Bernd Nitzschke
Die einen können nicht vergessen,
die anderen wollen nicht erinnern

Zwei Tagungen – ein Thema: Versöhnung

»Wir dachten an ein kleines Dorf, das Menschen aus den verschiedensten Gemeinschaften des Landes umfaßte. Juden, Christen und Moslems würden dort in Frieden miteinander leben (...).« Und wo sollte dieses Dorf liegen? »Das Utopischste an der Utopie war das Grundstück: Wie findet man ein Grundstück, wenn man weder Geld noch Einfluß hat?« Man begeistert andere Menschen von der Idee. Und wenn man Glück hat, dann bekommt man ein Stück Land zur Pacht überlassen. Wie Bruno Hussar (1911-1996) – ein in Ägypten geborener Jude, der sich als »Zionist« (Hussar 1988, S. 108) begriff, obgleich er von den »Staatsbehörden Israels« erst einmal »nicht als Jude anerkannt« (1988, 53) wurde, weil er zum Katholizismus übergetreten und als Dominikanerpater im Auftrag des Vatikan am Zentrum für Studien des Judentums in Jerusalem tätig war. Er erhielt vom Abt eines Trappistenklosters »ein Grundstück von vierzig Hektar (...) für einen symbolischen Preis von drei Pfennig pro Jahr, für hundert Jahre« (1988, S. 114ff.). So geschah es 1967. Und so konnte er seine Utopie auf einem Hügel in der Nähe von Latrun verwirklichen, dort, wo sich während des Krieges von 1948 Palästinenser und Juden heftige Kämpfe geliefert hatten.

Diese Utopie erhielt einen Namen: Neve Shalom / Wahat al-Salam / Oase des Friedens (http://www.nswas.com/rubrique41.html). Heute leben etwa fünfzig Familien in dem Dorf, je zur Hälfte palästinensische und jüdische Bürger Israels, deren Kinder eine zweisprachige Grundschule besuchen, in der sie die Geschichte und Kultur der jeweils anderen Gemeinschaft kennenlernen. So wird Fremdes zu Eigenem, ohne enteignet zu werden. So wird Unmögliches möglich: Verständigung. Dieses Modell ist ausgezeichnet – u. a. hat es die Buber-Rosenzweig-Medaille 1987, den Bruno-Kreisky-Preis 1988, den Raul Wallenberg Award 1999 (so benannt nach dem schwedische Diplomaten, der ungarische Juden vor der Vernichtung durch den Holocaust rettete) und den Friedenspreis der Deutsch-Israelischen Gesellschaft 2003 erhalten.

Freundeskreise in anderen Ländern unterstützen das Projekt – zum Beispiel die deutsche Gruppe, die im Oktober 2006 zu einem Treffen nach Königswinter bei Bonn eingeladen hat. Auf dieser Tagung sprach Yair Auron, Bewohner des Dorfes und Mitglied der israelischen Friedensbewegung, der als Professor an der Open University of Israel lehrt und in seinem Buch Der Schmerz des Wissens (2005) über den Holocaust als Unterrichtsthema an israelischen Schulen berichtet hat. Darin zitiert er auch Yehuda Elkana, der als Kind den Holocaust überlebte und später als Wissenschaftshistoriker u. a. an der Hebräischen Universität lehrte:

»Zwei Arten von Menschen kamen aus Auschwitz: eine Minderheit, die verkündete: >Das wird nie wieder geschehen<, und eine erschreckte und ängstliche Mehrheit, die sagte: >Das wird uns nie wieder geschehen.< Wenn das die einzig möglichen Lektionen wären, würde ich sicherlich die erste mein Leben lang beherzigt haben. In der zweiten sehe ich eine Katastrophe.« Und dann folgt der paradox formulierte Satz eines Mannes, der das Erinnern zu seinem Beruf gemacht hat: »Doch wir sollten vergessen. Ich sehe momentan keine wichtigere politische und pädagogische Aufgabe (…), als Partei für das Leben zu ergreifen und sich der Gestaltung der Zukunft zu widmen, anstatt sich Tag ein Tag aus mit den Symbolen, den Texten und den Lektionen des Holocaust zu beschäftigen. Es ist die Pflicht, unser Leben von dem historischen Appell >Erinnert euch!< zu befreien« (zit. n. Auron 2005, S. 131f.).

