Nachtmahr»,
soll Freud von Jones als Geschenk bekommen haben (diese Überlieferung
ist jedoch nicht gesichert). Das fragliche Bild, das in Freuds
Wartezimmer hing, zeigt eine auf dem Diwan kopfüber liegende Frau
in erschöpftem Zustand, so, als habe sie ein Delir oder
eine Ekstase hinter sich. Aus dem Vorhang lugen
affen-katzen-eselartige Wesen, die die Frau mit toten Augen
anstarren. [lv]
Nachdem Mary ihre unglückselige Liebe zum verheirateten Füßli überwunden
hatte, lernte sie den Amerikaner Gilbert Imlay kennen, von dem sie
ein Kind (Fanny) bekam. Der unglücklichen Beziehung zu Gilbert
versuchte Mary durch zwei Selbstmordversuche zu entkommen. In
ihrem Unglück begegnete sie dann William Godwin (1756-1836), der sie in ein und demselben Jahr (1797) heiratete und durch Tod
bei der Geburt der zweiten Tochter (wie die Mutter Mary genannt)
wieder verlor. Diese zweite Tochter, Mary Wollstonecraft Shelley,
gehört in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kreis um
Shelley und Byron. Als Schriftstellerin ist sie von der deutschen
Schauerromantik beeinflußt; sie wird die Verfasserin des
Ur-Frankenstein (dazumal noch ein wissenshungriger Student der
Naturwissenschaften, dessen Name
im Laufe der Zeit auf das Wesen übergehen sollte, das er aus
Einzelteilen und unter Zuhilfenahme elektromagnetischer Ströme
(Lebenselixier) künstlich zusammengesetzt hatte). [lvi]
Bei Mary Wollstonecraft findet sich der gesamte Katalog der «Eigenschaften»
des «Weibes», den später auch Freud beschreiben wird – nur
versteht Mary diese «Eigenschaften» anders als der Schöpfer der
Psychoanalyse, nämlich nicht als biologische Notwendigkeiten,
sondern als zwangsläufige Folgen des unterdrückten Status der
Frau, weshalb es diese Untugenden solange geben werde, wie die
Herrschaft des Mannes über die Frau anhalte. In diesem Zusammenhang
ist eine Bemerkung von Mary Wollstonecraft
über die Frau als Mutter besonders interessant: «Im
allgemeinen ist man der Ansicht, daß die Kinder in den ersten Jahren der Frau anvertraut werden
sollen. Nach meinen Beobachtungen sind Frauen wegen ihrer
Reizbarkeit gerade für diese Aufgabe sehr wenig geeignet, da sie
durch ihr ungleiches Wesen den Charakter des Kindes verderben können»
(1899, 72). [lvii]
Bertha Pappenheim bleibt aber bei allem Kampf für gleiche Rechte
beider Geschlechter eine durch und durch konservative Frau. Bis
zuletzt tritt sie für ein striktes Abtreibungsverbot ein. Und den
Soldaten des 1. Weltkrieges schickt sie ein Flugblatt an die Front
nach, in dem sie mahnt, der Geschlechtsverkehr sei nur in der Ehe
und nur zum Zwecke der Fortpflanzung zulässig (vgl. Jensen 1934,
118). [lviii]
Derselbe Text enthält in Hinsicht auf die ungleiche Beziehung
zwischen Mann und Frau die folgende Aussage: «Die ungleiche
Bewertung zweier Kategorien von Geschöpfen, die absolut aufeinander
angewiesen sind, ist nur dadurch erklärlich, daß die männlichen
Gesetzgeber und -ausleger [ein letzter Seitenhieb auf die orthodox-jüdische
Religion, denn der Satz steht in der Schrift «Das jüdische Mädchen»]
sich eine Vorzugsstellung zugebilligt hatten, die im Laufe der
Zeiten zu einer Weltanschauung wurde, die allerdings bei starker
weiblicher Solidarität – die es nicht gibt – durch einen amüsanten
Frauenstreik hätte über den Haufen geworfen und ad absurdum geführt
wurden können» (1934, 118). Seit den Zeiten der Lysistrata gibt es
diesbezüglich zu viele Streikbrecherinnen. Bertha entschied sich
dennoch auf ihre Weise, ganz individuell, zum Streik. Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags,
der erstmals unter dem Titel Prostitutionswünsche
und Rettungsphantasien – auf der Flucht vor dem Vater. Skizzen aus
dem Leben einer Frau („Anna O.“ / „P. Berthold“ / Bertha
Pappenheim)
erschienen ist in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 44,
1990, 788-825. |