GIGANTOMACHIE

Hitlers pseudoreligiöse Erlösungsvision

von Bernd Nitzschke

Der Nationalsozialismus ist mehr noch als Religion.

Er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung.

Adolf Hitler

I

In Hitlers Mein Kampf (1925/27) ist kein Gedanke originell. Lediglich die Komposition vorgefundener ideologischer Bruchstücke zu einem Ganzen, zu einer »Weltanschauung«, die Hitler, wie er sich ausdrückt, mit »granitener« Überzeugung vertritt, ist originär. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, Hitlers »Weltanschauung« im Zusammenhang mit Diskursen zu erörtern, die vor und neben dieser Doktrin existier(t)en. Dazu gehören rassenhygienische, rassenbiologische, kolonialistische, imperialistische und (pseudo-)religiöse Argumente.

II

In Hitlers »Weltanschauung« nimmt der Begriff »Rasse« einen zentralen Platz ein. Dieser Begriff ist einem wissenschaftlichen Diskurs entnommen. In der Biologie werden »Rassen« als Folge der natürlichen Selektion verstanden. Die als genetisch bedingt angesehenen körperlichen, womöglich geistigen und psychischen Fähigkeiten oder Eigenschaften, die bei der Untergruppe einer Art in besonderer Ausprägung auftreten, nachdem sich diese Untergruppe an spezifische und über lange Zeiträume hinweg konstante Umweltbedingungen angepaßt hat, kennzeichnen eine »Rasse«. Sinnvoll ist diese Begriffsverwendung aber nur dann, wenn die Variation der spezifischen Merkmale innerhalb einer als »Rasse« definierten Gruppe tatsächlich erheblich geringer ist als die Variation der entsprechenden Merkmale bei Individuen der davon abgegrenzten »Rassen«.

Bezogen auf Tiere ist der Begriff der Rasse mit dem Konzept der Zucht verbunden. Durch bewußte Auswahl besonderer Erbträger, das heißt mit Hilfe der Ersetzung der natürlichen Selektion durch geplante Selektion, züchtet man Tierrassen. Auf den Menschen übertragen entspricht diesem Denken die Eugenik, die als Versuch der wissenschaftlichen Selbststeuerung der menschlichen Evolution verstanden wird. Das Bestreben, »unerwünschte Gene zu beseitigen bzw. erwünschte zu erhalten und zu vermehren« (Weingart et al. 1992, 637), umschreibt das Anliegen der positiven bzw. das der negativen Eugenik.

Galton, ein Vertreter von Darwins Prinzip der natürlichen Auslese, führte 1883 den Begriff »Eugenik« ein. Er schlug vor, die Elite (Großbritanniens) durch staatliche Unterstützung der Heirat hochbegabter und körperlich gesunder Erbträger zu fördern (vgl. Weingart et al. 1992, 37). Das von Hitlers »Rassen«-Ideologie getragene Projekt der Menschenzucht ist im Kontext derartiger Überlegungen zu diskutieren. Hitlers Projekt der »Höherzüchtung« einer konstruierten, von ihm und anderen als »Arier« bezeichneten »Rassen-Elite« sollte der (biologischen) Verbesserung der Menschheit dienen.

Das Konzept der Auslese der Gene wird im Falle der »Rassen«-Ideologie durch das Konzept der Auslese der Genträger radikalisiert. Hitler beschrieb seine diesbezüglichen Ambitionen in seiner pseudoreligiösen Bekenntnisschrift Mein Kampf (vgl. dazu auch: Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler, 1989): »Der völkischen Weltanschauung muß es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung vorn Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst, ein Zeitalter, in dem der eine (der von der Fortpflanzung Ausgeschlossene - B. N.) erkennend schweigend verzichtet, der andere (der zur Fortpflanzung Auserwählte - B. N.) freudig opfert und gibt« (1925/27, 449).

Galtons Vorschlag, bestimmten Menschengruppen den Zugang zur Fortpflanzung zu erleichtern, und Hitlers Radikalisierung dieses Programms, die darin bestand, neue Menschen-»Rassen« (»Arier«, »Juden«) zu konstruieren, beziehungsweise sein Vorsatz, bestimmte Menschengruppen von der Fortpflanzung auszuschließen und andere Gruppen aufgrund »minderwertiger« Gene als potentielle Sklaven-Völker zu betrachten, kennzeichnen eine Geisteshaltung, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet war.

Die Zielsetzung, die Menschheit mit Hilfe wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher (rassistischer) Programme vor dem (biologischen) »Untergang« zu bewahren, muß wiederum im Zusammenhang mit den Folgen der Industrialisierung verstanden werden. Die im Zuge der Industrialisierung eingetretene Freigabe der Ehe an alle folgte ökonomischen Zwängen: die Industrie benötigte Arbeitskräfte. In den vorindustriellen Gesellschaften Europas hatte es Fortpflanzungsbeschränkungen gegeben, die in bestimmten Heiratsvorschriften ihren Ausdruck fanden. Sie wurden allerdings nicht wissenschaftlich (genetisch) oder pseudowissenschaftlich (rassistisch), vielmehr ständisch-religiös begründet. Erst in der zweiten Hälfte des t9. Jahrhunderts wurden zum Beispiel in den deutschen Ländern die letzten der bis dahin gültigen Heiratsverbote (für sozial Unterprivilegierte) aufgehoben. Der Vorschlag neuer, nunmehr genetisch begründeter Fortpflanzungsbeschränkungen war eine Antwort auf die Angst der »Eliten« vor der in Folge der Industrialisierung eingetretenen »Bevölkerungsexplosion«.

