Ilka Quindeau, und Volkmar Sigusch (Hg.): Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Franfurt a. M. / New York (Campus) 2005. 210 Seiten, €19,90.

Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Reprint der 1905 erschienenen Erstausgabe. Mit einem Nachwort von Reimut Reiche. Frankfurt a. M. (Fischer) 2005. 132 Seiten, € 34,90.
 

1995 – hundert Jahre Studien über Hysterie (1895). 2000 – hundert Jahre Traumdeutung (1900). 2005 – hundert Jahre Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Und 2006 – kam der hundertfünfzigste Geburtstag Sigmund Freuds noch hinzu. Da gab es also in der letzten Zeit reichlich Anlaß, Rückschau auf Freud und sein Werk zu halten. Das taten auch zehn Vertreter von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft im Februar 2005 bei einer Tagung in Frankfurt am Main, der „ersten gemeinsamen institutionellen Aktion seit Bestehen der beiden Disziplinen, jedenfalls in den deutschsprachigen Ländern“ (S. 7), wie Ilka Quindeau und Volkmar Sigusch im Vorwort des Bandes schreiben, der die gesammelten Vorträge enthält. Alle Beiträge haben die Drei Abhandlungen zum Ausgangspunkt, um sich dann mehr oder weniger weit davon zu entfernen. Das ergibt eine facettenreiche und spannende Lektüre, wobei gelegentlich auch gar zu ‚freie’ Assoziationen dargeboten werden.

Volkmar Sigusch beginnt mit einem Überblick der sexualwissenschaftlichen Literatur, die publiziert war, schon bevor Freud die Drei Abhandlungen veröffentlichte. So hatte Albert Moll 1897 darauf hingewiesen, daß es, wie Sigusch (S. 18) zitiert, „lange Zeit vor der Pubertät“ bei Kindern bereits „Zeichen einer Liebesleidenschaft“ gibt; und Wilhelm Stekel, den Sigusch nicht erwähnt, hatte noch früher, nämlich 1885, eine spontan erwachende infantile Sexualität beschrieben (vgl. Nitzschke 1992). Freud hingegen nahm zunächst an, das Erwachen sexueller Wünsche des Kindes sei eine Folge der Verführung durch Erwachsene, eine Annahme, die Laplanche (1988) mit der Konzeption der Allgemeinen Verführungstheorie Jahrzehnte später modifiziert wieder aufgenommen hat. Die Kindheit pries Freud „glücklich […], weil sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt“ (1900, S. 136). Diese Aussage ergänzte er dann in den Drei Abhandlungen so: „Es ist selbstverständlich, daß es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, daß solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann“ (1905, S. 91).

Fast „alle begrifflichen Bestandteile“, die Freud für seine Theorie benutzte, hätten schon vorgelegen, als er die Drei Abhandlungen zu schreiben begann, meint Sigusch (S. 29). Da fragt man sich aber, worin denn das Besondere des Beitrags bestanden haben mag, den Freud geliefert hat? Sigusch sieht Freuds Leistung in der Bereitschaft begründet, den spannungsreichen Gegensatz von biologischen Gesetzmäßigkeiten und individuellem Erleben nicht eingeebnet, ihn vielmehr mit Hilfe eines besonderen Zugangs zum Wunsch- und Traumleben, eben durch die psychoanalytische Methode, für die Erkenntnisgewinnung genutzt zu haben.

Im Erbe, das Freud antrat, sieht Peter Passett hingegen keinen Gewinn. Er beschreibt die Drei Abhandlungen als eine „wenig kohärente, stark nach neunzehntem Jahrhundert riechende, oft in befremdlicher Weise um Wissenschaftlichkeit ringende“ Schrift, um in einem großen Satz über dieselbe Schrift dann zu sagen, sie enthalte doch einige „Schätze“. Die könne man bergen, wenn man den Text „deutend zerlegte“ (S. 36). Danach meißelt der Autor seine eigenen Erkenntnisse in „zehn Thesen“. Das bringt numerische Klarheit, doch bei der nachfolgenden Schatzsuche – der Exegese der zehn Thesen – geht diese Klarheit in dem Maße wieder verloren, in dem die Sprache unter der Last der Metaphern zusammenbricht. Und dann kommt zustande, „was man in Anlehnung an einen Begriff aus der Physik als eine psychoanalytische ‚Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation’ zwischen dem Primär- und dem Sekundärvorgang bezeichnen könnte“, womit der Autor aber nicht seinen Text, vielmehr „das unumgängliche Scheitern jedes Versuches der vollständigen Übersetzung von Unbewusstem in Bewusstes“ (S. 43; Herv.: B. N.) meint. Ja, so ist das seit dem Turmbau von Babel: Gigantomanie wird bestraft.

