Bernd Nitzschke

Marxismus und Psychoanalyse

Aspekte der Marx-Freud Debatte1

 

Vorbemerkung

Der nachfolgende Beitrag verknüpft drei Themenkomplexe, die in der Literatur eher selten und wenn, dann eher getrennt diskutiert worden sind. Ich bin jedoch der Auffassung, daß das komplexe Thema des Verhältnisses von Marxismus und Psychoanalyse nur unter Berücksichtigung aller drei Aspekte hinreichend zu verstehen ist. Deshalb wird (1) eine Systematik der verschiedenen Stufen der Marx-Freud-Debatten herausgearbeitet, wobei die historische Abhängigkeit der einzelnen Debatten voneinander aufgezeigt werden soll. Des weiteren werden (2) die Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Psychoanalytikern auf die historischen Ereignisse in der Sowjetunion bezogen, d. h. in einen politischen Kontext gestellt, in dem (3) dann auch die Institutionalisierung der Psychoanalyse in Rußland abgehandelt wird.

I

Am 10. März 1909 diskutierte die „Mittwochsgesellschaft“ („Wiener Psychoanalytische Vereinigung“) Alfred Adlers Vortrag „Zur Psychologie des Marxismus“. Adler hatte die Mei­nung vertreten, „der Primat des Trieblebens“ habe Marx „klar vor Augen“ gestanden (Nunberg, Federn 1977, 155). Und weiter: Marx habe die „wahren Ursachen der Unterdrückung und Ausbeutung“ sowie Wege aufgezeigt, wie diese zu beseitigen seien; d. h. wie „bewußt Geschichte zu machen“ sei (1977, 160). Da die Psychoanalyse ebenfalls für die Herrschaft des Bewußtseins eintrete, ließen sich Marxismus und Psychoanalyse vereinbaren. Dazu merkte Freud an, Adler habe „nicht den Nachweis unserer Gedan­kengänge bei Marx gegeben“ (1977, 157). Man könne sicherlich die „Menschheitsentwicklung“ als fortschreitenden Prozeß der „Erweite­rung des Bewußtseins“ auffassen, jedoch dürfe man nicht übersehen, daß durch einen gegenläufigen Prozeß „immer mehr von unseren Trieben der Verdrängung“ unterworfen werde (1977, 157). Freud konstatierte die Dialektik des Zivilisationsprozesses: In der Sphäre des Denkens wird der Mensch freier, in der Sphäre des Handelns wird er, soweit es um die Befriedigung archaischer Triebbedürfnisse geht, eingeschränkter.

Damit tritt die kulturelle Surrogatbefriedigung an die Stelle uneingeschränkter (primitiver) Formen des Sich-Auslebens. Freud zeigte also nicht nur den Gewinn, sondern auch die Kosten des Zivilisationsprozesses auf und formulierte in nuce die für seine späteren kulturtheoretischen Schriften charakteristische These, wonach Kultur auf Triebverzicht beruhen soll (gemeint sind archaische Formen der Triebbefriedigung). Triebunterdrückung wird damit als ein von ökonomi­scher Ausbeutung relativ unabhängiger Vorgang gedeutet, ein Aspekt, der so von Marx nicht vertreten wurde. Diese kulturtheoretische These Freuds sollte denn auch zu einem der Hauptangriffspunkte der (partei-)marxistischen Kritik an der Psychoanalyse werden.2

Freud verstand „Arbeitszwang und Triebverzicht“ (1927, 331) als Voraussetzungen der Kulturentwicklung und explizierte diese Auffassung in seinen späten Schrif­ten. Triebverzicht begriff er als unaufhebbare Not­wendigkeit, die bei allen Menschen zur latenten (oder offenen) Rebel­lion gegen „die“ Kultur führen müsse.3 Außerdem betonte Freud, daß die Bedürftigkeit des Menschen sich nicht nur auf materielle, sondern auch (und in erster Linie) auf emotionale Güter, also auf andere Menschen richte. Die Gesellschaftsper­spektive des Marxismus erfasse dies nicht ausreichend und verfehle daher „das Wesentliche“ (1927, 331). Berücksichtigt man diese skeptische Einschätzung in Hinsicht auf den Kulturprozeß, so läßt sich sagen, daß Freud sozialen Revolutio­nen dennoch vorsichtige Sympathie entgegenbrachte: „Wer in seinen eigenen jungen Jahren das Elend der Armut verkostet, die Gleichgültigkeit und den Hochmut der Besitzenden erfahren hat, sollte vor dem Verdacht geschützt sein, daß er kein Verständnis und kein Wohlwollen für die Bestrebungen hat, die Besitzungleichheit der Menschen und was sich aus ihr ableitet, zu bekämpfen“ (Freud 1930, 472, Anm. 1).4

Inhumane gesellschaftliche Bedingungen erkannte Freud also als Voraussetzung sozialer Revolutionen an, die er mit den Worten legitimierte: „Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedi­gung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrück­ten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Güter sie aber einen zu geringen Anteil haben (...). Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient“ (Freud 1927, 333).

Revolutionen zielen demnach auf die Abschaffung ausbeute­rischer und unterdrückender gesellschaftlicher Verhältnisse ab, wobei Freud allerdings daran zweifelte, es ließe sich jemals eine Gesellschaftsorganisa­tion realisieren, durch die alle „bösen“ (aggressiven, egoistischen) Triebwünsche auszuschalten seien. Aus diesem Grund plädierte Freud für „vernünftige“ Formen der Herrschaft, für eine Herrschaft der Vernunft oder – wie es bei ihm auch heißt – für einen angemessenen Einfluß aufgeklärter „Führerindividualitäten“ (1930, 475) auf die gesellschaftliche Organisation. Eine anti-autoritäre oder gar anarchistische Gesellschaftsform war für Freud nicht wünschenswert. Er rebellierte – um mit seinen Sprachbildern zu reden – gegen den ungerechten „Vater“, aber er trat nicht für eine „vaterlose“ Gesellschaft ein.

Da Freud in der bürgerlich geordneten Vernunft ein letztes Richtmaß zu erkennen glaubte, wandte er sich auch gegen „intellektuelle Anarchisten“ (1933, 191), die er an dieser Stelle zwar nicht beim Namen nennt, die aber aus dem Kontext zu erschließen sind: Gemeint sind Schopenhauer, Nietzsche, Stirner u. a. Soweit sich anti-autoritär eingestellte 68er-Rebellen auf Freud beriefen, ignorierten sie also wesentliche Aspekte seines Menschenbildes und seiner Gesellschaftsauffassung, vor allem aber Freuds eingeschränktes Plädoyer für Trieb-„Befreiung“. Wilhelm Reich und Herbert Marcuse waren für die Bestrebungen der 68er bessere Kronzeugen als Freud.