III

Hitlers Versuch, in der Mitte Europas, wo sich seit Jahrhunderten die Völker gemischt hatten, »reine Rassen« zu konstruieren, war von Anfang an das Wahn-Projekt eines Inzucht-Fanatikers. Die Rassenbiologie, deren Argumente Hitler zu mechanistischer Flachheit vulgarisierte, galt hingegen als Wissenschaft. Im Verlauf dieses Diskurses wurden historisch-kulturell bedingte Unterschiede als genetisch bedingte Unterschiede gedeutet. Die Genetik, vor allem aber der »wissenschaftliche« und der politische Rassismus operierten dabei mit Wertsetzungen, die nicht aus den biologischen Tatsachen entsprangen, vielmehr kulturellen Deutungsmustern entstammten. Unter Berufung auf die Darwinsche Evolutionstheorie konnten so im Reiche der Natur »niedere« und »höhere« Entwicklungsstufen voneinander abgegrenzt werden. Eine »niedere« Entwicklungsstufe konnte dann - scheinbar »wissenschaftlich« gerechtfertigt - als minderwertig, die »höhere« ebenso umstandslos als höherwertig interpretiert werden.

Diesem Vorgehen entsprach die Zuordnung einzelner Völker zu »niederen« und »höheren« Rassen und/oder kulturellen Entwicklungsstufen. Die hieraus abgeleitete Einschätzung der eigenen Kultur als »höherwertig« und der fremden Kultur als »minderwertig« knüpfte allerdings an Vorstellungen an, die bereits vor dem Aufkommen des Darwinismus vorhanden waren. Ohne eine entsprechende ideologische Rückversicherung hinsichtlich der eigenen kulturellen Höherwertigkeit wäre das gute Gewissen denn auch nicht zu haben gewesen, das die Entdeckung, Eroberung und Vernichtung der fremden Kulturen außerhalb Europas von Anfang an begleitet hat. Dieser vom Geist der »Zivilisation« inspirierten und gerechtfertigten Unterwerfung sogenannter barbarischer Völker fielen in Mittelamerika 70 Millionen - das entspricht etwa 90 Prozent der Ureinwohner - zum Opfer (vgl. Todorov 1982, 101).

Wie später Hitler seine Ausrottungspolitik, so rechtfertigten schon die Kolonisatoren ihren Feldzug gegen die Indianer mit dem Hinweis, sie selbst verkörperten eine höhere Stufe der Menschheit. Lediglich die Argumente waren verschieden: Hier entsprangen sie einer religiösen, dort einer rassistischen Ideologie. Im Kern stimmten beide Argumentationsmuster jedoch wieder überein: In beiden Fällen wurde die Überlegenheit der eigenen gegenüber der fremden Gruppe proklamiert, die der »natürlichen« (oder gottgewollten) Weltordnung entsprechen sollte. Geborene Herren sind demnach von »Natur« aus dazu bestimmt, geborene Sklaven zu beherrschen.

Schon Sepúlveda, ein Zeitgenosse der Konquista, beschreibt den vermeintlich »natürlichen« Zustand, den später auch Hitler für seine Weltordnung reklamierte. Nicht die Gleichheit, vielmehr die Herrschaft des Stärkeren über den Schwächeren bezeichnet diesen scheinbar gottgewollt-natürlichen Zustand. Demnach leben die Menschen in hierarchischen Gemeinschaften, denen ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen den Völkern (und den »höherwertigen« und »minderwertigen« Individuen innerhalb der einzelnen Völker) entspricht. Wie Aristoteles so kann auch Sepúlveda den Herrn vom Sklaven, den Menschen vorn Tier, die Seele vom Körper abgrenzen. Sepúlveda zufolge besteht die natürliche Ordnung darin, daß »das Vollkommene (...) über das Unvollkommene, das Starke über das Schwache, die Vortrefflichkeit der Tugend über ihr Gegenteil herrschen« (zit. n. Todorov 1982, 185). Daraus ergibt sich das Verhältnis, das die Spanier zu den Indianern herstellten. Sepúlveda charakterisiert diese Beziehung folgendermaßen: »An Klugheit und Scharfsinn, Tugendhaftigkeit und Menschlichkeit sind die Spanier diesen Barbaren so weitaus überlegen wie die Erwachsenen den Kindern und die Männer den Frauen; zwischen ihnen besteht ein ebenso großer Unterschied wie zwischen wilden und grausamen Menschen und solchen von großer Sanftmut, zwischen vollkommen maßlosen und solchen, die maßvoll und enthaltsam sind, und fast möchte ich sagen, wie zwischen Affen und Menschen« (ibd.).