Der Beitrag von Sophinette Becker ist hingegen klar und stringent aufgebaut und schon deshalb mit Gewinn zu lesen, weil darin die heiligen Kühe (‚Penisneid’, ‚Kastrationsangst’, ‚Klitorissexualität’ usw.) nicht noch einmal durch die altbekannten Gassen gejagt werden. Statt dessen sieht sich die Autorin die Resultate einschlägiger Diskurse noch einmal etwas genauer an und kommt dann zu dieser ernüchternden Feststellung: „Obwohl der ‚dark coninent’ in den letzten 80 Jahren aus so vielen Perspektiven beleuchtet und erhellt worden ist, gibt es nach wie vor keine stringente, allgemein akzeptierte Theorie der weiblichen sexuellen Entwicklung. Viele gut begründete Revisionen haben sich im alltäglichen theoretischen und klinischen Diskurs der Psychoanalyse nicht wirklich durchgesetzt bzw. nur oberflächlich im Sinne von partiellen, politisch korrekten sprachlichen Wendungen ohne substanzielle Veränderung im Denken“ (S. 71). Ein tieferes Verständnis speziell des wechselseitigen Begehrens zwischen Mutter und Tochter werde zudem durch die neuere Idealisierung der Mutterschaft erschwert, die zur Ausklammerung des Triebhaft-Sexuellen aus der Beziehung zwischen Mutter und Kind und damit – in diesem Punkt – zu einem Rückfall hinter Freud geführt habe.

Und schließlich gibt es da ja auch noch einen zweiten ‚dunklen Kontinent’, der dem Meer der allgemeinen Bisexualität abgerungen ist: die männliche Sexualität. Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er aufgehört hat, die bessere Mutter sein zu wollen? Wenn er seinen ‚Gebärneid’ überwunden hat? Oder wenn er seinen Neid auf die Brust durchgearbeitet hat, der sich bei Männern, die in ihrer Geschlechtsidentität besonders gestört seien, mit der Überzeugung paare, es gebe ein spezifisch weibliches Genießen – „was immer das, außer einer männlichen Phantasie“, auch sein mag, setzt die Autorin hinzu (S. 76). Vielleicht verweist die Phantasie vom vermeintlich spezifisch weiblichen Genießen ja auf die Sehnsucht des Mannes, seine eigene (aus der frühen Erfahrung mit der Mutter resultierende) Weiblichkeit nicht länger abwehren zu müssen?

Martin Dannecker, der den Akzent seiner Ausführungen auf den homosexuellen Mann legt, meint, dieser habe vor der Weiblichkeit als Baustein seiner Identität weniger Angst als der heterosexuelle Mann, der mit Hilfe von Abwehr versucht, ein ganzer Mann zu sein und dabei zum halben Menschen werden muß. Dannecker leitet seinen Beitrag jedoch erst einmal mit einer Kritik ein, die jeden betrifft, der über Sexualität schreibt – und dabei die eigenen sexuellen Erfahrungen stillschweigend übergeht, weil der Wissenschaftsbetrieb alles, nur keine Bekenntnisse akzeptiert. Also müsse der Autor sein „sexuelles Ich“ verschwinden lassen, wenn er wissenschaftlich ernst genommen werden wolle. „Vorgeführt wird uns dieses verborgene sexuelle Ich“ dann aber „von der schlechten Biographik, die es um alles bringt, was damit gemeint ist“ (S 81). Ob das auch auf psychoanalytische Fallgeschichten und oder gar deren Verschnitt – ‚Vignetten’ genannt – zutrifft, läßt diese Formulierung noch offen.

Greift man auf die Philosophiegeschichte zurück, dann läßt sich das beliebte Spiel ‚Äpfel gegen Birnen’ gut mit Schopenhauer und Nietzsche veranstalten. Hatte Schopenhauer die Geschlechtsliebe als Zentrum des ‚Willens zum Leben’ ausgemacht, so hatte Nietzsche erwidert, die Liebe sei doch bloß eine besonders geschickte Tarnung des ‚Willens zur Macht’. Ist doch alles Obst, könnte man dagegen einwenden. Aber damit wäre das Spiel dann zu Ende.