Es kommt darauf an, was man unter Erinnern und Vergessen versteht. Versteht man Yehuda Elkana so, wie man Martin Walser verstanden hat, dann hat man gar nichts verstanden – weder den Zwang der Wiederholung, der sich aus verdrängtem Wissen speist, noch das Ziel jeder therapeutischen Bemühung: die Überwindung quälender Erinnerungen, also die Integration verdrängter oder abgespaltener Erlebnisse. Das geheilte Gedächtnis ist nun einmal das Ergebnis von Trauerarbeit, deren wichtigster Teil die Verinnerlichung ist, das heißt, das Durcharbeiten der Erlebnisse, die dann ins Gedächtnis integriert und >vergessen< werden können, und zwar so, daß sie gegebenenfalls eines Tages wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden können. Das ist gleichbedeutend mit der Überwindung des Übertragung- und Wiederholungszwangs, also mit der Beendigung der fortgesetzten Verwechslung von Gegenwart und Vergangenheit.

Erinnern, um zu vergessen – das will die politische Propaganda gerade nicht. Sie bedient sich vielmehr der Denkklischees, die der Übertragung zugrunde liegen, und benutzt sie für ihre Zwecke. Sie ist Ausdruck pathologischer Trauer, die Frieden und Versöhnung will, aber nur anklagen und vergelten kann. Eine Politik hingegen, die Frieden mit dem Feind schließen will, muß den Feind erst einmal als Menschen rehabilitieren. Das heißt, sie muß die propagandistische Entmenschlichung des Feindes zurücknehmen. Diese Entdämonisierung des Feindes ist die Mutter aller Friedensabkommen – während die Dämonisierung des Feindes der Gevatter aller Kriege ist. Und wie sollte die Rücknahme der Projektionen gelingen? Sie beginnt in dem Augenblick, in dem man nicht mehr nur das eigene, sondern auch das Leid erinnert, das man den anderen zugefügt hat. Solange man auf der eigenen Seite nur Opfer wahrnimmt und auf der anderen Seite nur Täter erkennen kann – kann es keinen Frieden geben.

Die Anerkennung fremden Leides ist der erste Schritt zur Versöhnung, wie Yair Auron ausführte. Dieser Feststellung stimmte Raif Hussein zu, ein in Deutschland lebender palästinensischer Israeli, der in seinem Vortrag die Lage der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten schilderte, wobei er auch noch einmal an das beiden Völkern Gemeinsame erinnerte: die Angst. Bei den Juden sei es die Angst vor der Vernichtung, die sie aus Europa nach Palästina mitgebracht hätten – und bei den Palästinensern sei es die Angst vor der Vertreibung, die sie seit der Nakbah, der Katastrophe von 1948, verfolge. Diese Angst ist den Darstellern des preisgekrönten Dokumentarfilms Just Married (http://www.cine-k.de/cine_k_0506_just_married.html), den die jüdisch-israelische Journalistin Ayelet Bechar gedreht hat, ins Gesicht geschrieben. Denn es sind keine Schauspieler, es sind die Helden ihres eigenen Lebensdramas, die ihr Schicksal hier vor aller Augen führen: Suhad, eine Palästinenserin aus Bethlehem, die Rabee, einen Palästinenser aus Jerusalem geheiratet hat, bei dem sie nun illegal leben muß, weil das seit 2003 gültige Staatsbürgerschaftsgesetz palästinensischen Frauen und Männern aus den besetzten und den Autonomiegebieten den Aufenthalt in Israel auch dann untersagt, wenn sie mit einem israelischen Staatsbürger verheiratet sind. Und deshalb muß Kifach, eine Palästinenserin aus Galiläa, die während der von Bill Clinton initiierten Friedensgespräche eng mit dem israelischen Ministerpräsidenten Barak zusammengearbeitet hat, ohne ihren Bräutigam Yazeed Hochzeit feiern – denn er stammt aus Gaza und hat keine Aufenthaltsgenehmigung für Israel erhalten. Man sieht Kifach im Kreise ihrer Familie mit Tränen in den Augen, während Yazeed, der bei der Tagung in Königswinter anwesend war und auf alle Fragen Auskunft gab, per Telefon zugeschaltet ist. Ja, er habe seine Frau in Berlin, wo er studiert, während einer Vortragsreise über den Friedensprozeß zwischen Israelis und Palästinensern kennengelernt. Eine bewegende Szene des Films zeigt seine Frau denn auch auf einer Pressekonferenz in Berlin, bei der sie Barak eine kritische Frage stellt. Er gibt ihr eine nichtssagende Antwort – und geht nach dem Ende der Veranstaltung im Abstand von einem halben Meter an ihr vorbei, als habe er sie noch nie im Leben gesehen.