Die Grenze zwischen den »Höherwertigen« und den »Minderwertigen« liegt also sehr nahe bei jener Grenze, die den Menschen vom Tier trennt. Schon bei Sepúlveda ist deshalb der Eroberer derjenige, der die Herabstufung des kulturell-ethnisch Anderen zum Tier vornehmen darf.

Daß der Mensch vom Affen abstammt - das ist auch eine populäre Formulierung der Darwinschen Theorie. Die Konsequenz, die aus dieser Theorie gezogen wurde, bestand jedoch nicht darin, die Gleichwertigkeit der Lebewesen, vielmehr darin, die Höherwertigkeit der als Menschen bezeichneten Lebewesen zu proklamieren. Herrenmenschen nahmen zu allen Zeiten das Recht in Anspruch, zu bestimmen, wer noch und wer nicht mehr als »Mensch« zu gelte hatte. Auch in Hitlers Mein Kampf ist die Gleichsetzung bestimmter Menschengruppen mit Tieren ein Leitmotiv. So werden Jude metaphorisch als Bazillen, Maden, Parasiten, Würmer, Ratten oder Schlangen bezeichnet. Die »Mission«, für die Hitler kämpft, kann deshalb als ein Versuch verstanden werden, die Schranke zwischen Mensch und Tier neu zu definieren, und sie mit Hilfe der Methoden eines Kammerjägers abzusichern, der den Auftrag hat, Ungeziefer zu vernichten.

Bei näherer Betrachtung erweist sich der politische Rassismus Hitlers demnach als pseudowissenschaftliche Fassung eines in früheren Jahrhunderten mit Hilfe religiöser Ideologien gerechtfertigte Programms der Welteroberung und Kulturvernichtung, bei der Völkermord immer schon billigend in Kauf genommen wurde.

IV

Die Konquista, die das neue Zeitalter und damit den Beginn einer tatsächlich universellen Menschheitsgeschichte einleitet, folg unmittelbar der Rekonquista - und beide Ereignisse sind verbunden mit der Verfolgung, Vernichtung und Vertreibung der Juden durch die Spanier. Kolumbus stellt die Verkettung dieser historische Ereignisse im Bordbuch dar, das er anläßlich seiner ersten Fahrt nach Amerika führte: »Im gegenwärtigen Jahr 1492, nachdem Eure Hoheiten der Kriege gegen die Mauren (...) ein Ende bereitet hatten (...), in jenem gleichen Monat also erwogen Eure Hoheiten (...) ernstlich den Gedanken, mich, Christoph Kolumbus, nach den (...) Gegenden Indiens zu senden (...). Nach Vertreibung aller Hebräer aus Ihren Königreichen und Herrschaften befahlen mir Eure Hoheiten im nämlichen Monat Januar, mit einer hinlänglich starken Armada nach den genannten Gestaden Indiens in See zu stechen« (zit. n. Todorov 1982, 65).

Es mag Zufall sein oder nicht: Das Kolumbianische Zeitalte beginnt mit dem Sieg der Christen über die Muslime und nach der Vertreibung der Juden aus Spanien. Die religiöse Toleranz, die noch unter den Muslimen galt, gilt im christlichen Spanien nun nicht mehr. Zwei der drei konkurrierenden monotheistischen Religionen, die doch eine gemeinsame Wurzel haben, sind aus Spanien vertrieben worden. Die Rechtfertigung für die beginnende Welteroberung liefert nunmehr die christliche Botschaft. In ihrem Kern behauptet diese Botschaft allerdings die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Es ist dies aber eine totalitäre Gleichheit, die alle (religiösen) Unterschiede abschaffen will: Denn gleich sind die Menschen nur in ihrem Recht, getauft zu werden, nicht aber in ihrem Recht, unterschiedlichen Religionen anzugehören. One world ist demnach ein religiöses Phantasma, dessen säkulare Realität die kapitalistisch-industrielle Gesellschaft verkörpert, die von sich behauptet, den Fortschritt zu immer mehr Freiheit zu garantieren und Gerechtigkeit für alle zu sichern, ja, die alleinige Zukunft der Menschheit zu repräsentieren.

V

Auch in Hitlers »Weltanschauung« existiert nur ein Gott. Dieser offenbart sich in der »Natur«, das heißt in einer vulgärdarwinistisch gedeuteten Natur, in der die Unterschiede zwischen Starken und Schwachen gottgewollt-natürlich festgelegt sind. Was auf den ersten Blick wie der endgültige Abschied vom religiösen Zeitalter aussieht, entpuppt sich damit auf den zweiten Blick als politische Ideologie, die den Absolutheitsanspruch alter Religionen aufgreift, um ihn rassistisch neu zu interpretieren und menschenverachtend zu exekutieren.

