Bernd Nitzschke

Der ewige Krieg um Freud - 100 Jahre Psychoanalyse sind 100 Jahre Psychoanalysekritik

Die Internationale Gesellschaft für die Geschichte der Psychoanalyse, deren Name anzeigt, daß "die Sache", wie Freud die von ihm ins Leben gerufene Wissenschaft nannte, schon etwas in die Jahre gekommen ist, lädt vom 25. bis zum 27. Juli nach Paris ein. Zum Kongreß "Hundert Jahre Psychoanalyse: 1896-1996" werden dort nicht nur Psychoanalytiker aus aller Welt, sondern auch Forscher aus vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen erwartet - ganz dem komplexen Werk Freuds entsprechend.

Noch einmal also wird kontrovers diskutiert werden, in welchen Punkten Freud, dessen Einfluß auf die intellektuelle Debatte des 20. Jahrhunderts größer war, als das vielfältige Verdammungsurteil gegen ihn vermuten läßt, geirrt hat und wo er am Ende vielleicht doch recht behalten haben mag. Einigkeit bei der Beantwortung dieser Frage ist nicht zu erwarten. Das schadet aber nichts, lebt die Psychoanalyse doch seit eh und je vom Konflikt, dem sie ja auch in theoretischer Hinsicht einen zentralen Platz im Getriebe dieser Welt zugewiesen hat.

In einer vor hundert Jahren unter dem Titel "Chirurgie der Seele" erschienenen Rezension der von Breuer und Freud publizierten "Studien über Hysterie" schrieb Alfred Freiherr von Berger, damaliger Direktor des Wiener Burgtheaters: "Doch seelische Vorgänge, in welchen der innerste Nerv einer fremden Persönlichkeit bloß liegt, locken aus Jedem, der sich mit ihnen einläßt . . . die eigene Persönlichkeit hervor. Sie verräth sich darin, wie er jene bemerkt, mitempfindet, versteht und auslegt. Darin liegt vielleicht der feinste Reiz des Buches." Und darin liegt auch noch immer der Reiz der Kontroverse um Freud: Kaum einer, der zu dieser Diskussion bisher beigetragen hat, tat dies ohne Rücksicht auf sich selbst, auf eigene Affekte, Wünsche und Ängste. Und wie immer der Stein der (Selbst-)Erkenntnis auch gewälzt worden sein mag: Am Ende rollte dieser Stein doch auch den Freud-Kritikern wieder auf die Füße.

In den 1895 erschienenen "Studien" dokumentiert Josef Breuer seine Erfahrungen mit einer Patientin, die mit dem Kontakt zur Außenwelt vorübergehend auch die geordnete Sprache verloren hatte. Sie stammelte scheinbar nur noch sinnlose Worte. Doch ihr Arzt konnte geduldig zuhören. Er sammelte die Worte der Patientin auf und gab sie ihr zurück, die sie daraufhin im autohypnotischen Trancezustand zu phantastischen Geschichten verspann. Später wird Breuers berühmte Patientin "Anna O." - die jüdische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim - als Schriftstellerin "Lebensbilder" (1913) und "Erzählungen" (1916) veröffentlichen, in denen sie jene Phantasmen noch einmal ausbreitete, die sie Jahrzehnte zuvor am eigenen Leib erlitten und "durchgearbeitet" hatte.