»In our struggle against apartheid, the great supporters were Jewish people. They almost instinctively had to be on the side of the disenfranchised, of the voiceless ones, fighting injustice, oppression and evil. I have continued to feel strongly with the Jews. I am patron of a Holocaust centre in South Africa. I believe Israel has a right to secure borders. What is not so understandable, not justified, is what it did to another people to guarantee its existence. I’ve been very deeply distressed in my visit to the Holy Land; it reminded me so much of what happened to us black people in South Africa. I have seen the humiliation of the Palestinians at checkpoints and roadblocks, suffering like us when young white police officers prevented us from moving about. On one of my visits to the Holy Land I drove to a church with the Anglican bishop in Jerusalem. I could hear tears in his voice as he pointed to Jewish settlements. I thought of the desire of Israelis for security. But what of the Palestinians who have lost their land and homes?”

Diese Frage stellte Desmond Tutu, Friedensnobelpreisträger von 1984, in einem Beitrag, den er am 29. 04. 2002 im Guardian publizierte (hier zitiert nach: http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?ItemID=11683). Tutu, der noch unter dem Apartheidregime Dekan der anglikanischen St. Mary’s Kathedrale in Johannesburg wurde, weiß, wovon er spricht: Nach dem Ende des Apartheidregimes war er Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission / Truth and Reconciliation Commisson (TRC), die er gemeinsam mit Nelson Mandela, Friedensnobelpreisträger von 1993, initiierte, um einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern. Und Jimmy Carter, der den zwischen Ägypten und Israel 1978 abgeschlossenen Friedensvertrag von Camp David vermittelte und dessen Eintreten für die Menschenrechte 2002 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, hat die von Tutu benutzte Analogie im Titel seines neuen Buches auch mit Bedacht aufgegriffen: Palestine: Peace Not Apartheid (Carter 2006). Dieses Buch wurde in den führenden US-Zeitungen entweder gar nicht besprochen oder aber mit den zu erwartenden Vorwürfen (Antisemitismus etc.) bedacht (vgl. zsf. Fisk 2006, Voss 2007). John Dugard, ein früheres TRC-Mitglied, der heute als international renommierter Jurist in den Niederlanden lehrt und als Sonderberichterstatter für Palästina beim UN-Menschenrechtsrat tätig ist, verteidigte Carter gegen diese Angriffe:

»As a South African and former anti-apartheid advocate who visits the Palestinian territories regularly to assess the human rights situation for the U.N. Human Rights Council, the comparison to South African apartheid is of special interest to me. On the face of it, the two regimes are very different.« Doch es gibt bei allen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten: »Israel’s occupation of the Palestinian territories has many features of colonization. At the same time it has many of the worst characteristics of apartheid. The West Bank has been fragmented into three areas – north (Jenin and Nablus), center (Ramallah) and south (Hebron) – which increasingly resemble the Bantustans of South Africa. Restrictions on freedom of movement imposed by a rigid permit system enforced by some 520 checkpoints and roadblocks resemble, but in severity go well beyond, apartheid’s >pass system<. And the security apparatus is reminiscent of that of apartheid, with more than 10,000 Palestinians in Israeli prisons and frequent allegations of torture and cruel treatment. (…) Israel’s large-scale destruction of Palestinian homes, leveling of agricultural lands, military incursions and targeted assassinations of Palestinians far exceed any similar practices in apartheid South Africa« (http://www.countercurrents.org/pa-dugard011206.htm).

Rache ist nur ein anderes Wort für > Erinnerung, die nicht vergehen kann<. Sie will die Wiederholung der Tat, wobei das Opfer an die Stelle des Täters zu treten versucht. Sinn und Zweck der TRC war es nun aber, diesem urtümlichen Wunsch Schranken zu setzen: Die Leiden der Opfer sollten gehört und anerkannt, aber auch die Bitten der Täter um Vergebung sollten erfüllt werden. Falls diese bereit waren, ihre Verbrechen – Diskriminierung, Häuserzerstörung, Inhaftierung, Folter und extralegale Tötungen – einzugestehen, anstatt sie weiterhin zu leugnen oder gar ideologisch zu rechtfertigen, und soweit politisch motivierte Verbrechen vorlagen, die sich nicht durch besondere persönliche Grausamkeit auszeichneten, konnte Amnestie gewährt werden.

Die Ergebnisse dieses kollektiven Experiments des Erinnerns, Erzählens und Durcharbeitens fanden weltweit Beachtung (s. TRC-Report: http://www.info.gov.za/otherdocs/2003/trc/). Das belegen nicht zuletzt die Referate, die auf der Tagung Memory, Narrative and Forgiveness. Reflecting on Ten Years of South Afrika’s Truth and Reconciliation Commission gehalten wurden, die im November 2006 in Kapstadt stattfand. Dabei wurden u. a. Versuche eines Transfers des Modells in andere afrikanische Länder (Ghana, Ruanda, Mosambik) sowie nach Europa (Balkan, Nord-Irland) diskutiert. Es gibt aber auch Grenzen, die einer solchen Übernahme in andere Regionen entgegenstehen. So fehlt etwa im Fall des israelisch-palästinensischen Konflikts – anders als im Fall Südafrika – eine Regierung, die für beide Konfliktparteien gemeinsam sprechen könnte; und es gibt auch keine charismatischen Persönlichkeiten – wie Desmond Tutu und Nelson Mandela (der siebenundzwanzig Jahre inhaftiert war und nach seiner Freilassung trotzdem für Versöhnung eintrat) –, an denen man sich entsprechend orientieren könnte.

Dennoch gäbe es Möglichkeiten, das Modell Südafrika in modifizierter Form zu übernehmen, wie Ron Dubai, School of Oriental and African Studies University of London, ausführte: getrennte Wahrheitskommissionen für Israelis und Palästinenser, die dann eine alte Forderung, die seit Jahren auf höchster politischer Ebene vorgetragen wird, aufgreifen könnten – wenngleich in einem Sinn, der den gebetsmühlenartigen Appellen, die anderen hätten ihre Verbrechen einzugestehen, bevor Friedensgespräche erfolgreich geführt werden könnten, widerspricht. Nein, die jeweils eigene Seite hätte erst einmal die Opfer anzuerkennen, die sie den anderen aufbürdete, wenn Verzeihen und Versöhnen möglich werden sollen. Es gibt bereits solche Versuche – eine »reconciliation from below« (Dubai) –, die von Bürgern unternommen werden, die nicht länger bereit sind, der politischen Propaganda zu folgen und das eigene Kollektiv zu heroisieren und das fremde zu dämonisieren. Die jüdischen Einwohner von Ya’ad in Galiläa, deren Dorf auf enteignetem arabischem Boden erbaut worden ist, haben einen solchen Versuch unternommen. Als sie erfuhren, daß auch noch auf den Grundmauern des zerstörten arabischen Dorfes Mi’ar eine >rein< jüdische Siedlung errichtet werden sollte, solidarisierten sie sich mit ihren arabischen Nachbarn, den Flüchtlingen und Nachkommen der Bewohner von Mi’ar. Gemeinsam mit ihnen kämpften sie gegen dieses ethno-politische Projekt, mit dessen Hilfe die Erinnerung an das zerstörte Dorf endgültig unter Beton begraben werden sollte. »An emotional space had openend in all the participants, Arab and Jew alike – a space which allowed the hearing of the other’s narrative, and the internalizing (to a certain degree) of the other’s pain. As a resident of Ya’ad, I was one of the Jewish participants of these meetings«, führte Rachel Tzvia Back (Oranim Collge, Kiryat Tivon) aus, als sie diese Bürgerinitiative auf dem Kongreß in Kapstadt vorstellte.