»Eine Welt einzureißen und eine neue an ihrer Stelle zu erbauen«, so lautet Hitlers Programm (1925/27, 651). Die neue Welt, die er errichten will, hat allerdings nichts mit dem Programm der Gleichheit aller Menschen zu tun. lm Gegenteil: Die Behauptung, alle Menschen seien »gleich«, wird von Hitler ausdrücklich als eine originär »jüdische« Lehre ausgemacht - und als solche verworfen. Bei Hitler heißt es, »der Jude« vertrete die »Theorie von der Gleichheit der Menschen«, die er dadurch unter Beweis stelle, daß er auch »Halbaffen« (gemeint sind »Neger«) zu »Advokaten« dressiere, eine emanzipatorische Einstellung, die Hitler als »verbrecherischen Wahnwitz« bezeichnet (1925/27, 478f).

Bei all dem ist Hitler jedoch kein stupider Reaktionär, der bloß die Welt von gestern restaurieren will. Er will keine »mechanische Restauration der Vergangenheit« (1925/27, 598). Hitlers Konzept einer autoritär durchgesetzten Modernisierung orientiert sich zunächst einmal an der Geschichte der Kolonisation, das heißt an der Unterwerfung, Ausplünderung, Versklavung und - wenn nötig - Vernichtung anderer Völker. Die Engländer sind sein Vorbild, »hat doch kein Volk mit größerer Brutalität seine wirtschaftlichen Eroberungen mit dem Schwerte besser vorbereitet und später rücksichtslos verteidigt, als das englische« (1925/27, 158). »Was den Engländern gelang, mußte auch uns gelingen« (1925/27, 159). Vorbild des von Hitler imaginierten Reiches ist - trotz des Germanen-Brimboriums, das anläßlich der Reichsparteitage die Kulissen bestimmt - demnach keineswegs das Mittelalter. Hinter den Kulissen etabliert sich vielmehr ein Staat, der sich an die Stelle setzt, die einstmals der jüdisch-christliche Gott einnahm. Hitler selbst vergleicht die von ihm vertretene »Weltanschauung« in ihrer Unduldsamkeit und in ihrem Ausschließlichkeitsanspruch mit dem Herrschaftsanspruch der jüdischen und christlichen Religion (vgl. 1925/27, 506f). Franz Blei bemerkt in diesem Zusammenhang, daß sich der »Antisemitismus der Nationalsozialisten« gegen eine Religion gewandt habe, deren »Grundbegriffe eines nationalen Gottes und des von ihm auserwählten Volkes« (1940, 277) die Nationalsozialisten in pervertierter Form - als »Zerrbild einer Religion« (Blei 1940, 276) - schließlich wieder übernommen hätten.

Hitler bewundert die Moderne - vor allem in Gestalt der USA. Dort ist der Fortschritt so effizient (und rücksichtslos) verwirklicht worden, wie es Hitlers Ideal entspricht. An den USA imponiert ihm die konsequente Ausrottung der Ureinwohner, die Sklavenarbeit, schließlich die Rassenschranke zwischen Weißen und Schwarzen, die der »Vernegerung« Einhalt gebietet, die nach Hitlers Ansicht in Frankreich, dem »europa-afrikanischen Mulattenstaat« (1925/27, 730), besonders weit vorangeschritten ist. Er lobt demgegenüber die US-Einwanderungsgesetze, durch die bestimmte »Rassen« privilegiert und andere benachteiligt, wenn nicht ganz aussortiert wurden.

VI

Hatte das Böse im Verlauf der christlich-abendländischen Kultur alle möglichen Gestalten, darunter auch die jüdische, angenommen, so verdichtet sich in der Vorstellung Hitlers das Böse gänzlich im Bild »des« Juden. »Der« Jude ist »in seiner Gemeinheit so riesengroß, daß sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden« angenommen hat, schreibt Hitler in Mein Kampf (1925/27, 355). »Der« Jude wird so als »Feind der Menschheit« (1925/27, 724) bestimmt und als Un-Mensch der Menschheit gegenübergestellt.

»Der« Jude, der »Weltjude«: Die Juden aller Länder und unterschiedlicher Kulturen werden zu einer Einheit, zu einer »Rasse« verdichtet und bei einem einzigen Namen gerufen. Dieser Name klingt wie eine Verhöhnung des einzigen Gottes, dessen Volk von Hitler zu einer einzigartigen Einheit zusammengepreßt wird. In der von Hitler konstruierten »jüdischen Rasse« existieren keine Differenzen. So kann das Unvereinbare, ja das Gegensätzliche als neue »jüdische« Einheit (»Rasse«) gefaßt werden: Marxistische Revolutionäre, atheistische Aufklärer, orthodoxe Rabbiner, Lumpenproletarier und Bankiers - sie alle sind Repräsentanten einer Kategorie, Vertreter des »Weltjudentums«. Auf diese Weise wird »der« Jude als der Mit-sich-und-nur-mit-sich-selbst-Identische gefaßt und als der vollkommen Fremde, als der gänzlich Andersartige dem Rest der Menschheit gegenübergestellt. Deshalb können auch alle Juden beim gleichen Namen gerufen werden: Hitler läßt in die Pässe der Juden einheitliche männliche und weibliche Vornamen eintragen.