Die Versprachlichung des Körpers und die dadurch ermöglichte Kommunizierbarkeit des affektiven Leidens - das war die große Entdeckung Breuers. Derjenige jedoch, der den paradigmatischen Charakter dieser keineswegs intendierten, vielmehr zufällig gefundenen Methode der Rekonstruktion erkannt hatte, war Breuers jüngerer Kollege Sigmund Freud. Er war fasziniert vom dialogischen Verfassen eines Lebens-"Romans" und forderte Breuer auf, die Geschichte der Behandlung der "Anna O." aufzuschreiben. Das war der Ausgangspunkt für die "Studien", zu denen dann auch Freud, der sich gerade als Arzt niedergelassen hatte, eine Reihe Krankengeschichten beitrug. Viele sehen darin den Anfang der Psychoanalyse, obgleich dieser Begriff in den "Studien" noch nicht auftaucht. Erst 1896 sprach Freud erstmals von "Psychoanalyse". Auf einer Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die Ende November 1995 zum Thema "Hundert Jahre psychoanalytische Methode" stattfand, bezeichnete die Psychoanalytikerin und Freud-Editorin Ilse Grubrich-Simitis die "Studien" deshalb als "Urbuch" der Psychoanalyse.

Ob eine solche, an religiöse Offenbarungsschriften erinnernde Etikettierung sinnvoll ist, mag bezweifelt werden. Denn anders als der religiöse kennt der wissenschaftliche Diskurs keinen mythischen Anfang. Also hat er auch kein "Urbuch" nötig. Um Freud zu zitieren: Die Psychoanalyse ist weder "aus dem Stein gesprungen", noch sind ihre Gesetzestafeln ein für alle Male gültig. Schließlich geht es bei den "Studien" um einen wissenschaftlichen Text - und solche Texte sind nun einmal zeitgebunden, also prinzipiell vergänglich. Und eine Wissenschaft lebt auch nicht von Dogmen, sondern von der Kritik, von vorläufiger Erkenntnis, die immer wieder revidiert wird.

Es bedurfte vieler Jahrzehnte und mancher gescheiterter Behandlung - die noch immer hämisch gegen die Pioniere der Psychoanalyse ins Feld geführt werden, so als gäbe es irgendeine Wissenschaft, die bei ihrem Bemühen um Fortschritt nicht auf Irrtümer angewiesen wäre -, bevor Breuers Verfahren in jene verfeinerten Techniken einmünden konnte, die das heutige psychoanalytische Behandlungsangebot kennzeichnen.

Breuers theoretische Abhandlung in den "Studien" würdigt hundert Jahre später Wolf Singer, Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, nämlich noch immer als einen "in höchstem Maße faszinierenden" Beitrag: "Fast alles, was dort als Ahnung und mit wohltuender Vorsicht formuliert wird, hat in der Zwischenzeit experimentelle Bestätigung gefunden. Dies ist um so erstaunlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß Breuer noch nichts von der Existenz des ARAS, des ascending reticular activation system, wissen konnte und auch nicht bekannt war, daß Nervenzellen als Schaltelemente im Gehirn fungieren und elektrische Erregbarkeit als Signalträger für Bearbeitungsprozesse dient. Beim Durchlesen war ich versucht, die von Breuer verwendeten Analogiebegriffe durch mittlerweile eingeführte technische Termen zu ersetzen." Kann man in unseren Tagen, in denen angesichts des rasanten Fortschritts der Wissenschaften die "Halbwertzeit" wissenschaftlicher Texte immer kürzer wird, einem Forscher, der ohne Labor und Etat auskommen mußte, der "nur" ein Hausarzt war, ein größeres Kompliment machen?

Freud hat von Breuer vor allem dessen Humanität - das Leiden nicht zu eliminieren, nicht wegzutherapieren, es vielmehr zu Wort kommen zu lassen, um es dann in einem weiteren Schritt ins Erleben zu integrieren - übernommen. Die innere Zerrissenheit des modernen Subjekts, das im Wien des Fin de siécle auf dem Theater wie in der Philosophie bereits seinen Untergang feierte, sollte durch die kritische Aneignung des Ausgeschlossenen - des Animalischen, des Prähistorischen, des Infantilen, des Asozialen - noch einmal rekonstruktiv überwunden werden. Freuds "Zukunft einer Illusion" (1927) ist deshalb in erster Linie eine Vision. Sie zielt auf die Wiederaneignung des Fremden ab, das im Verlauf des Zivilisationsund Sozialisationsprozesses ausgeschieden wurde, um die "normale" Welt, die "normale" Persönlichkeit zu konstruieren. Freud dekonstruierte (analysierte) diese "normale" Persönlichkeit und versuchte, die Vernunft wieder von ihrem selbstverschuldeten Wahn zu befreien, jenseits von Wunsch und Traum ließe sich eine "reine" Rationalität konzipieren.