II

Der referierten ersten (nicht-öffentlichen) Marx-Freud-Debatte in der „Mittwochsgesellschaft“ 1909 folgten später weitere (öffentliche) Debatten, unter denen die so genannte „klassische Kontroverse“ (Sandkühler 21971, 7), die in den 1920er Jahren geführt wurde, an Bedeutung herausragt. Diese Kontroverse zwischen Parteimarxisten und Psychoanalytikern fand ihren Abschluß durch das Verbot der Psychoanalyse unter Stalin5 und Hitler6. Eine modifizierte Fortsetzung dieser Kontroverse findet in der dritten großen Debatte statt, die mit den Stichworten „Frankfurter Schule“ und „Kritischen Theorie“ umschrieben, bzw. mit den Namen Horkheimer, Adorno, Fromm, Marcuse u. a. verbunden ist. Eine vierte Debatte begann mit der 68er-Bewegung. Sie griff Diskussions­stränge der „klassischen Kontroverse“, vor allem aber Beiträge der in der Emigrationszeit ausgearbeiteten „Kritische Theorie“ auf, woraus sich eine (vorerst) letzte Debatte um Marx und Freud entwickelte, die zur „Kritische Theorie des Subjekts“ führte, die von Lorenzer, Horn, Dahmer u. a. entworfen wurde.

Am ausführlichsten dokumentiert und kommentiert ist die „klassische Kon­troverse“ der 1920er Jahre, zu deren Wiederaneignung die 68er-Diskussion beigetragen hat. Nicht zufällig entstanden wichtige Dokumentationsbände (Sandkühler 21971; Gente 1970; 1972) im Kontext der 68er-Debatte. Zum Zweck einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Argumenten dieser „klassischen Kontroverse“ verweise ich deshalb auf die Dokumentationen. Im folgenden gehe ich nur stichpunktartig auf diese „klassische Kontroverse“ ein – und zwar im Zusammenhang mit dem Buch eines marxistischen Theoretikers der vormaligen DDR. Kätzel (1987) bemerkt, daß sich „klassische Kontroverse“ an Beiträgen von Autoren entzündete (wie Kolnai 1920 7 und 1923; Krische 1922; Lorenz 1920), die in psychoanalytischen Zeitschriften bzw. im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag“ publizierten, jedoch nicht zum engeren Kreis um Freud gehörten und deshalb nicht mit der Psychoanalyse gleichgesetzt werden dürfen. (Partei)-Marxisten8 griffen jedoch gerade die Beiträge dieser Autoren auf, um ihre Angriffe gegen die Psychoanalyse vorzutragen. Daraufhin griffen Psychoanalytiker, die den Mainstream der Psychoanalyse repräsentierten (wie Bernfeld oder Reich), in die Debatte ein, an der sich Freud selbst nicht direkt beteiligte.

Kätzel macht sich in seinem Buch weitgehend die Argumente zueigen, die von marxistischen Kritikern der Psychoanalyse in den 1920er Jahren vorgetragen worden sind, sieht man von der besonders grobschlächtigen Kritik ab, die Jurinetz 1925 formulierte, mit dessen Beitrag die Debatte begann. Sapirs (1929/21971) Kritik der Psychoanalyse, die Kätzel teilt, war differenzierter. Seiner Auffassung zufolge konnten der Psychoanalyse auf klinisch-therapeutischem Gebiet „grundlegende Verdienste“ bescheinigt werden (Sapir2 1971, 234). Entsprechende Teilstücke sollten für eine marxistische Psychologie und Psychotherapie genutzt werden. Scharf verurteilt wurden hingegen andere Teilstücke der Psychoanalyse, etwa die Triebtheorie, die Persönlichkeitstheorie, die Anthropologie sowie die Kulturtheorie Freuds. Diese – an Sapir orientierte – Auffassung ist für die Psychoanalyse-Rezeption in der DDR der 1980er Jahre repräsentativ. Entsprechende Argumentationslinien finden sich nicht nur bei Kätzel (1977, 1981), sondern auch in anderen DDR-Publikationen (Katzenstein 1979, 1981; Thom 1981, 1984).

Wollte man Freud eine naive Überschätzung „der“ Vernunft, bzw. den Glauben vorwerfen, „die“ Vernunft ließe sich gegen individuelles Leid und gesellschaftliche Unvernunft wirkungsvoll ins Feld führen (vgl. Nitzschke 1983), so teilten die genannten DDR-Autoren diesen Einwand nicht. Sie sahen in Freuds Bekenntnis zur Vernunft und in seinem Glauben an die Beherrschbarkeit des „Irrationalen“ vielmehr eines seiner bleibenden Verdienste (Kätzel 1987, 10). Propagiert wurde von den DDR-Autoren aber vor allem die Reduktion der Psychoanalyse auf eine praxisnahe Psychotherapie. Und das war die Ironie der Geschichte: Den therapeutischen Pragmatismus, den marxistisch orientierte Vertreter der Psychoanalyse in der Bundesrepublik (Lorenzer, Horn, Dahmer) unter dem Stichwort „Medizinalisierung“ kritisierten, lobten die DDR-Autoren.

Wenden wir uns nun dem Buch von Kätzel noch in einigen Einzelheiten zu. Kätzel ordnet Paul Federn, Freuds Stellvertreter in der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“, in die Rubrik „Opportunistische Sozialdemokraten“ ein (1987, 32 ff.). Er geht dabei von Federns Schrift „Zur Psychologie der Revolution – Die vaterlose Gesellschaft“ (1919) aus. Federn wird damit von Kätzel auf eine Stufe mit Autoren wie Siemsen (1924) oder Jenssen (1924) gestellt. Der Vorwurf, der sich gegen Federn – und erweitert gegen die massenpsychologischen und kulturkritischen Arbeiten Freuds – richtet, lautet kurz gefaßt: Federn habe die Revolution nicht als Folge „materieller Widersprüche der Gesellschaft, sondern vorgeschichtlicher psychischer Bedürfnisse“ interpretiert (Kätzel 1987, 34). Es sei jedoch unzulässig, Gesetzmäßigkeiten, die aus der Analyse von (neurotischen) Einzelmenschen gewonnen wurden, auf Massenerscheinungen zu übertragen. Außerdem sei die Gleichsetzung „des“ bürgerlichen Individuums mit „dem“ Menschen falsch. Der Hauptvorwurf richtet sich gegen die Psychologisierung (Pathologisierung) historisch-revolutionärer Bewegungen. Kätzel beruft sich dabei auf Lukács’ (1922) Kritik der Massenpsychologie Freuds (zur Haltung von Lukács gegenüber der Psychoanalyse: s. Erös 1985).