Als entwerteter und vereinheitlichter Un-Mensch wird »der« Jude zum Gegenüber des Menschen (»Ariers«). Dieser muß allerdings erst noch (oder wieder) werden, was »der« Jude nach Auffassung Hitlers immer geblieben ist: »reinrassig«. Anders ausgedrückt: »Der« Jude verkörpert Hitlers negatives Ideal, während im »Arier« alles wiederkehrt, was den Juden geraubt wird: Ein Volk, ein Reich, ein Führer - das ist die »arische« Reduktion einer alten religiösen Formel, die die Einheit, die Identität beschwört.

Von dem Schriftsteller Gobineau stammt der - wissenschaftlich unhaltbare - Satz: »Die Mischungen führen zu Ausartungen der Rassen.« Das ist absurd. Denn abgesehen davon, daß es überhaupt keine reinblütigen Völker gibt, kann man das »Rassisch«-Gemischte schon deshalb nicht dem Degenerierten gleichsetzen, weil die größten politischen und kulturellen Erfolge gerade solchen Nationen glückten, die sich durch »Rassenmischung« auszeichneten. Im Anschluß an Gobineau entnahm man der Sprachwissenschaft dann den Begriff »arisch« und formte einen entsprechenden Menschentypus, den »Arier«. Die »Rasseforscher«, die sich an dieser Veranstaltung beteiligten, hoben das »Arische« hoch und immer noch höher.

VII

Hitler versteht sich als Verkünder und Vollstrecker einer »Mission«, durch die die Menschheit vor dem (biologischen) »Untergang« bewahrt werden sollte, der aufgrund einer allgemeinen »Rassenmischung« eintreten würde, falls sich niemand finde, der diesen Prozeß der Nivellierung aufhalte. Um die Gefahr der biologischen Degeneration des »arischen Volkskörpers« abzuwenden, sei, so schreibt Hitler, »die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande« wieder herauszuheben. Es geht also - zunächst - nur um die Einführung neuer Ehebeschränkungen. Nur so ließen sich, wie Hitler schreibt, wieder »Ebenbilder des Herrn« zeugen und »Mißgeburten zwischen Mensch und Affe« verhindern (1925/27, 445).

Was nun aber wirft Hitler in diesem Zusammenhang »den« Juden als eigentlich todeswürdige »Sünde« vor? Nach Hitlers Interpretation dient die »jüdische« Behauptung, alle Menschen seien gleich, einem verborgenen Zweck: Damit würde die allgemeine Rassenmischung propagiert und gefördert, von der sich die Juden mit Hilfe ihrer nach rabbinischem Recht konstruierten Heiratsbeschränkungen jedoch selbst stets ausgenommen hätten, um »rassisch rein« zu bleiben.

Das Endziel der geheimen und mit allen (modernen) Mitteln (der liberalen Presse, des Parlamentarismus, des Kapitalismus, des Marxismus usw.) betriebenen Verschwörung erkennt Hitler in der Verführung der »arischen« Völker zur »Rassenschande« (zur Gleichheit). Sei die allgemeine Rassenmischung erst einmal hergestellt, hätten die Juden ihr Ziel, die Weltherrschaft, die Herrschaft einer »reinen« jüdischen Rasse über den Rest der biologisch degenerierten Menschheit erreicht. Es ist also die »Sünde wider den Bestand der weißen Rasse«, die »Erbsünde der Menschheit« (1925/27, 705), für die Hitler die Juden verantwortlich macht und bestrafen will.

Auch diese Wortwahl zeigt an, daß Hitler heilige Texte variiert, wenn er gegen die Juden geifert. Auge um Auge, Volk um Volk: Hitlers »Weltanschauung« ist so konsequent wie jedes paranoide System. Hitler erkennt sich als Werkzeug der Vorsehung. Er wird zum Vollstrecker des Willens der Natur, zum himmlischen Rächer, zum »Messias«, zum Erlöser, ein Führer, der die Menschheit vom Irrweg zurückholen will, ein selbsternannter Märtyrer, der bereit ist, sich im Kampf gegen das Böse zu opfern, das er in den »jüdischen« Genen lokalisiert. Der Kampfeswille wird von totalitärer Inbrunst getragen. Hitler ist ein Glaubens-Fanatiker. Er ist das Sprachrohr einer höheren Macht. Er ist bereit, »im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn« (1925/27, 70).

Besessen wie jeder Prophet, der die »sündige« Welt verdammt und eine künftig »heile« Welt verkündet, für deren Aufbau er mit Feuer und Schwert streitet, erkennt Hitler eine »heilige Verpflichtung« (1925/27, 630). Er erklärt den heiligen Krieg. Er verkündet ein Gottesgericht gegen jene, die wider den Geist der Rassentrennung, gegen den göttlichen Willen zur Reinerhaltung der Rassen sündigen. Im Auftrag Gottes, als Diener des Herrn, bekämpft er die Juden, die gegen die heilige Weltordnung verstoßen haben, als sie die Gleichheit aller Menschen propagierten. Hitler will die Wiederherstellung »reiner Rassen«, in denen sich der göttliche Wille offenbare. Also fordert er, »daß man nicht nur immer äußerlich von Gottes Willen redet, sondern auch tatsächlich Gottes Willen erfülle und Gottes Werk nicht schänden lasse. Denn Gottes Wille gab den Menschen einst ihre Gestalt, ihr Wesen und ihre Fähigkeiten. Wer sein Werk zerstört, sagt damit der Schöpfung des Herrn, dem göttlichen Wollen, den Kampf an« (ibd. ).