Bei dieser Zielsetzung konnte er weder mit dem Beifall des "gesunden" Menschenverstands noch mit dem der Mehrzahl der Wissenschaftler rechnen. Hundert Jahre Psychoanalyse sind deshalb auch hundert Jahre Psychoanalysekritik: Denn wer mit den Schattenseiten der menschlichen Natur nichts zu tun haben wollte, eiferte gegen die Psychoanalyse. So urteilte der Schriftsteller Emil Ludwig 1946, Freud sei "ein Menschenfeind, der sich nur in der Sphäre der Maulwürfe unter der Erde wohlfühlt", der den "Haß des im Schatten Lebenden gegen die, die sich des Lichtes erfreuen", gerichtet habe. Diese Art der Freud-Kritik - die von jener unterschieden werden muß, die die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses einhält, zu denen es gehört, die Komplexität des diskutierten Gegenstands und den Forschungsstand zu kennen, der jeweils erreicht worden ist - ist keineswegs anachronistisch. Im Gegenteil: In den USA ist das "Freud-Bashing" derzeit wieder zu einem beliebten Gesellschaftsspiel geworden.

Jonathan Lear hat in der Zeitschrift The New Republic vor kurzem analysiert, worum es dabei geht: Freud soll möglichst medienwirksam abgewatscht werden. So wirft man ihm einerseits vor, er habe die sogenannte Verführungstheorie wieder aufgegeben (was nicht stimmt), weil er die Tatsache des realen Kindesmißbrauchs vertuschen wollte. Und andererseits bezichtigt man ihn, seine Theorie sei schuld daran, daß heute vielen Erwachsenen fälschlicherweise traumatische Kindheitserlebnisse suggeriert würden, die nur als Phantasien, nie aber als reale Ereignisse existiert hätten. Im Juli-Heft der Fachzeitschrift Psyche, die in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum feiert - also halb so alt ist wie die Psychoanalyse, der sie sich verschrieben hat -, ist Lears Artikel soeben in deutscher Übersetzung erschienen. Werner Bohleber spricht im selben Heft von einem neuen "Krieg um Freud". Er zeigt, daß das aktuelle "Freud-Klatschen" in den USA derzeit in einem gesellschaftspolitischen Klima stattfindet, das von "fundamentalistischem Konservativismus, neuer Prüderie und einem wissenschaftsgläubigen Puritanismus" geprägt ist.

Diese Gläubigkeit geht davon aus, daß der Mensch wie eine Maschine konstruiert ist und deshalb nach den gleichen Methoden untersucht werden könne wie der Rest der "Natur". Daß Menschen unabhängig von ihrem objektiv "meßbaren" Verhalten vor allem in einer Welt selbstproduzierter Bedeutungen, also in einer subjektiven Welt jenseits rationaler Motive und Überzeugungen erleben und handeln, verschließt sich dieser kurzschlüssig (natur-)wissenschaftsgläubigen Weltsicht freilich. Das Streben, die Subjektivität des Menschen und damit auch das Andere der Vernunft in den vernünftigen Diskurs wieder einzubeziehen, wie dies Breuer und Freud versucht hatten, verübelte schon der Erlanger Neurologe Adolf von Strümpell in seiner 1896 erschienenen Besprechung der "Studien": "Ich weiss nicht, ob man unter allen Umständen ein derartiges Endringen in die intimsten privaten Angelegenheiten auch von Seiten des ehrenhaftesten Arztes für erlaubt erachten darf. Am bedenklichsten finde ich dieses Eindringen, wenn es sich um sexuelle Verhältnisse handelt."