Darüber hinaus nimmt die Auseinandersetzung mit Kolnai, Krische, Lorenz, Federn, Siemsen und Jenssen bei Kätzel breiten Raum ein. Kätzel referiert auch (bis dahin) wenig bekanntes Material zur Auseinandersetzung russischer Autoren mit Freud, wobei er sich vor allem auf die um 1924/25 einsetzende Bekämpfung der Psychoanalyse in nder UdSSR bezieht. Dieser Kampf war Teil innerparteilicher Auseinandersetzungen (vgl. Dahmer 1973). Die Etablierung einer neuen marxistischen Psychologie während der 1920er Jahre ging Hand in Hand mit dem Kampf gegen die Psychoanalyse. Besonders ausführlich referiert Kätzel (1987, 121ff. u. 160ff.) die Kritik des marxistischen Psycholinguisten Volosinov 9 (1927; engl. Übersetzung 1976), die für die damalige Zeit bemer­kenswert war. Volosinov reflektierte frühzeitig, daß sich der Gegenstand Psychoanalyse als Sprache konstituiert. Also wäre die Psychoanalyse als methodische Untersuchung sprachlicher Ereignisse zu begreifen und selbst als derartiges Ereignis zu kritisieren (vgl. Bruss 1976). Die nonverbale Kommunikation, mit der sich Psychoanalytiker immer auch beschäftigt haben (vgl. Nitzschke 1985), bleibt dabei allerdings außer acht.

Beim Kampf um die Etablierung einer neuen marxistischen Psychologie in der UdSSR argumentierten einige Autoren, die Psychoanalyse sei eine naturwissenschaftliche Theorie und ließe sich deshalb mit Pawlows Psychologie vereinbaren. Andere Autoren sahen in der Psychoanalyse eine falsche – „idealistische“ – Theorie. Auch Volosinov nimmt im letzten Kapitel seines 1927 veröffentlichten Buches zu dieser Frage Stellung, in dem er gegen Autoren (wie Bykowsky, Luria, Fridman oder Zalkind) polemisiert, die behauptet hatten, die Psychoanalyse sei mit dem Marxismus zu vereinbaren. Diese Kritik setzte sich schließlich durch und trug zur Verurteilung der Psychoanalyse entscheidend bei. Doch weder die Tatsache, daß einige Autoren den Marxismus unter Berufung auf die Psychoanalyse angegriffen hatten, noch die Tatsache, daß die Psychoanalyse als „idealistische“ Theorie aufgefaßt wurde, hätten vermutlich ausgereicht, sie zu verbieten, wäre der Kampf um die Psychoanalyse nicht auch Teil der übergreifenden innerparteilichen Auseinandersetzungen gewesen. So war Trotzki ein (bedingter) Anhänger des in der Sowjetunion so genannten „Freudismus“. Nach Lenins Tod und nach der Ausschaltung der Trotzki-Fraktion – also mit dem Sieg der Stalin-Fraktion – war die Psychoanalyse in eine aussichtslose Situation geraten. Dabei kam es zu teilweise verwirrenden Frontverläufen: So hatte die Deborin-Gruppe als Garant marxistischer Philosophie im Kontext der „klassischen Kontroverse“ noch gegen die Psychoanalyse polemisiert, während Deborin nun (gemeinsam mit Trotzki und Sinowjew) als „Linksabweichler“ entlarvt wurde und sich den Vorwurf gefallen lassen mußte, er habe „den kämpferischen Idealismus Freuds, seine Klassennatur und Feindseligkeit gegenüber dem dialektischen Materialis­mus“ (Kätzel 1987, 158) nicht entschieden genug verurteilt. Vorwürfe wie dieser waren damals lebensgefährlich. So wurde etwa der Psychologe Isaak Spielrein, ein Bruder der russischen Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (vgl. Nitzschke 2000), als Vertreter einer „idealistischen“ Position von Stalins Mordkommandos liquidiert.

Die Auseinandersetzung um die Psychoanalyse in der UdSSR hatte grobschlächtig begonnen (Jurinetz), sie hatte zwischenzeitlich ein höheres argumentatives Niveau erreicht (Sapir, Volosinov), und sie endete mit einer rüden Verurteilung. Im Verlauf dieser Debatte mußten sich die Psychoanalytiker immer plumpere Vorwürfe anhören. So wurde Siegfried Bernfeld, der sich an der „klassischen Kontroverse“ beteiligt hatte, als Anhänger des „Sozialfaschismus“ beschimpft (vgl. Kätzel 1987, 160). Von derartigen Grobheiten distanziert sich Kätzel, der – bei aller aus der parteimarxistischer Perspektive als notwendig erachteten Kritik an der Psychoanalyse – zur vorsichtigen Erwägung gelangt, es wäre besser gewesen, hätte man die wenigen marxistisch orientierten Psychoanalytiker (wie Bernfeld oder Reich) damals als Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus anerkannt, anstatt sie zu bekämpfen oder aus der KP auszuschließen (1987, 153, Anm. 145).10 Kätzel, der eine historische Studie der russischen und deutschen Psychoanalyse-Marxismus-Diskussion während der 1920er und der frühen 1930er Jahre intendiert, vergißt dabei allerdings zu erwähnen, daß die Psychoanalyse in den 1920er Jahren in der UdSSR bereits institutionalisiert war. So erfährt man, obgleich Luria mehrmals von Kätzel erwähnt wird, nicht, daß Luria zu Beginn der 1920er Jahre eine hervorgehobene Position in der „Russischen Psychoa­nalytischen Vereinigung“ innehatte.

Bevor ich – Kätzel ergänzend – ausführlicher auf die Institutionalisierung der Psychoanalyse in der damaligen UdSSR eingehen werde (Teil III), will ich zunächst noch einige Fakten nachtragen, die bei Kätzel fehlen. Sie betreffen die Einschätzung der Psychoanalyse durch die Partei nach dem Verbot der Psychoanalyse in der Sowjetunion. Kätzel, der eine für die damalige DDR neue Positionsbestimmung des Verhältnisses von Marxismus und Psychoanalyse vornimmt, überspringt diese Phase, so als sei es möglich, an der „klassischen Kontroverse“ (bzw. an den von Sapir oder Stoljarov vertretenen Positionen) umstandslos wieder anzuknüpfen, ohne auf die stalinistischen Verdikte gegen die Psychoanalyse einzugehen.

Tragen wir also noch einige der Aussagen nach, die aus der Zeit nach dem Verbot der Psychoanalyse in der UdSSR stammen. Demnach galt gemäß sowjetischem „Handwörterbuch der Philosophie“ (1955, 4. Ausgabe) folgende Einschätzung: „Freudismus: Eine reaktionäre, idealistische Richtung, die in der bourgeoisen wissenschaftlichen Psychologie weit verbreitet ist (...). Die (marxistische – B. N.) wissenschaftliche Psychologie verlacht die Behauptung, daß der Sexualtrieb bereits in der Frühkindheit entstehe (...). Freudismus wie Neo-Freudismus stehen jetzt im Dienste des Imperialismus, welcher diese ‚Lehren’ von der Unterordnung des Bewußtseins unter das Unbewußte dazu benutzt, die niedrigsten und widerwärtigsten Triebe zu rechtfertigen und zu entwickeln“ (zit. n. Laqueur 1956, 588). Rubinstein, der in einem sowjetischen Psychologie-Lehrbuch Konzepte der Psychoanalyse referiert hatte, mußte sich Ende der 1940er Jahre in einer Philosophiezeitschrift den Vorwurf gefallen lassen, er habe „einen außerordentlichen Mangel an Prinzipientreue“ bewiesen, als er „reaktionären, idealistischen Unsinn in die sowjetische Psychologie“ einführte und „(nach Freud) unterstellte, daß die Quelle gewisser psychischer Prozesse subjektiv, d. h. irgendwo in unserem Inneren gelegen sei“ (zit. n. Laqueur 1956, 590).