VIII

Die Hitler-Biographen sind sich nicht einig, aus welchen individuellen Gründen Hitler zum überzeugten Antisemiten wurde, beziehungsweise zu welchem Zeitpunkt er seine paranoide Weltsicht mit diesem spezifischen Inhalt aufgefüllt hat. Hitler selbst schreibt in Mein Kampf, es sei für ihn »schwer, wenn nicht unmöglich, zu sagen, wann mir zum ersten Male das Wort >Jude< Anlaß zu besonderen Gedanken gab« (1925/27, 55). Und über die Einstellung seines Vaters sagt er, dieser habe den Antisemitismus als »kulturelle Rückständigkeit« eingeschätzt (ibd.). Noch als Schüler habe er ähnlich wie der Vater gedacht, ja er habe die Juden in Linz (wo Adolf Hitler zur Schule ging) »sogar für Deutsche« gehalten. Daß sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit »verfolgt worden waren, wie ich glaubte, ließ manchmal meine Abneigung gegenüber ungünstigen Äußerungen über sie fast zum Abscheu werden« (1925/27, 55). Irgendwann entdeckt Hitler dann aber, daß die Juden nicht wegen ihrer Religion, sondern wegen ihrer »Rasse« zu hassen seien.

»Aus der Zeit vor 1919«, also vor dem Zusammenbruch des Bismarckschen Reiches, ist »keine einzige antijüdische Äußerung Hitlers überliefert« (Jäckel 1992, 68). Ende 1918 war Hitler in einen Gasangriff der Engländer geraten und infolgedessen vorübergehend erblindet. Es gibt auch Vermutungen, es habe sich dabei um eine hysterische Erblindung gehandelt. Im Lazarett erfährt Hitler von der Niederlage des Deutschen Reiches und von der Revolution. Zum erstenmal seit dem Krebstod der Mutter im Jahr 1907, die von einem jüdischen Arzt versorgt worden war, dem Hitler noch ein Jahr nach dem Tod der Mutter eine handgemalte Glückwunschkarte mit der Bemerkung »Die herzlichsten Neujahrswünsche Ihr stets dankbarer Adolf Hitler« (zit. n. Binion 1978, 37) geschickt hatte, weint Hitler wieder (vgl. 1925/27, 223). Der kollektive und der persönliche Zusammenbruch verschmelzen nun miteinander. Der weinende Blinde wird im Lazarett zum Seher. Jetzt erkennt er die Schuldigen an der Niederlage Deutschlands: die Führer der - vermeintlich jüdisch gesteuerten - Novemberrevolution als Teil einer internationalen Verschwörung gegen die »arische Rasse«. Von nun an geht es ihm um die Wiederherstellung Deutschlands, das heißt: um die Wiederherstellung der »arischen Rasse«. Der Wunsch nach Rache bestimmt jetzt Hitlers Denken und Handeln: »In diesen Nächten wuchs mir der Haß, der Haß gegen die Urheber dieser Tat (...). Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden« (1925/27, 225).

Hitlers politisches Ziel, die Judenfeindschaft zur Grundlage allen weiteren Handelns zu machen, stößt zunächst auf große Schwierigkeiten. Die Mehrheit der Deutschen steht seinem Programm der Welterlösung verständnislos gegenüber. Es gibt keine jüdischen Gettos in Deutschland; viele Juden sind assimiliert; andere bekennen sich gar zu einer deutschnationalen Gesinnung. Außerdem ist der Judenhaß in Deutschland weniger verbreitet als in anderen europäischen Ländern. Hitler schreibt: »Im Jahre 1918 konnte von einem planmäßigen Antisemitismus gar keine Rede sein. Noch erinnere ich mich der Schwierigkeiten, auf die man stieß, sowie man nur das Wort Jude in den Mund nahm. Man wurde entweder dumm angeglotzt oder man erlebte heftigsten Widerstand. Unsere ersten Versuche, der Öffentlichkeit den wahren Feind zu zeigen, schienen damals fast aussichtslos zu sein, und nur ganz langsam begannen sich die Dinge zum Besseren zu wenden« (1925/27, 628). Hitler setzt deshalb nun alles daran, den Antisemitismus kleiner radikaler Gruppen in die breitere Bevölkerung zu tragen, »die Judenfrage«, wie er schreibt, »zum treibenden Motiv einer großen Volksbewegung umzuwandeln« (ibd.).

IX

Der Antisemitismus Hitlers ist von Beginn an mit antimarxistischen und antiliberalen Einstellungen verbunden. Zum Antimarxisten war Hitler nach seiner eigenen Darstellung bereits während der Boheme-Jahre geworden, die er als verkanntes Künstlergenie in Wien - in einem »Rassenbabylon« (1925/27,138) - verbracht hatte.