Darauf kommt es schließlich auch an: auf den emotionalen Nachvollzug des Schmerzes, den der jeweils andere erlebt hat – und solange erleben muß, wie seine Leiden nicht anerkannt werden. Der Nachvollzug dieses Schmerzes fällt um so leichter (und ist gewiß um so schwerer zu ertragen), je mehr der fremde Schmerz dem eigenen ähnelt. Das ist nun aber der Schlüssel zum Verständnis: ohne die Bereitschaft, den Schmerz und die Angst des anderen zu teilen, gibt es keine Verständigung. Die Juden und Palästinenser, die sich im Kreis der trauernden Eltern für den Frieden (http://www.theparentscircle.com/) zusammengeschlossen haben, sind durch solches Mit-Leid zu Gesprächspartnern geworden. Jeder von ihnen hat – durch die jeweils andere Seite – ein Familienmitglied verloren. Rami Elhanan zum Beispiel, der als Soldat am Sechs-Tage-Krieg teilgenommen hat. Elhanans Schwiegervater war General im Krieg von 1948. Elhanans Vater hat Auschwitz überlebt. Elhanans Großeltern und sechs weitere Verwandte wurden Opfer des Holocaust. Elhanans Tochter fiel als Fünfjährige dem Selbstmordattentat eines Palästinensers zum Opfer. Und heute? – Elhanan ist heute der Auffassung, daß Israelis und Palästinenser Opfer ein und derselben Politik seien – einer Politik, die Haß und Gewalt immer wieder mit Haß und Gewalt beantworte und dies durch die Taten der anderen rechtfertige. Wie ließe sich diese Tragödie beenden? Läßt sich der Kreislauf durchbrechen, der die gegenwärtigen Taten, die als Vergeltung für vorausgegangene Untaten und als Prävention gegen zukünftige Untaten gerechtfertig werden, mit zukünftigen Taten verbindet, die dann wieder als notwendige Bestrafung und als Präventivmaßnahmen gerechtfertigt werden?