Der DDR-Verlag „Volk und Wissen“ publizierte noch 1969 ein Buch von Anzyferowa und Mansurow, in dem die „Tiefenpsychologie“ des „Wiener Psychiater Freud“ (1969, 126), der, neben gesagt, kein „Psychiater“ war, folgendermaßen beurteilt wurde: „Da die Tiefenpsychologie zugleich den Interessen der Großbourgeoisie entspricht, ist sie zu einer ihrer ideologischen Waffen umgewandelt worden“ (1969, 127). Und weiter heißt es in der zitierten Schrift: „Sozialer Zweck der Freudschen Tiefenpsychologie besteht in dem Versuch, den Glauben an die Kraft des Verstandes zu erschüttern“ (1969, 127). Ihrem kurzen Abriß der Freudschen Lehren schicken die beiden Autoren folgendes abschließendes Fazit voraus: „Die Tiefenpsychologie wendet sich gegen die Theorie und Praxis des Marxismus. Der reaktionäre Charakter dieser Richtung wird heute von fortschrittlichen Wissenschaftlern aller Länder erkannt“ (1969, 127).

Derartige Verdikte wurden mit Beginn der 1970er Jahre in der DDR schrittweise aufgegeben. Es erfolgte die Rückkehr zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse (z. B. Beránek 21987). Dabei wurden auch noch einmal einige der Argumente vorgetragen, die sowjetische Psychoanalyse-Kritiker während der „klassischen Kontroverse“ erarbeitet hatten. Kätzel schreibt, „die marxistisch-leninistische Theorie“ sei – „an die Traditionen der 20er Jahre“ anknüpfend – inzwischen „zu einer vertieften Einschätzung des ideologischen und philosophischen Gehalts der Psychoanalyse“ vorgedrungen, womit es nun möglich geworden sei, die „Relevanz“ der von der Psychoanalyse „aufgeworfenen Probleme der Neurosenlehre und der Therapietechnik“ neu zu bestimmen (1987, 165). Diese Neubestimmung erfolgte unter Betonung des medizinischen Nutzens der Psychoanalyse – bei anhaltender Kritik am Menschenbild und an der Kulturtheorie Freuds. So verknüpften sich die in der „klassischen Kontroverse“ vorgetragenen Argumente mit einer Kritik, die gegen Positionen marxistisch argumentierender Vertreter der „Kritischen Theorie des Subjekts“ in der BRD vorgetragen wurde, die ihrerseits – wenngleich mit anderer Gewichtung – auf die „klassische Kontroverse“ zurückgegriffen hatten. Ich komme auf die Psychoanalyse-Rezeption in der DDR noch einmal zurück (Teil IV), will aber zunächst auf die Institutionalisierung der Psychoanalyse in der Sowjetunion eingehen. Dabei stütze ich mich auf die zwischen 1920 und 1930 in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ erschienene Berichte.

III

Die Psychoanalyse war in Rußland bereits vor der Revolution bekannt und in Ansätzen als therapeutisches Verfahren etabliert. Einige Schriften Freuds waren bereits übersetzt worden. Nikolai Osipov, der später an der Moskauer Universität Psychoanalyse lehrte, hatte (am Burghölzli nach damaligen Standards) bei C. G. Jung eine psychoanalytische Ausbildung absolviert; Moshe Wulff arbeitete als Analytiker in Odessa, nachdem er bei Karl Abraham in Berlin eine Ausbildung durchlaufen hatte. Leonid Drosnes, der den „Wolfsmann“ an Freud überwiesen und sich längere Zeit in Wien aufgehalten hatte, prak­tizierte als Psychoanalytiker in St. Petersburg. Freuds russische Anhänger hatten außerdem bereits vor der Revo­lution psychoanalytische Arbeiten in russischen Fach-Periodika publiziert.11 Für die Zeit nach der Revolution läßt sich anhand der in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ erschienenen Berichte folgende Skizze erstellen:

1921

In Leningrad werden an zwei von Bechterew geleiteten Institutionen psychoanalytische Behandlungen durchgeführt (Neiditsch 1921). Im März wird in Moskau eine psychoanalytische Vereinigung „zur Erforschung des künstlerischen Schaffens“ gegründet. Ermakov behandelt in Moskau Kinder wegen „schädlicher Einwirkungen“, die durch „Pflegepersonen“ verursacht wurden (Pappenheim 1921).

1922

In der „Zeitschrift“ erscheinen ungezeichnete Berichte (1922, 236; 1922, 390), in denen es heißt, in Moskau und in Kasan seien zwei psychoanalytische Zweigverei­nigungen gegründet worden. Zur Moskauer Gruppe gehören u. a. der Psychiatrieprofessor Bernstein, die Mathematiker Kannabich und Schmidt, der Philosophieprofessor Iljin (Präsident der Psychologischen Gesellschaft an der Universität Moskau) und Weinberg, ein Mann „vom Volkskommissariat für Volksaufklärung“. Zur Kasaner Gruppe zählen neben Ärzten die Schriftstellerin Netschinka und der Psychologe Luria, der in der „Zeitschrift“ als „Präsident der Assoziation für Sozialwissenschaft“ vorgestellt wird (1922, 525). In einem anderen Bericht heißt es: „Infolge des großen Interesses, das, Nachrichten aus Rußland zufolge, die Psychoanalyse dort in letzter Zeit nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch im Laienpublikum gefunden hat, hat der Staatsverlag beschlossen, eine spezielle Abteilung für psychoanalytische Literatur zu gründen. Redaktio­neller Leiter dieser Abteilung ist Professor Ermakov, Sekretär Dr. M. Wulff“ (1922, 237).