Die - jüdischen - Marxisten und Kapitalisten vertreten, laut Hitler, den Internationalismus. Das ist der gemeinsame Nenner, auf den sie, trotz aller Gegensätzlichkeit, zu bringen sind. Die Juden, so Hitler weiter, wollen den Fortschritt zur Gleichheit. Als Repräsentanten einer Moderne, die alles »gleich« machen will, werden sie deshalb von Hitler bekämpft, der eine andere Moderne will und die Juden durchschaut: Während »der« (marxistische oder liberale) Jude »von >Aufklärung<, >Fortschritt<, >Freiheit<, >Menschentum< usw. überzufließen scheint, übt er selber strengste Abschließung seiner Rasse« (1925/27, 346). Marxismus, Liberalismus, Demokratie - alles Lug und Trug.

Jenseits des Klassenkampfes entdeckt Hitler den Rassenkampf: »Daher ist auch der internationale Marxismus selbst nur die durch den Juden Karl Marx vorgenommene Übertragung einer tatsächlich schon längst vorhandenen weltanschauungsmäßigen Einstellung und Auffassung in der Form eines bestimmten politischen Glaubensbekenntnisses. Ohne den Untergrund einer derartigen, allgemein bereits vorhandenen Vergiftung wäre der staunenswerte politische Erfolg dieser Lehre auch niemals möglich gewesen. Karl Marx war wirklich nur der eine unter den Millionen, der in dem Sumpfe einer langsam verkommenden Welt mit dem sicheren Blick des Propheten die wesentlichsten Giftstoffe erkannte, sie herausgriff, um sie, einem Schwarzkünstler gleich, in eine konzentrierte Lösung zur schnelleren Vernichtung des unabhängigen Daseins freier Nationen auf dieser Erde zu bringen. Dieses alles aber im Dienste seiner Rasse« (1925/27, 420).

Hitler setzt dem (in seinen Augen: jüdischen) Internationalismus ein rassistisch-völkisch-nationalistisches Welterlösungsprogramm entgegen. Dabei sind »Rassen, Völker und Nationen« für Hitler »austauschbare Begriffe« (Binion 1978, 122). Jetzt beginnt er seinen Kampf »um Sein oder Nichtsein« der »arischen« Rasse, in dem er - Hitler meint dies zunächst nur metaphorisch - »Giftgas mit Giftgas« bekämpfen will (1925/27, 46). Es geht ihm darum, die »Ausscheidung des marxistischen Giftes aus unserem Volkskörper« zu erreichen; darum, »dem Marxismus den Vernichtungskrieg anzusagen« (1925/27, 773). Die Metapher vom »Giftgas« wird allerdings schon dann sehr konkret, wenn Hitler darüber nachdenkt, wie Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg hätte verhindert werden können: »Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mußten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: Zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutscher das Leben gerettet« (1925/27, 772).

Am Horizont wird der Volksgerichtshof sichtbar, wenn Hitler schreibt, »daß einst ein deutscher Nationalgerichtshof etliche Zehntausend der organisierenden und damit verantwortlichen Verbrecher des Novemberverrats und alles dessen, was dazugehört, abzuurteilen und hinzurichten« habe (1925/27, 610f.). Aufgrund solcher und anderer Äußerungen in Hitlers Mein Kampf halte ich diese These, die systematische Ausrottung der Juden sei von Hitler nicht von Anfang an intendiert gewesen, für falsch. Ich meine vielmehr, daß im paranoiden Konzept der jüdisch-marxistisch-kapitalistischen Weltverschwörung bereits alles enthalten war, was Hitlers spätere Handlungen gegenüber den Juden erklärt. Hitlers »Weltanschauung« war mit der Niederschrift in Mein Kampf vollendet. Alles, was nachfolgte, war die schrittweise Umsetzung des »weltanschaulichen« Bekenntnisses in Taten. Diese orientierten sich an den jeweiligen politischen Möglichkeiten, die in Hinsicht auf die Ausrottung der Juden mit dem Krieg gegen die Sowjetunion unbegrenzt wurden.

Die letzten Ziele waren in Mein Kampf in Absätzen, in Halbsätzen oder gar nur zwischen den Zeilen formuliert. »Es ist dabei nicht nötig, daß jeder einzelne, der für diese Weltanschauung kämpft, vollen Einblick und genaue Kenntnis in die letzten Ideen und Gedankengänge der Führer der Bewegung erhält (...). Es wird auch der einzelne Soldat nicht in die Gedankengänge höherer Strategie eingeweiht« (1925/27, 508f.). Erst wenn »die Propaganda ein ganzes Volk mit einer Idee erfüllt hat, kann die Organisation mit einer Handvoll Menschen die Konsequenzen ziehen (... ). Je besser die Propaganda gearbeitet hat, um so kleiner kann die Organisation sein« (1925/27, 653), die dann den mörderischen Auftrag erfüllen wird, den die »Weltanschauung« verlangt. Hitler organisiert alle Zwischenschritte auf dem Weg zur Endlösung unter der Voraussetzung seiner »Weltanschauung« und unter Berücksichtigung der jeweiligen politischen Gesamtumstände, zu denen auch der jeweils erreichte Grad der Politisierung der Massen im Sinne des Nationalsozialismus gehört: »Man muß begreifen, daß es notwendigerweise eine Zeitlang dauern wird, bis ein Volk restlos die inneren Absichten einer Regierung erfaßt hat, da Erklärungen über die letzten Schlußziele nicht gegeben werden können, sondern nur entweder mit dem blinden Glauben der Masse oder der intuitiven Einsicht der geistig höherstehenden Führerschichten gerechnet werden kann« (1925/27, 717f).