Drei Jahrzehnte später, 1929, brachte dann der Verein katholischer Lehrerinnen auf den Punkt, wogegen man "als Pädagogen und als Menschen, die das natürliche Sittengesetz noch anerkennen, aufs schärfste protestieren" mußte: gegen "Freuds Pansexualismus". Dabei handle es sich um "eine Entartung übelster Art", die "unter dem Deckmantel der Wissenschaft" den freien Willen des Menschen in Frage gestellt habe. Und die Süddeutschen Monatshefte brachten 1931 ein Sonderheft mit dem Titel "Gegen Psychoanalyse" auf den Markt. Freuds Zumutung, die heilige Familie als Konglomerat vielfach miteinander verstrickter Trieb-Wünsche und Trieb-Ängste zu analysieren, provozierte bei den Redakteuren Abwehrreaktionen: "Wir sehen einen Jungen auf der Straße gehen, eingehängt in eine reizlose, unschöne Frau, die ihm das Höchste auf der Welt ist - seine Mutter. Vielleicht sind in diesem Jungen schon geschlechtliche Regungen erwacht. Aber der Gedanke, daß sich derlei auf seine Mutter beziehen könnte, wäre ihm ganz unfaßbar, so unvereinbar sind diese beiden Arten von Gefühl. Auch für Ödipus, nach dem Sigmund Freud diese furchtbare Vermischung genannt hat, war sie das Abscheulichste des Abscheulichen . . . Die Freudsche These widerspricht allen Tatsachen."

Wenn das so ist: Warum dann diese Erregung? Wenig später wurde die Erregung zur Staatsdoktrin erhoben. 1936 kritisierte Mathias Göring, Vetter des Reichsmarschalls, die Psychoanalyse, die zur selben Zeit von den Stalinisten ebenso rüde wie mörderisch bekämpft wurde. Göring, damals der Vorsitzende der NS-Psychotherapeutenfachschaft, meinte, zwar habe Freud manches Vernünftige gesagt. Doch der "jüdische Geist", der zur Zersetzung des Großen und Ganzen, des Erhabenen und Heiligen der arischen Seele beigetragen habe, sei aus einer "deutschen" Psychotherapie wieder zu eliminieren. Auch in diesem Fall war die nationalsozialistische (Wissenschafts-)Politik modern und antimodern zugleich: Der kulturkritisch-aufklärerische Impetus der Psychoanalyse wurde als "jüdisch" denunziert, während das technokratisch handhabbare und medicozentrierte psychoanalytisch-therapeutische Wissen für die angestrebte "deutsche" Einheitspsychotherapie möglichst effizient übernommen werden sollte.

Diese Strategie wird heutzutage von den Theoretikern einer "integrativen" Psychotherapie erneut verfolgt - auch wenn sie sich, geschichtsblind, wie sie sind, nicht daran erinnern können, daß ihre Argumente von gestern sind. So meinte der derzeitige Medienstar der Psychotherapie-Szene Klaus Grawe, Hochschullehrer am Psychologischen Institut der Universität Bern, bei einem Kongreß Anfang des Jahres an der Universität Mainz, die Psychoanalyse (aber auch die Verhaltenstherapie!) gehörten längst in die "Rumpelkammer der Geschichte". Zwar hätten beide Schulen wichtige Erkenntnisse zutage gefördert und therapeutisch effektive Techniken entwickelt, doch leider hätten sie nur in Teilbereichen Gültigkeit. Gefragt sei deshalb eine neue integrierte Psychotherapie, die das Wertvolle dieser beiden und aller anderen psychotherapeutischen Schulen zu einem neuen Großen & Ganzen vereinen soll. Trotz aller Warnungen, Bücherverbrennungen und Integrationsbemühungen, mit deren Hilfe der Psychoanalyse der kritische Stachel gezogen werden sollte, läßt aber das "Ende der Psychoanalyse" (Eysenck 1985) auf sich warten. Doch noch immer bringen gerade die volksnahen Aufklärungsbroschüren den Schwindel vor der Tiefe am deutlichsten zum Ausdruck, der jene befällt, die sich den Abgründen der menschlichen Leidenschaft allzu angstvoll nähern, wenn sie sie denn nicht überhaupt leugnen wollen.