In ausweglosen Situationen muß man das Unmögliche wagen, wenn man überhaupt einen Ausweg möglich machen will. Pumla Gobodo-Madikizela, Professorin für Klinische Psychologie (http://www.uct.ac.za/depts/psychology/pgobodo), die den Kongreß an der Universität Kapstadt organisiert hat, repräsentiert in ihrer Person diese Möglichkeit des Unmöglichen: die Bereitschaft zur Versöhnung – trotz Leid und Diskriminierung. Aufgewachsen in Langa, einem Township nahe Kapstadt, durfte sie während des Apartheidregimes an der eigentlich >Weißen< vorbehaltenen Rhodes University mit einer Ausnahmegenehmigung studieren. Nach dem Ende des Regimes wurde sie in die TRC berufen. Im Auftrag dieser Kommission interviewte sie Eugene de Kock, den früheren (und später nicht amnestierten) Chef der Todesschwadronen, die Entführungen, Folterungen und extralegale Tötungen zu verantworten haben. In ihrem Buch A Human Being Died That Night: A South African Story of Forgiveness (Gobodo-Madikizela 2003) portraitiert sie ihn – weder als seelenloses Monster à la Hannibal Lector noch als gemütsarmen Bürokraten à la Eichmann, vielmehr als einen Menschen, der das Leid seiner Opfer kannte, jedoch ideologisch zu rechtfertigen verstand. Wenn die Abwehrstrategien aber versagen, die religiöse, ethnische oder nationale Großgruppen zur Verfügung stellen, um ihren Mitgliedern das Morden mit reinem Gewissen zu ermöglichen, dann wird das kollektiv in Auftrag gegebene Töten schließlich doch als individuell zu verantwortende Tat bewußt. Und dann zerbricht auch der Schutzschild, hinter dem sich die Schuld- und Schamgefühle verbergen – wie bei de Kock, dem Pumla Gobodo-Madikizela im Hochsicherheitstrakt begegnet und dessen Hand sie spontan berührt, als sie eine menschliche Regung, ein Zeichen des Bedauerns, an ihm wahrnimmt. Damit wiederholt sie die symbolische Geste von Pearl Faku, einer Frau, die durch de Kock ihren Mann verloren hat – und die sich selbst rettete, als sie de Kock vergab:

»When perpetrators asked for forgiveness from their victims it was as much about restoring the victims’ dignity as it was about perpetrators rescuing their own sense of humanity. Pearl Faku’s husband was killed by a bomb in an operation masterminded by Eugene de Kock, the man nicknamed >Prime Evil< because of his role in apartheid sponsored atrocities. When de Kock asked for Faku’s forgiveness, she extended her hand of forgiveness. Faku later explained why she forgave de Kock: >I was profoundly touched by him. I felt the genuineness of his apology I would like to hold him by the hand and show him that there is a future, and that he can still change<« (Gobodo-Madikizela 1999).

Killing in the Name of Identity (2006) – so lautet denn auch der Titel eines Buches von Vamik D. Volkan, der, in Zypern geboren, wo er die Dynamik nationaler Konflikte (hier zwischen Türken und Griechen) von Kindheit an kennenlernte, heute in den USA als Psychoanalytiker arbeitet und weltweit bei (politisch motivierten) Konflikten als Berater tätig ist. Er hielt in Kapstadt den Eröffnungsvortrag. Dabei ging er u. a. der Frage nach, wie Traumata durchgearbeitet werden können, so daß Verzeihung und Versöhnung möglich werden. Auf diese Frage gibt es keine für alle Menschen gleich gültige Antwort – es sei denn, man wollte eine gleichgültige Antwort geben. Denn so verschieden die Menschen sind, so verschieden sind die Wege, die sie beschreiten, wenn sie sich vom Opferstatus, von Entwürdigung und Entmenschlichung und damit auch von Wut, Haß und Rachewünschen befreien. Besonders beeindruckend waren deshalb gerade die Veranstaltungen, bei denen nicht nur wissenschaftlich debattiert, sondern die Betroffenen selbst zu Wort kamen: Maria Ntuli und Lizzie Sofolo zum Beispiel, deren Söhne (The Mamelodi 10) während der Apartheidzeit getötet wurden (http://www.khulumani.net/content/view/571/162/); oder Anne-Marie McGregor, die Mutter eines >weißen< Soldaten, der in Namibia fiel; oder Pauline Nossel, eine >Weiße<, die Geisel >schwarzer< Krimineller war. Diese vier Frauen sprachen in Anwesenheit von Desmond Tutu über ihre seelischen Wunden, die, bei aller Bereitschaft zur Aussöhnung, doch nie ganz vergehen können, weil auch bei seelischer Verletzung immer Narben bleiben.