Da aus »politischen Gründen« zunächst keine ausführlichen »Erläuterungen« der »letzten Schlußziele« gegeben werden können, die als solche in der »Weltanschauung« Hitlers jedoch bereits enthalten sind, mag es scheinen, als handle es sich bei den zu wählenden Zwischenschritten und Umwegen, die zur Endlösung führen sollen, um »bloße Experimente« (1925/27, 718). Nach der Machtergreifung Hitlers bestehen erste »Experimente« in der Entlassung der Juden aus dem Staatsdienst, im Boykott jüdischer Geschäfte, im Pogrom der »Reichskristallnacht«, mit denen überprüft wird, was angesichts der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit gerade noch (oder nicht mehr) durchzusetzen ist. Als Hitler bei der Liquidierung der psychisch Kranken auf Widerstand in der Öffentlichkeit stößt, gibt er den Befehl zur Einstellung dieser Mordaktion.

»So unverrückbar die Schlußziele und die leitenden Ideen sein müssen, so genial und psychologisch richtig muß das Werbeprogramm auf die Seele derjenigen eingestellt sein, ohne deren Hilfe die schönste Idee ewig nur Idee bleiben würde« (1925/27, 510). Um die Masse der Gläubigen auf das Endziel vorzubereiten, muß »von der Fibel des Kindes angefangen bis zur letzten Zeitung, jedes Theater und jedes Kino, jede Plakatsäule und jede freie Bretterwand in den Dienst dieser einzigen großen Mission gestellt werden« (1925/27, 715). Und diese »Mission« besteht in der Vernichtung der europäischen Juden.

X

Warum aber mußte Hitler die Juden bis zum letzten Glied auszurotten versuchen? Hitler selbst gibt eine erste Antwort, wenn er seinen Kampf gegen die seiner Ansicht nach jüdisch inspirierten Novemberrevolutionäre beschreibt: »Die Anwendung von Gewalt allein (...) kann niemals zur Vernichtung einer Idee und deren Verbreitung führen, außer in Form einer restlosen Ausrottung aber auch des letzten Trägers und der Zerstörung der letzten Überlieferung« (1925/27, 187 - Herv.: B. N.).

Es bedurfte zur geplanten restlosen Vernichtung der Juden aber noch eines zusätzlichen Arguments, nämlich der rassistischen Konstruktion. Demnach lag das auszurottende Übel nicht in den konkreten politischen Überzeugungen der von Hitler ausgemachten Gegner, vielmehr in den Genen der »jüdischen Rasse«, die auf Kosten der »arischen« Gene die Weltherrschaft anstrebten, die Hitler für sich selbst beziehungsweise für die »arischen« Gene beanspruchte. Mit Hilfe dieser Konstruktion konnte Hitler die logische Unvereinbarkeit aufheben, wonach die jüdisch-marxistischen Verschwörer und das »überstaatliche Weltfinanz-Judentum« (1925/27, 675) ein gemeinsames Ziel anstrebten: die jüdische Weltherrschaft.

Nachdem in dieser Weise politische und rassistische Argumente miteinander verknüpft und der Kampf gegen die Juden als Krieg im Namen des Schöpfers proklamiert worden waren, konnte es kein Pardon mehr geben: »Wenn aber Völker um ihre Existenz auf diesem Planeten kämpfen, mithin die Schicksalsfrage von Sein oder Nichtsein an sie herantritt, fallen alle Erwägungen von Humanität und Ästhetik in ein Nichts zusammen« (1925/27, 195). Mit anderen Worten: Ohne Hitlers »Rassen«-Theorie hätte es das Programm der totalen Vernichtung der als »Rasse« konstruierten Juden Europas nicht geben können.

Literatur

Binion, R.: ».. . daß ihr mich gefunden habt. « Hitler und die Deutschen: eine Psychohistorie. Stuttgart (Klett-Cotta) 1978. 

Blei, F.: Zeitgenössische Bildnisse. Amsterdam (Allert de Lange) 1940.

Heer, F.: Der Glaube des Adolf Hitler. Frankfurt a. M. /Berlin (Ullstein) 1989.

Hitler, A.: Mein Kampf. München (Eher) 1925/27 (zit. nach 107.-111. Auflage).

Jäckel, E.: Der Mord an den europäischen Juden und die Judenfeindschaft. In: Bohleber, W., Kafka, J. S. (Hg.): Antisemitismus. Bielefeld (Aisthesis) 1992, 65-69.

Todorov, T.: Die Eroberung Amerikas. Das Problem der Anderen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1982.

Weingart, P., Kroll, J., Bayertz, K.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992.

Dieser (hier leicht überarbeitete) Beitrag ist erstmals erschienen in: 

Der Pfahl – Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft, Band 9, 1995, S. 104-119.