1923

Luria (1923a, 113-117) – der zu diesem Zeitpunkt Sekretär der Kasaner Gruppe ist – gibt in der „Zeitschrift“ einen zusammenfassenden Bericht zur Lage der Psychoanalyse in der UdSSR. Darin heißt es, eine Übersetzung der Freudschen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ sei innerhalb eines Monats vergriffen gewesen; eine zweite Auflage sei in Vorbereitung. In Moskau bestehe eine anhaltende „Nachfrage nach didaktischen Analysen“. Die vorhandenen Lehranalytiker können die Nachfrage für Lehranalysen offenbar nicht befriedigen. Weiter ist zu lesen, auf dem „Allrussischen Kongreß für Psychoneurologie“, der in Moskau stattfand (10.-15.01.1923), seien mehrere psychoanalytische Referate vorgetragen worden. Luria berichtet auch über ein Referat, dass er vor der Kasaner Gruppe gehalten hat. Darin habe er die Möglichkeiten einer Verbindung zwischen der „reflexologischen Schule“ (Pawlows) und der Psychoanalyse untersucht.12 In einem anderen Zusam­menhang behauptet Luria, die Psychoanalyse eigne sich hervorragend dazu, „die Soziologie mit der individuellen Affektlehre“ zu verbinden, ein Vorschlag (zur Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie), der später zu einem Angriffspunkt der parteimarxistischen Kritik an der Psychoanalyse werden sollte. Schließlich verweist Luria noch auf ein zweites Referat, das er zum Thema „Psychoanalyse und Marxismus“ vor der Kasaner Gruppe gehalten hat: „Die methodische Einheit von Psychoanalyse und Marxismus glaubt der Verfasser in folgendem zu finden: 1. Beide Richtungen sind durchaus analytisch; 2. beide haben mit dem menschlichen Unbewußten zu tun; 3. ihr Gegenstand ist die sozial und genetisch determinierte Persönlichkeit; 4. sie studieren die Persönlichkeitsdynamik (Triebe – Sublimation usw.)“ (Luria 1923b, 543-544). Eine weitere Notiz weist aus, daß Sabina Spielrein (vgl. zu ihren Schriften: Spielrein 1986) Mitglied der Moskauer Gruppe geworden ist. Auch Luria wechselte 1923 von Kasan nach Moskau.

Hatten sich die russischen Psychoanalytiker bis 1923 vor allem mit klinisch-therapeutischen Fragen und mit der Re­zeption neuerer Freudscher Schriften beschäftigt (vgl. den Bericht in der „Zeitschrift“ 1923, 238-239), so sahen sie sich nun mehr und mehr gezwungen, in ihren Gruppendiskussionen das Thema der Vereinbarkeit von Marxismus und Psychoanalyse auf die Tagesordnung zu setzen. Denn die Fraktionskämpfe der Bolschewisten strebten jetzt einem ersten Höhepunkt zu (vgl. Dahmer 1973, 283f.), und damit beginnt die Auseinandersetzung der Parteimarxisten mit der Psychoanalyse (die in der Parteizeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“ geführt wird).

1924

In einem von Luria (1924, 113-115) gezeichneten Bericht wird auf das von Ermakov geleitete – in der Praxis jedoch von Wera Schmidt bestimmte – „psychoanalytische Kinderheim-Laboratorium“ in Moskau hingewiesen (vgl. Schmidt 1924).13 Die Beobachtung von „Kinderspielen“, der „Kindersprache“ sowie der „Äußerungen des Sexuallebens“ der Kinder gehören zum Programm der Institution, die für die empirisch-psychoanalytische Kinderbeobachtung vorbildhaft wird. 1924 etabliert sich in Kiew eine weitere psychoanalytische Gruppe.

1925

In diesem Jahr publiziert Jurinetz in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“ seine Streitschrift gegen die Psychoanalyse – eine „weniger kenntnisreiche als borniert-agitatorische Fleißarbeit“ (Sandkühler 21971, 7). Luria (1925a, 136-137) veröffentlicht als Autoreferat in der „Zeitschrift“ die Skizze seines Vortrags, in dem er u. a. ausgeführt hatte, die Psychoanalyse „betrachte die Persönlichkeit in einer Interrelation mit der sozialen Umwelt“. Diese Auffassung widerspricht den parteimarxistischen Vorwürfen, denen zufolge der Gegenstand der Psychoanalyse das isolierte Einzelwesen (ohne soziale Genese und Verbindungen) sein sollte. Des weiteren wird auf Wygotskys Vortrag vor der Moskauer Gruppe hingewiesen, in dem die Anwendung der „psychoanalytischen Methode“ auf die „Literatur“ dargestellt worden sei. Ein weiterer Bericht Lurias (1925b, 395-398) geht dann noch einmal auf die Situation der „Psychoanalyse in Rußland“ ein. Daraus wird ersichtlich, daß sich die Psychoanalyse inzwischen massiven Angriffen ausgesetzt ist. Luria schildert zunächst die Situation vor der Revolution und gibt dann eine geraffte Skizze für die Zeit nach der Revolution. Der Bericht enthält auch einen Hinweis auf das Kinderlaboratorium. Das gesammelte Beobachtungsmaterial befinde sich im „Archiv des Instituts“. Lurias (zweck-)optimistische Zwischenbilanz lautet: „All das – und vor allem die mächtige wissen­schaftliche Entwicklung der Psychoanalyse in Rußland in den letzten Jahren – steigerte das Interesse für die Psychoanalyse in Rußland noch weiter.“ Die Auseinandersetzung mit Parteikommunisten habe zu einer Diskussion des Verhältnisses von „Psychoanalyse und Marxismus“ geführt. Einschlägige Beiträge russischer Psychoanalytiker seien in russischer Sprache in zwei Sammelbänden („Psychologie und Marxismus“ und „Psychoanalyse und Materialismus“) erschienen. Gegner der Psychoanalyse behaupteten aber, „die Psychoanalyse habe idealistische Voraussetzungen, ihre Haupttheorien hätten mit dem Materialismus wenig zu tun, ihre Metapsychologie münde in die Metaphysik ein. Der Hauptwortführer dieser Richtung, Jurinetz, leider ein philosophisch und durchaus nicht naturwissenschaftlich orientierter Mann, hat in einer Zeitschrift ‚Unter dem Banner des Marxismus’ diese Diskussion begon­nen.“ Offenbar infolge dieser Angriffe fanden in Moskau öffentliche Diskussionen statt – eine im „Haus der Presse“, die andere in der „Kommunistischen Akademie“. Dabei hatten russische Psychoanalytikern (darunter Luria) der Auffassung von Jurinetz (1925) entschieden widersprochen.

1926

Es wird über psychoanalytische Gruppen in Kiew und in Odessa berichtet. Man hoffe, „in Kürze mit der Herausgabe einer russischen Psychoanalytischen Zeitschrift beginnen zu können“ (Luria 1926a, 227-229).

1927

Wera Schmidt löst Luria vom Posten des Sekretärs der „Russischen Psychoanalytischen Vereinigung“ ab.

1928

In einem Beitrag von Wera Schmidt klingen die Nachrichten aus Rußland optimistisch: „Die äußeren Bedingungen haben sich augenblicklich günstiger gestaltet. Was der Vereinigung aber besonders fehlt, sind eine größere Anzahl gut ausgebildeter Analytiker, mit denen man ernste Arbeit in verschiedenen medizinischen Sphären und Einrichtungen beginnen könnte“ (1928, 432).

1929

Reußners Tod wird in der „Zeitschrift“ (1929, 143-144) angezeigt. Reußner sei Mitbegründer der psychoanalytischen Vereinigung in Russland und seit 1905 Mitglied der Bolschewistischen Partei sowie Teilnehmer der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs gewesen.