Dem informellen Verein zwecks Rettung des Abendlandes vor dem teuflischen Aberglauben Psychoanalyse gehören inzwischen auch solche Exorzisten an, die sich der Argumente zu bedienen wissen, die in jahrzehntelanger Forschungsarbeit innerhalb des psychoanalytischen Diskurses gegen die eine oder andere von Freud vertretene Position entwickelt worden sind. Solche Weiterentwicklungen gehören - so sollte man meinen - zum normalen Gang einer Wissenschaft. Also hätte ein Buch mit dem Titel "Hier irrte Newton", das mit dem physikalischen Wissen von heute gegen die Annahmen Newtons polemisieren würde, vermutlich keinen Erfolg. Ganz anders bei einem Buch mit dem Titel "Hier irrte Freud" (Eschenröder 1986). Es wurde nicht zum Ladenhüter, sondern zum vielzitierten Bestseller. Das ist denn auch beispiellos in der Wissenschaftsgeschichte: Noch nie hat es eine Disziplin gegeben, die - wie die Psychoanalyse immer wieder als Ganzes in Bausch und Bogen verdammt worden ist.

Warum diese Wut gegen die vermeintlich hermetische "Deutungsmacht" der Psychoanalyse (Pohlen, Bautz-Holzherr 1995)? Diese Macht wird idealisiert und dämonisiert zugleich, während die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Fakten eine andere Realität aufzeigen:

An den letzten Universitätsinstituten der akademischen Psychologie, die das Diplom-Prüfungsfach Tiefenpsychologie bisher noch beibehalten hatten, soll dieses Fach derzeit gerade abgeschafft werden (München, Frankfurt). Damit wird dann auch dort der Unterricht in Psychoanalyse, der an fast allen anderen deutschen Universitäten im Fachbereich Psychologie seit Jahren kaum mehr stattfindet, Nebensache werden.

In der psychotherapeutischen Versorgung ist die Anwendung der Psychoanalyse auch nicht grenzenlos: So gaben die gesetzlichen Krankenkassen 1994 für die sogenannte "Couch"-Therapie (für die im Bezirk Nordrhein derzeit von den Ersatzkassen pro Stunde etwa siebzig Mark erstattet werden) gerade einmal 0,1 Prozent des Betrags aus, den sie in der ambulanten Psychotherapie einsetzten.

Zwar ist die Psychoanalyse innerhalb der Medizin in den Abteilungen für Psychotherapie und Psychosomatik an den meisten deutschen Universitäten noch vertreten, doch auch hier zeichnet sich ein Trend zur Revision und Nivellierung ab: Viele Lehrstuhlinhaber orientieren sich, auch wenn sie selbst als Psychoanalytiker ausgebildet worden sind, unterm Druck der Forderung nach "Effizienz" - die dem Konkurrenzprinzip entspricht, aufgrund dessen in der Leistungsgesellschaft immer mehr Menschen psychisch erkranken - zunehmend am Wissenschaftsideal der Empiriker. Was nach deren Methodenverständnis "gemessen" werden kann, gilt dann als "wahr".

Zur Illustration der derzeitigen Situation sei deshalb noch einmal der Zeitgeist als Zeitzeuge aufgerufen: Eine von der Library of Congress in Washington geplante Ausstellung, die 1996 unter dem Titel "Sigmund Freud: Culture and Conflict" eröffnet werden sollte, mußte - wie es in der offiziellen Begründung hieß - wegen mangelnder finanzieller Unterstützung abgesagt werden. Hinter dieser Begründung verbirgt sich die Auswirkung einer beispiellosen Medienkampagne, die von einer Schar allzu gesunder Wissenschaftler gegen die geplante Freud-Ausstellung inszeniert worden ist. (Ende 1998 soll die Ausstellung nun aber doch noch stattfinden.)