Doch das will keiner. Und deshalb sucht Martin Dornes in seinem Beitrag noch einmal „Das Nichtsexuelle im Sexuellen“ (S. 120 f.) und klärt, nachdem er es gefunden hat, noch einmal auf über „Die Bedeutung des Nichtsexuellen“ (S. 121 ff.). Das macht er, indem er ein schönes Spiel beschreibt: „Man bindet eine Schnur an einen Fuß des Säuglings und verbindet die Schnur mit einem Mobile. Nach kurzer Zeit bemerkt der Säugling den Zusammenhang zwischen Fußbewegung und Bewegung des Mobiles“ (S. 122). Da fängt der Säugling als Forscher fröhlich an zu lachen. Nietzsche würde sagen: der Kleine hat den Willen zur Macht entdeckt. Schopenhauer würde erwidern, aus dem Glucksen des Säuglings sei die Melodie des Willens zum Leben herauszuhören. Und der Säugling? Er fängt auch dann vor Freude an zu hopsen, wenn er die Welt nicht mit dem Fuß bewegen, sondern durch Schreien und Weinen die Mutter herbei-‚zaubern’ kann. Nein, sagt Dornes, was „hier zu beobachten ist“, das ist nicht sexuelle Lust. Das ist: „nichtsexuelle Lust, Funktionslust, das Vergnügen, die Freude oder, wenn man so will, die Erregung über die Entdeckung eines Zusammenhangs und des Hervorrufens eines Ereignisses, dessen Urheber man ist – die Entdeckung von Wirkmächtigkeit also, die das Unterfutter eines jeden gesunden Narzißmus ist“ (S. 122). Ja, das stimmt, würde Freuds Enkel sagen: Fort – Da. Loslösung – Wiederannäherung. Trennung – Bindung. Und wie hat sich der Kleine da gefreut, als er sah, wie die Garnrolle seinem ‚Willen’ ‚gehorchte’! Und sein Großvater hat gelächelt und gemurmelt: deswegen habe ich ja nie nur von der Sexualität gesprochen. Und in diesem Fall habe ich sogar davon gesprochen, daß sich mein Enkel spielend in der Außenwelt dessen ‚bemächtigen’ kann, was ihn in seiner Innenwelt bewegt.

Reimut Reiche will in seinem Beitrag den Begriff ‚Sexualisierung’ bewegen – und zwar weg von der pejorativen Bedeutung, die er in der psychoanalytischen Literatur zunehmend erhalten habe. Er soll so für einen „strukturellen Einheitsbegriff der Perversion“ (S. 137) wieder nutzbar werden. Im Zentrum dieser Betrachtungen steht dann aber der Fetisch, den Reiche als sexualisiertes Übergangsobjekt, also gewissermaßen als den Teddybär des Erwachsenen begreift. Das Unterfutter zu dieser Konzeption scheint nun allerdings Freuds vielgescholtene Libidotheorie beigetragen zu haben, denn wie sonst wäre ein Satz wie der folgende zu verstehen: „Sexualisierung ist […], genauso wie Desexualisierung, eine biologische Voraussetzung des Aufbaus psychischer Struktur und Selbstbesetzung“ (S. 148).

In ihrem Beitrag „Warum wird die infantile Sexualität sexuell genannt?“ (S. 97 ff.) stellt Friedl Früh implizit dann die noch etwas weiter führende Frage, was ‚sexuell’ (‚Sexualität’, ‚Sexualisierung’ usw.) denn nun eigentlich bedeuten könnte? Mit Rückgriff auf Freuds Konzept der Nachträglichkeit und unter Berufung auf Laplanche (1988) – dessen Allgemeine Verführungstheorie sich offenbar als eine Plombe erweist, die manche Lücke in Freuds Theorie zu schließen vermag – gibt sie auf die Frage sinngemäß die folgende Antwort: Erwachsene nennen Erregungszustände des Kindes immer dann ‚sexuell’, wenn sie darin ihr eigenes sexuelles Erleben wiederzuerkennen vermeinen; und sie begreifen kindliche Verhaltensweisen dann als ‚sexuell’, wenn sie darauf eigene sexuelle Phantasien übertragen (projizieren) können. Hatte Ferenczi, den die Autorin unerwähnt läßt, nicht etwas Ähnliches gesagt? Nun gut – aber seit wann wissen denn die Erwachsenen so genau, welches Erleben oder Verhalten sie bei sich selbst als ‚sexuell’ zu begreifen haben? Noch nicht lange – das Wort ‚Sexualität’ taucht weder in der Bibel noch bei Homer noch bei Shakespeare auf (van Ussel 1970). Erst als die Sphären der Lust (Freizeit) und der Pflicht (Arbeitszeit) gegeneinander abgegrenzt waren, konnte man von ‚Sexualität’ sprechen. Das Wort ist nämlich erst im 19. Jahrhundert erfunden worden, wie ja auch das Kind als Objekt der Pädagogik und das „vaterlose“ Haus – der Vater also, der seiner Arbeit außer Hause nachgeht und die Mutter mit dem Kind allein im Haus zurückläßt – Erfindungen der Moderne sind. In vorindustriellen Gesellschaften gab es noch keine ‚Sexualität’, weil es (abgesehen von Klöstern – und selbst dort sorgten böse Geister für Verwirrung) noch keine klaren Grenzen gab, mit deren Hilfe man explizit sexuelles Erleben und Verhalten von allgemeiner Körperlichkeit, Sensualität, Lust, ja von der Affektivität insgesamt hätte unterscheiden können. Ist also die ‚Sexualität’, von der wir sprechen, bloß ein Schauspiel – oder gar nur ein Sprachspiel?