1930

In der „Zeitschrift“ finden sich als letzte Nachrichten aus der Sowjetunion ein Mitgliedsverzeichnis der russischen Gruppe (1930, 279) sowie ein Verzeichnis der in der Vereinigung gehaltenen Vorträge (1930, 544-545). Aus späteren Jahren gibt es keine Berichte mehr. 1939 veröffentlicht der Leningrader Psychoanalytiker Perepel in der in den USA erscheinenden Zeitschrift „Psychoanalytic Review“ jedoch eine Art Nachruf, in dem er das Jahr 1930 als Wendepunkt charakterisiert. Damals sei es in der Sowjetunion zum „Stillstand“ der Psychoanalyse gekommen. Perepel fordert die Psychoanalytiker in aller Welt auf, den in der Sowjetunion verbliebenen Kollegen zur Seite zu stehen, da das Schicksal der Psychoanalyse unter Stalin nicht besser sei als das unter Hitler (vgl. Nitzschke 2003). Der Artikel endet mit der vagen Hoffnung, die Zukunft der Psychoanalyse im Sozialismus könnte vielleicht doch noch besser werden als die im Faschismus.14

 

IV

Sand­kühler kommt bezüglich der „klassischen Kontroverse“ wie im Hinblick auf die Situation der Psychoanalyse in der UdSSR in den 1920er Jahren zu folgendem Urteil: „Die Fronten, nur im Kopf der Ideologen begradigt, laufen kurios verquer“ (21971, 7). Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an Wilhelm Reich, der im Verlauf der Debatte die Psychoanalyse in naturwissenschaftlicher Perspektive dargestellt und als Hilfswissenschaft des Marxismus vorgestellt hatte. In einer späteren Phase seines Lebens vertrat Reich, der 1933 aus der KP wie aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde (vgl. Nitzschke 2002), dann eine mystisch anmutende, aus seiner Sicht jedoch ebenfalls „naturwissenschaftlich“ fundierte (Orgon-)Theorie. Die Minderzahl von Psychoanalytikern, zu der Reich gehörte, die in den 1920er Jahren in Deutschland und Osterreich marxistische Positionen vertraten und offen gegen den drohenden Faschis­mus ankämpften, mußte sich damals von Parteimarxisten heftige Vorwürfe gefallen lassen (bezüglich Revisionismus, Opportunismus, Idealismus etc.). Andererseits waren Wissenschaftler, die sich als entschiedene Verfechter des Marxismus verstanden und vor der Oktoberrevolution gegen das zaristische Regime gekämpft hatten, Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung in Russland.

Lange Zeit waren die Parteimarxisten unschlüssig, wie sie den wissenschaftstheoretischen Standort der Psychoanalyse bestimmen sollten. Extreme und weniger eindeutige Positionsbeschreibungen zwischen Materialismus und Idealismus standen zur Verfügung. Schließlich geriet die Psychoanalyse in der Sowjetunion zwischen alle Fronten einer so genannten „objektiven“ und einer so genannten „subjektiven“ Psychologie. Die einen behaupteten, die Psychoanalyse beschäftigte sich nur mit dem Individuum – und machten ihr gerade dies zum Vorwurf; während die anderen meinten, die Psychoanalyse eigne sich als Fundament einer Sozialpsychologie, vielleicht sogar der Soziologie – und wurden gerade wegen dieser Positionsbestimmung angegriffen, da Parteimarxisten die Soziologie als ihre ureigene Domäne begriffen.

Schließlich wurde auch der Vorwurf erhoben, die Psychoanalyse stehe in der Tradition von Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Driesch und anderen Vertretern der „Lebensphilosophie“, eine Einschätzung, die auch Kätzel (im Hinblick auf die Freudschen Schriften ab 1920) teilt. Sandkühlers abschließendes Urteil lautet: Stoljarovs (1930) „Abrechnung mit den russischen Freudo-Marxisten“ zeige, daß der Kampf gegen die Psychoanalyse in der Sowjetunion notwendig gewesen sei, da eine „objektive Gefährdung der marxistischen Position“ bestanden habe (21971, 8). Ohne dieses Urteil zu teilen, meine ich, das Verbot der Psychoanalyse in der Sowjetunion (dem Dahmer – 1973, 277, Anm. 44 – nur eine beiläufige Bemerkung gönnt) sei im Kontext der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der Sowjetunion zu würdigen. Es ging in der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“, deren Redaktionskollegium Deborin vorstand, nicht nur um die Psychoanalyse; vielmehr wurde der Kampf gegen den „Freudismus“, in dem Argumente vorgetragen wurden, die im Kampf gegen „Abweichler“ allgemein galten, als Beispiel begriffen. Die Beispielhaftigkeit dieses Kampfes erhellt eine Äußerung Deborins: „Ein Marxist und Revolutionär (...) muß es wissen, daß die derzeitige Kritik des Marxismus unter dem Banner des Freudismus geführt wird (...). Man mußte offen und entschieden gegen den Freudismus auftreten (...).“ Schließlich behauptete Deborin, auf Axelrod deutend, es gebe Versuche, den „Marxismus im Brei des Freudismus auf(zu)lösen oder durch den Freudismus (zu) ‚ergänzen’“ (Deborin – zit. n. Dahmer 1973, 286f.).