Und schließlich sprach Eva Moses Kor, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester in Auschwitz den medizinischen Experimenten des Dr. Mengele ausgeliefert war, über eine Vergangenheit, die vergehen mußte, damit die Gegenwart wieder eine Zukunft haben konnte. Ihre Eltern und viele ihrer Verwandten wurden in Auschwitz umgebracht. Nach dem Krieg diente sie acht Jahre in der israelischen Armee, bevor sie in die USA auswanderte, wo sie einen Überlebenden heiratete. Heute steht Eva Moses Kor dem Candles Holocaust Museum in Terra Haute, Indiana, vor (http://www.candlesholocaustmuseum.org/), das seinen Namen von den Initialen Children of Auschwitz Nazi Deadly Lab Experiments Survivors herleitet. In Kapstadt erklärte sie noch einmal, warum sie ihren Peinigern vergeben hat. Weil sie sich durch diesen Akt der Selbstermächtigung aus der Gefangenschaft der destruktiven Gefühle befreien konnte, die ihr durch ihre Peiniger auferlegt worden sind. Das war ein Akt der Selbstheilung, den einfältige Gemüter niemals vergeben werden – eben weil sie nicht verstehen können, daß das Opfer nicht die Täter, sondern sich selbst freispricht, wenn es sich nicht länger in Wut und Haß verzehrt.

Zwei deutsche Psychoanalytikerinnen – Beata Hammerich, Tochter einer Jüdin, die sich während der NS-Zeit verstecken mußte, um zu überleben; und Erda Siebert, Tochter eines SS-Offiziers, der seine Familie verließ, noch bevor die Tochter in die Schule kam – gaben im Rahmen eines Gruppenreferats, das insgesamt fünf Mitglieder des im Raum Köln/Düsseldorf ansässigen Psychotherapeutischen Arbeitskreises für Betroffene des Holocaust (http://www.pakh.de/123456/Test/index.html) gestalteten, Auskunft über ihre Verstrickungen mit den Elternfiguren und über ihre Form der Befreiung von den >Aufträgen<, die sie unbewußt von den Eltern übernommen hatten. Das ist denn auch – neben der Vermittlung psychotherapeutischer Hilfe für Überlebende der >ersten< Generation – eine wesentliche Zielsetzung des Vereins: die Erforschung und Bearbeitung transgenerationeller Auswirkungen von Traumatisierung. Die Zurückgabe unbewußt übernommener >Aufträge< – zum Beispiel: die Eltern zu rächen, ihre Wunden zu heilen oder gar stellvertretend für sie ein >unverletztes< Leben zu führen – ist ein wichtiger Schritt der Kinder (von Opfern wie von Tätern) auf dem Weg der Individuation.



Desmond Tutu, Bernd Nitzschke und Mitglieder des Psychotherapeutischen Arbeitskreises für Betroffene des Holocaust (PAKH) in Kapstadt bei der Tagung Memory, Narrative and Forgiveness. Reflecting on Ten Years of South Afrika’s Truth and Reconciliation Commission, November 2006

Voraussetzung hierfür ist allerdings das Durcharbeiten der unbewußten Identifizierungen, die das Kind binden. Um sich von einer solchen Bürde zu befreien, bedarf es mehr als des Vorsatzes, auf bewußter Ebene eine Gegenposition zu dem Elternteil einzunehmen, von dem sich das Kind unterscheiden (trennen) will. Das gilt besonders für Kinder von Tätern, wie das Beispiel eines meiner Patienten zeigt, der seit Jahren als politischer Gegner eines noch immer mit nationalsozialistischem Gedankengut befaßten und vormals der SS angehörigen Vaters auftrat. Als die Mutter dann eines Tages das >Zahngold<, das ihr nach Anfertigung einer neuen Krone übergeben worden war, dem Sohn anbot, womit sie ihn symbolisch auf eine Stufe mit denjenigen stellte, die ihren Opfern das Zahngold ausgebrochen hatten, war die nur äußerlich überwundene Identifizierung des Sohnes mit dem mörderischen SS-Vater angesprochen. Heftiges Agieren, das schließlich zum Behandlungsabbruch führte, bewahrte den Patienten vor dem Erleben der Schuld- und Schamgefühle, die er aufgrund der unbewußt noch immer vorhandenen und nur durch Gegenbesetzungen in Schach gehaltenen Identifizierung mit dem SS-Vater empfand – und verhinderte die Befreiung von eben diesen Identifizierungen.