Ilka Quindeau macht in ihrem Beitrag einen Vorschlag, der die erstarrten Fronten wieder etwas auflockern könnte: „Betrachtet man die Sexualität […] nicht als etwas, das dem Körper ‚von Natur aus’ anhaftet und sich in Reifungsprozessen lediglich entfaltet, sondern als leibliche Einschreibung lustvoller Erfahrung“ (S. 206), dann, so meint sie, ließen sich Freuds Auffassungen in neuer Perspektive betrachten. Und so lassen sich dann auch „Argumente für eine psychoanalytische Triebtheorie“ (S. 198 ff.) finden, die die Autorin anführt. Ja, es fällt auf, daß es zwei Frauen sind – neben Ilka Quindeau ist es Sophinette Becker –, die in diesem männerdominierten Buch Freud vor allzu eiligen Verabschiedungen bewahren.

Über den Beitrag von Jörg M. Scharff, der unter der titelgebenden Frage steht „Wie weit reicht das Frankfurter Rotlichtviertel?“, sei zunächst verraten: Er strapaziert die Phantasie. Denn er beginnt mit dieser Aufforderung an den Leser: „Stellen Sie sich einen Gang des im Frankfurter Westend gelegenen Sigmund-Freud-Instituts vor. Ein Analytiker und seine Patientin verschwinden in einem der Zimmer“ (S. 181). Ich habe das getan – und dabei habe mir vorgestellt, daß die Prophezeiung Anna Freuds, dereinst würden Normopathen von den psychoanalytischen Instituten Besitz ergreifen, doch nicht eintreffen wird. Der Autor selbst faßt sein Resümee freilich anders zusammen, nämlich so: „Die psychoanalytische Situation evoziert die infantilen polymorph-perversen Szenarien des Patienten und über Resonanzphänomene auch die des Analytikers“ (S. 191), der zuvor noch „seinen Pullover über seine Hose gezogen hatte“, neulich „als die Patientin von der Couch aufgestanden war“ (S. 183). Und am Ende konnte er dann Männerphantasien über Frauenphantasien wieder gut von Frauenphantasien über Männerphantasien unterscheiden, was ja auch sein Beruf ist.

Wolfgang Berner plädiert in seinem Beitrag dafür, den tradierten Begriff der Perversion „für eine regressive, prägenitale Symptombildung“ zu reservieren, „die Partner im gegenseitigen Einverständnis und mit entsprechender Fähigkeit zur Rücksichtnahme auch über längere Zeit miteinander teilen können“. Das „hat keinen Krankheitswert im psychiatrischen Sinne“, fügt er hinzu (S. 172). Jedenfalls nicht mehr Krankheitswert als die genital-oralen Aktivitäten, die zu Freuds Zeiten noch als Ausdruck von Perversion galten. Berner trennt dabei – in Übereinstimmung mit den Bindungsforschern – den Wunsch nach Bindung vom Wunsch nach lustvoller Erregung und überbrückt diese Trennung anschließend wieder durch eine „Art von Dialektik zwischen sexueller Bedürftigkeit und Beziehungswunsch“ (S. 164). Unter der Voraussetzung bedrohlicher Beziehungserfahrungen, die das Kind gemacht hat, kann die latente Bindungssehnsucht beim Erwachsenen dann aber von manifester Beziehungsfeindlichkeit überdeckt werden. Unter dieser Voraussetzung wird aus der Person des geliebt-gehaßten Anderen eine Sache. Das ist ja auch das Kriterium für Paraphilie: „Je mehr das Objekt der Begierde Fetischcharakter annimmt und nichts mehr zu tun hat mit Individualität und Persönlichkeit, um so beziehungsfeindlicher wird der sexuelle Wunsch“ (S. 173).