Wenn es in den 1930er Jahren – nach dem Ende der „klassischen Kontroverse“ und nach dem Verbot der Psychoanalyse in der Sowjetunion – klar war, welchen Standpunkt ein Parteimarxist Freud und der Psychoanalyse gegenüber einzunehmen hatte, so wurde dieser klare Standpunkt in der DDR spätestens in den 1980er Jahren wieder infrage gestellt. Jetzt erschienen in der DDR Teile von Freuds Werken (1982, 1984, 1985). Die damit verbundene Neubewertung (bei anhaltender Ab­lehnung von Freuds kulturtheoretischen Auffassungen) hatte jedoch bereits in den 1970er Jahren begonnen – bei der Bernburger Arbeitstagung, die anläßlich des 125. Geburtstages von Freud stattgefunden hatte (vgl. den von Katzenstein et al. herausgegebenen Symposiums-Band, 1981). Eine zusammenfassende Skizze des neu gewonnenen und in mancherlei Hinsicht doch sehr alten Standpunkts bietet Thom, einer der Herausgeber der Freudschen Werke in der DDR. Er schreibt: „Aus heutiger Sicht können die seinerzeit (d. h. die in den 1920er und 1930er Jahren – B. N.) gegen die Psychoanalyse als Gesellschaftslehre und Form der Ideologie vorgetrage­nen Einwände als berechtigt und sachlich begründet angesehen werden. Dies gilt auch für die damals in den Mittelpunkt gerückte These, daß die marxistisch-leninistische Gesellschaftstheorie, der historische Materialismus und die psychoanalytische Auffassung von der Kulturentwicklung miteinander unvereinbar sind. Als problematisch erscheinen dabei dem objektiv urteilenden Leser von heute die oft verwendeten etikettierenden Termini, nach denen Freuds Denken in allen möglichen ‚---ismen’ (den Biologismus, den Psychologismus, den Soziologismus u. a.) aufgeteilt wurde. Für das Verständnis dieser Argumentationsweise, wie auch der ausschließlich abwehrenden Haltung gegenüber dem erwähnten Anspruch einer ,Vereinigung’ (von Marxismus und Psychoanalyse – B. N.), muß jedoch die komplizierte Situation der kommunistischen Bewegung in jenen Jahren in Rech­nung gestellt werden. Damals war die Herausarbeitung der wissenschaftlich begründeten und unverrückbaren Standpunkte zu weltanschaulichen und speziell gesellschaftstheoretischen Grundsatzfragen absolut lebensnotwendig, um dem breiten Ansturm der bürgerlichen Ideologie auch in Gestalt vielfältiger ,Revisionsversuche’ standhalten zu können. Ähnliche Konstellationen und Motive waren es auch, die in den Jahren nach 1945 die primär ablehnende Haltung neuer Generationen von marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaftlern der Psychoanalyse gegenüber bestimmt haben (...). Der inzwischen gewachsene historische Abstand zu den Anfängen (...) der Psychoanalyse und die inzwischen erreichte Reife und Stabilität der marxi­stisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft geben uns heute jedoch die Möglichkeit, Freuds gesamtes Werk vielseitiger und besser zu beurteilen“ (1984, 421). Dieser „Neubewertung“ folgte eine selektive Aneignung des Freudschen Werkes, dessen neurosentheoretische und therapeutische Konzepte unter pragmatischen Gesichtspunkten akzeptiert wurden. Die klinische ‚Relevanz’ der Psychoanalyse, wie sie jetzt in der DDR eingeschätzt wurde, referiert Katzenstein (1981, 196), der die folgenden Leistungen Freuds herausstellt:

  1. Freud habe an Stelle einer „statisch-deskriptiven atomistischen“ Sicht eine „dynamisch-ganzheitliche Betrachtungsweise“ in der Psychotherapie durchgesetzt;
  2. Freud habe im Gegensatz zum „frühbürgerlichen Rationalis­mus“ die „Aufmerksamkeit auf emotionale und unbewußte Abläufe“ gelenkt;
  3. Freud habe eine „Systematik“ für die „Analyse“ des „Therapeut-Patient-Verhältnisses“ erarbeitet.

Katzensteins (1981) schlägt vor, die klinisch-therapeutischen Konzepte der Psychoanalyse in das marxistische Gesellschafts- und Menschenbild einzubetten, um sie sinnvoll für die sozialistische Psychotherapie verwenden zu können. Weiterhin wurde allerdings unterstellt, Freuds Menschenbild bemühe eine „Robinsonade“ (Kätzel 1977, 97). Gegen dieses Menschen-Bild (das der Psychoanalyse fälschlich unterstellt wurde) wurde dann der (nicht zu bestreitende) Einwand erhoben, es gebe keine „isolierten Menschen“ (Katzenstein 1981, 197) – abgesehen davon, daß es emotional „isolierte Menschen“ im Sinne der Psychopathologie sehr wohl gibt, auch wenn das nicht bedeutet, die in psychotischen und neurotischen Störungen enthaltene emotionale Isolation sei unabhängig von sozialen Bedingungszusammenhängen zu verstehen.

Der „Ideologiegehalt der Freudschen Psychoanalyse“ (Groscheck 1979) wäre auf diese Weise von deren klinisch-psychotherapeutischer Nützlichkeit zu scheiden. Die Anschlußforderung für „eine marxistisch orientierte Therapiekonzeption“ lautet, die „objektiven gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen und die sich aus ihnen ergebenden oder sich reibenden Widersprüche, die verzerrt im Bewußtsein widergespiegelt werden“, wären als „wichtiger Inhalt des therapeutischen Gespräches“ aufzufassen (Groscheck 1979, 150). Dieser Vorschlag mißversteht die Eigenart des (vom Alltagsdiskurs verschiedenen) psychoanalytischen Diskurses, dessen Intention auf unbewußte Inhalte (d. h. auf die durch gesteuerte Regression wieder erlebbaren infantilen Phantasiebildungen) abzielt. Hidas wiederum meint, Übertragung und Gegenübertragung seien wichtige Entdeckungen der Psychoanalyse, sie wären jedoch in eine „komplexe Psychotherapie“ (1976, 660) zu überführen. Das ist das Ziel aller Vorschläge, die darauf abzielen, psychoanalytische Konzepte aus dem originär psychoanalytischen Behandlungs- und Beobachtungsfeld herauszulösen und in eine ‚übergreifende’ Psychotherapie zu integrieren. Entsprechende Vorschläge wurden immer wieder gemacht – nicht nur von Parteimarxisten, auch von Psychoanalytikern, die das psychoanalytische Verfahren effektiver gestalten wollten; auch unter Hitler, als man die „deutsche Seelenkunde“ erfand; und neuerdings von Grawe, der eine Super-Psychotherapie imaginiert. Die in der DDR geführte Debatte diente einem vergleichsweise bescheidenerem Ziel: Die als nützlich erachteten Freudscher Konzepte sollten von ‚Ballast’ befreit und dann in eine „sozialistische“ Psychotherapie integriert werden.

Kehren wir noch einmal kurz zurück zur Marx-Freud-Debatte. Thom (1981) hat die historischen Stufen der Marx-Freud-Debatte aus parteimarxistischer Sicht so zusammengefaßt:

  1. Sozialdemokratisch orientierte Psychoanalytiker wie Alfred Adler (vgl. die Diskussion in der „Mittwochgesellschaft“ 1909) hätten marxistische Gedanken in die Psychoanalyse einzuführen versucht. Bis 1920 sei auch Freuds Denken progressiv gewesen (Thom nennt als Beispiele hierfür: Freuds Kampf gegen die bürgerliche Sexualmoral sowie die Entwicklung des Neurosenkonzepts und der Therapietechnik).
  1. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges habe Freud dann aber immer lauter in Widerspruch zur marxistischen Gesellschaftsanalyse stehende Thesen vorgetragen. Die Arbeiten von Kolnai (1920) oder Federn (1919) hätten diese „antikommunistische Wendung“ (1981, 188) befördert, die zu einer Diskreditierung des Marxismus durch die Psychoanalyse geführt habe. Thom hebt dabei die folgenden Punkte hervor: (a) den unter Berufung auf psychoanalytische Konzepte geführten Kampf gegen die Arbeiterbewegung; (b) die Versuche, Marxismus durch Psy­choanalyse zu „ergänzen“, die zur Verwirrung geführt hätten; (c) die dadurch ausgelöste ideologische Desorientierung innerhalb der marxistischen Bewegung durch Autoren wie Wilhelm Reich, den man deshalb bekämpft habe.
  1. Als dritte Stufe der Marx-Freud-Debatte begreift Thom die 68er-Diskussion über Marxismus und Psychoanalyse, in deren Verlauf die von der „Frankfurter Schule“ während der Emigrationszeit entwickelte „Kritische Theorie“ aufgegriffen worden sei. Daraus hätten sich die „Kritische Theorie des Subjekts“ (Lorenzer, Horn, Dahmer u.a.), aber auch die von Thom in Fragen der Psychoanalyse-Kritik als kompetent eingeschätzte Holzkamp-Schule entwickelt.15 Der DDR-spezifische Standpunkt (Psychoanalyse und Marxismus zu vereinbaren) wird von Thom mit der zuletzt genannten Richtung verbunden.