Der prominente Neurologe Oliver Sacks, ursprünglich ein Unterzeichner des Aufrufs gegen die Freud-Ausstellung, der die Scheinwissenschaftlichkeit der Ausstellungsgegner inzwischen erkannt hat, zog seine Unterschrift zurück. In einem Interview mit Psychiatric News begründete er, warum er nicht länger in der Reihe der Psychoanalyse-Gegner genannt werden will: "Ich kann mir nicht vorstellen, was es heißt, ein Anti-Freudianer zu sein . . ., es sei denn, es bedeute, das Unbewußte und das Irrationale zu leugnen und vorzugeben, daß wir viel durchsichtiger und schablonenhafter seien, als wir eigentlich sind."

Der 88jährige Psychoanalytiker Kurt R. Eissler, der 1938 vor den Nazis aus Wien floh und als jüdischer Emigrant in Washington die Freud Archives der Library of Congress aufbaute, aus deren Bestand die Ausstellung über die aus Europa vertriebene Psychoanalyse weitgehend beliefert werden sollte, hat unlängst versucht, eine Antwort auf die Frage zu formulieren, warum Freud am Ende dieses Jahrhunderts, zu dessen geistigem Erbe er so viel beigetragen hat, abermals zum Streitfall werden konnte. Freud habe an der lackierten Oberfläche der Zivilisation gekratzt, die "mit Hiroshima und der nationalsozialistischen Judenvernichtung" Katastrophen "bislang nie gekannten Ausmaßes" hervorgebracht habe - und die dennoch von sich meint, das Gegenstück der Barbarei zu verkörpern. Einen Gedanken, den er in seinen letzten Schriften formulierte, habe man Freud noch weniger verzeihen können als all das, was er über die heilige bürgerliche Familie geschrieben habe: daß nämlich "Überleben und Zivilisation unvereinbar" seien und "daß die Zukunft der Menschheit ohne die alles durchdringende Heimsuchung der Zivilisation sicherer wäre".

Hundert Jahre Psychoanalyse - das waren dennoch nicht nur hundert Jahre des Versuchs, mit Eifer und Ereiferung denjenigen zu denunzieren, der einer rationalisierten, technokratischen Vernunft den Spiegel vors Gesicht hielt, in dem sie die ihr zugrundeliegenden Motive und die daraus resultierenden Konsequenzen erkennen könnte. Es gab auch immer wieder Lob - zum Beispiel das Glückwunschschreiben zum 80. Geburtstag Freuds, das Thomas Mann 1936 verfaßte und dem sich viele jener anschlossen, die wie Freud dem herrschenden Zeitgeist widersprachen und den Geist der Zeit auf humane Weise zu prägen versuchten: Alfred Döblin, Hermann Hesse, James Joyce, Paul Klee, Robert Musil, Pablo Picasso, Ernst Toller, Franz Werfel, Thornton Wilder, Virginia Woolf, Stefan Zweig und viele andere. Auch heute ist niemand daran gehindert, dem Urteil zuzustimmen, das der aufgeklärte Mann am Vorabend des Zweiten Weltkriegs über Freud formulierte: "Ein ganz auf sich selbst gestellter Geist, ,ein Mann und Ritter mit erzernem Blick', wie Nietzsche über Schopenhauer sagt, ein Denker und Forscher, der allein zu stehen wußte . . ., ist seinen Weg gegangen und zu Wahrheiten vorgestoßen, die deshalb gefährlich erschienen, weil sie ängstlich Verdecktes enthüllten."

DIE ZEIT, 12. 07. 1996