Da der hier besprochene Sammelband anläßlich einer 100jährigen Rückschau entstanden ist, sei es erlaubt, an dieser Stelle auch noch an einen – von Berner nicht genannten – Autor zu erinnern. Er hat die Kunst, dem Partner so nah wie möglich zu kommen und sich dabei so fern wie möglich zu halten, sehr genau beschrieben. Ich meine Otto Gross, der, anders als die von Martin Dannecker charakterisierten wissenschaftlichen Mainstream-Autoren, in seinen Schriften das ‚sexuelle Ich’ nicht versteckt hat. Er kannte das Spiel, das Erwachsene betreiben, die sich aneinander klammern und gegenseitig zerfleischen, während sie dabei im Herzen einsam bleiben, aus eigener leidvoller Erfahrung (vgl. Nitzschke 2000). Gross hat denn auch – wie Berner – den Ursprung dieses Spiels in der sadomasochistischen Kollusion zwischen dem Kind und den Eltern lokalisiert. Und er hat das Ineinander und Gegeneinander von sexuellem Wunsch und Bindungswunsch als einer der ersten beziehungstheoretisch interpretiert. Und so könnten die Drei Studien über den inneren Konflikt von Otto Gross (1920) eines Tages vielleicht doch noch als Antwort auf und Ergänzung zu Sigmund Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) entdeckt werden.

Doch halt! Kennen wir die Drei Abhandlungen überhaupt schon? Wir kennen den Text, der in Freuds Gesammelten Werken abgedruckt ist. Dieser Text entspricht jedoch der sechsten Auflage von 1924, die aufgrund zahlreicher Einschübe und Anmerkungen fast schon als Neuausgabe aufzufassen ist. Der Urtext von 1905, der nur knapp 90 Druckseiten umfaßte, ist hingegen weitgehend unbekannt. Nun liegt er aber wieder vor – als Reprint in bibliophiler Gestaltung. Und so sind nun auch überraschende Entdeckungen möglich, zum Beispiel die, daß „Die infantile Sexualität“ ursprünglich ganz ohne „Die infantile Sexualforschung“ auskam. Und von den „Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation“ fehlte anfangs auch noch jede Spur. Reimut Reiche hat dies und mehr in seinem gelehrten Nachwort zum Reprint aufgezeigt. Er beginnt mit einer Diskussion der sexualwissenschaftlichen Literatur, die schon vor Freuds Drei Abhandlungen erschienen war, und endet bei relevanten Beiträgen aus der neueren psychoanalytischen Literatur, also – wie könnte es anders sein? – bei Laplanche (2004).

Bernd Nitzschke (Düsseldorf)

Literatur
Breuer, J., Freud, S. (1895). Studien über Hysterie. Leipzig/Wien (Deuticke).
Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. GW II/III.
Freud, S. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, S. 27-145.
Gross, O. (1920): Drei Aufsätze über den inneren Konflikt. Bonn: (Marcus & Weber).
Laplanche, J. (1988). Die allgemeine Verführungstheorie. Tübingen (edition diskord).
Laplanche, J. (2004). Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des „Unbewußten“ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie. Psyche 58, S. 898-913.
Nitzschke, B. (1992). Wilhelm Stekel, ein Pionier der Psychoanalyse - Anmerkungen zu ausgewählten Aspekten seines Werkes. In: Federn, E., Wittenberger, G. (Hg.): Aus dem Kreis um Sigmund Freud. Zu den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt/M. (Fischer) 1992, S. 176-191.
Nitzschke, B. (2000).Verinnerlichung äußerer Konflikte – Entäußerung innerer Konflikte. Über einige Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Otto Gross, Wilhelm Reich und Sigmund Freud. In: Dehmlow, R., Heuer, G. (Hg.): 1. Internationaler Otto Gross Kongreß. Bauhaus Archiv, Berlin 1999. Marburg/Hannover (Verlag Literatur Wissenschaft.de / Laurentius) 2000, S. 39-54.
Stekel, W. (1885): Ueber Coitus im Kindesalter. Wiener Med. Blätter 18, S. 247-249.
Van Ussel, J. (1970). Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Reinbek (Rowohlt).