Wo >es<, das Ereignis war, kann >ich< nur werden, wenn es mir gelingt, das Erlebnis, zu dem das Ereignis geworden ist, als mein Erleben zu identifizieren, um es dann so durchzuarbeiten, daß ich es >vergessen< (und bei Bedarf auch wieder erinnern) kann. Das ist die schon in den Studien über Hysterie (Breuer, Freud 1895) gestellte entscheidende Frage: Wie wird das Ereignis zum Trauma, zu einem Erlebnis also, das nicht ohne weitere Anstrengungen zu beenden ist? Die Antworten, die Breuer und Freud damals gegeben haben, sind noch heute aktuell: Ein Ereignis wird dann zum Trauma, wenn der Reizschutz durchbrochen, der seelische Apparat überflutet worden ist; wenn die Kapazität des Ich nicht ausreichte, die Erregung zu >binden<. Wenn das Erlebnis psychisch nicht bewältigt werden konnte, weil Hilflosigkeit, Handlungsunfähigkeit, eben ein »hypnoider Zustand« (Breuer) vorlagen; oder wenn das Erlebnis deshalb abgewehrt werden mußte, weil seine Anerkennung den Stolz, das Selbstwertgefühl verletzt hätte (Freud) – bleibt >es< virtuell unsterblich. Dann bleibt >es< als freies Radikal erhalten. Dann findet die Trauer kein Ende. Zwar leben wir auch dann nicht mehr in der Vergangenheit – doch die Vergangenheit lebt in uns weiter, als wäre sie Gegenwart. Und derjenige, von dem wir uns bewußt längst getrennt haben, lebt unbewußt, als Feind in uns, weiter. Wollen wir uns von diesem Feind trennen, verlieren wir einen Teil unserer Identität. Deshalb ist es nicht nur schmerzhaft, einen Freund zu verlieren, sondern auch schmerzhaft, einen Feind zu verlieren. Auch dieser Verlust ist nicht ohne Trauerarbeit zu bewältigen. Oder besser: wir können unseren Feind nur dann verlieren, wenn wir ihn lieben. Erst dann verlieren wir unseren Selbsthaß. Am Ende ist diese Versöhnung mit uns selbst aber mehr wert als jeder Feind.


Literatur

Auron, Yair (2005): Der Schmerz des Wissens. Lich (Edition AV).
Breuer, Josef & Freud, Sigmund (1895): Studien über Hysterie. Wien (Deuticke).
Carter, Jimmy (2006): Palestine: Peace Not Apartheid.
Dugard, John (2006): Palestine: Peace Not Apartheid. http://www.countercurrents.org/pa-dugard011206.htm.
Fisk, Robert (2006): Banalitäten und glatte Lügen – Reaktionen auf Jimmy Carters neues Buch über Nahost: The Independent. http://www.zmag.de/artikel.php?id=1991
Gobodo-Madikizela, Pumla (1999): Beyond Truth and Reconciliation: Forgiveness. http://www.peaceworkmagazine.org/pwork/0599/0515.htm
Gobodo-Madikizela, Pumla (2003): Human Being Died That Night: A South African Story of Forgiveness. Claremont/SA (davidphilip).
Hussar, Bruno (1988): Der Weg der Versöhnung. Mainz (Matthias-Grünewald-Verlag).
Tutu, Desmond (2002): Apartheid in the Holy Land. Guardian, 29. 04. 2002. http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?ItemID=11683.
Volkan, D. Vamik (2006): Killing in the Name of Identity. Charlottesville/Virginia (Pitchstone Publishing).
Voss, B. (2007): Carter in der Klemme. Süddeutsche Zeitung, 09. 01. 07, S. 12.