V

Es ist sinnvoll, die Diskussionsbeiträge der „Frankfurter Schule“ als eigenständige Etappe der Marx-Freud-Debatte aufzufassen, da sie sich in spezifischer Weise von anderen Beiträgen zur Marx-Freud-Debatte unterscheiden. Kennzeichen der in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ vor 1933 begonnenen Diskussion ist die Anerkennung des Widerspruchs zwischen Individuum und Gesellschaft (Psychoanalyse als kritischer Theorie des Subjekts und Marxismus als kritischer Theorie der Gesellschaft), der nicht durch theoretische Taschenspielertricks aus der Welt zu schaffen ist. Der Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft bleibt unversöhnt (vgl. Dahmer 1971, Jacoby 1978). Dieser Verzicht auf fundamentale Versöhnung führte bei vielen 68er-„Revolutionären“ – nach anfänglich euphorischer Rezeption der „Kritischen Theorie“ – zu heftigen Vorwürfen (die insbesondere gegen Adorno erhoben wurden).

Auch die Beiträge, die Psychoanalytiker in die „klassische Kontroverse“ ein­gebracht hatten, fanden in den Diskussionen der „Frankfurter Schule“ und in der 68er-Debatte eine Fortsetzung. So reicht eine Diskussionslinie von Wilhelm Reich über Herbert Marcuse bis zu Theoretikern der 68er-Bewegung. Auch Erich Fromm wäre zu erwähnen, wenngleich Kovel (1976) meint, Fromms Arbeiten hätten dazu beigetragen, die Radikalität des Denkens von Marx wie von Freud zu entschärfen. Doch „Fromm brachte die Ideen Reichs und Bernfelds (in differenzierterer Fassung) in die großen theoretisch-empirischen Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung (über Autorität und Familie und den autoritätsgebundenen Charakter) ein“ (Dahmer 1971, 68).

Neben Horkheimer und Adorno waren es vor allem Wilhelm Reich (1927, 1932, 1933a, 1933b) und Herbert Marcuse (1957, 1965), deren Schriften den 68ern die Werke von Freud und Marx vermittelten, bevor sie den Abstieg zu den „Vätern“ wagten und Marx und Freud im Original lasen. Das politische Scheitern der Revolte führte allerdings rasch zur Selbstkritik – und damit verbunden zu einer Zurückweisung der Positionen der „Frankfurter Schule“. Beispiel für die vorschnelle Aneignung und ebenso rasche Verwerfung ist das (seinerzeit häufig zitierte) Buch „Sexualität und Klassenkampf“ (1968) von Reimut Reiche. Da sich die Praxis (des „Klassenkampfes“) der (kritischen) Theorie nicht so gebeugt hatte, wie vorgesehen, sah sich Reiche bereits im Vorwort, das er 1971 der Neuausgabe seines Buches beigab, zur (Selbst-)Kritik gezwungen. Nun klagte er, sein Werk sei in der Entwicklung seines Gegenstandes weitgehend der kritischen Theorie verpflichtet gewesen, „die eine schiefe Anwendung des historischen Materialismus“ repräsentiere, „da sie ihren Begriff vom falschen Bewußtsein – inklusive der psychischen Seite dieses Begriffs – weniger einer Analyse der jeweiligen Produktionsverhältnisse und der entsprechenden Formen der Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, als einer fast ausschließlich theoriegeschichtlichen Reflexion auf Interpretationen über das Verhältnis von Sein und Bewußtsein“ verdanke (1971, 7). Später distanzierte sich Reiche (1995) noch etwas radikaler von seiner schein-radikalen Vergangenheit und zog sich auf die Position einer gesellschaftsfernen Psychoanalyse bzw. auf die des selbstgenügsamen Psychoanalytikers zurück (der er inzwischen geworden war).

Reiches Vorwurf an die Adresse der „Frankfurter Schule“ lag ein Mißverständnis zugrunde, das durch die nachtragende Kritik im Vorwort der Neuausgabe von 1971 auch nicht aus der Welt geschafft werden konnte: Die wichtigsten Repräsentanten der „Frankfurter Schule“ hatten keine Anleitung zur revolutionären Umgestaltung der Welt gegeben (sieht man von Herbert Marcuse und Erich Fromm) ab. Sie hatten keine utopische Hoffnungen genährt; vielmehr hatten sie bezüglich der Verbesserbarkeit der Welt stets Skepsis zum Ausdruck gebracht. – Anders Wilhelm Reich: dessen Schriften forderten unrealistische Utopien geradezu heraus. Ich zitiere – beispielhaft – aus einer Schrift, die Reich unter dem Pseudonym Ernst Parell veröffentlicht hat. Darin heißt es: „Die revolutionäre Sexualpolitik erstrebt die Entwurzelung und Vernichtung aller Bedingungen und Voraussetzungen, die zur Entstehung asozialer Triebe führen. Sie ist der Überzeugung, daß mit der Vernichtung der moralischen Regulie­rung die asozialen Triebe, und mit den asozialen Trieben die Notwendigkeit der moralischen Vorschriften aufgehoben werden kann und wird (...). Die revolutionäre Sexualpolitik erkennt die Notwendigkeit an, die Ehe des Patriarchats aufzuheben, d. h. die sexuelle Bedürfnisbefriedigung vollständig loszulösen von jeder Art materieller und struktureller Bindung. Sie erstrebt, ganz bewußt und ohne es zu verheimlichen, die völlige Aufhebung der Eheinstitution. An ihre Stelle wird nach ihrer Auffassung eine Art sexueller Dauerbeziehung treten, die in vielem mit den Paarungsehen der vor-patriarchalischen Zeit Ähnlichkeit haben wird“ (1935, 100). Solche und ähnliche Hoffnungen, die sich einem geschichtsfreien Romantizismus verdanken, mußten enttäuscht werden.

Die fünfte (und vorerst letzte) Stufe der Marx-Freud-Debatte hatte inmitten der 68er-Diskussion begonnen und setzte sich nach dem Scheitern der Revolte als „Kritische Theorie des Subjekts“ fort. Nun galt es, nicht mehr nur über die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch über den Widerspruch zwischen (individueller) Phantasie und (gesellschaftlicher) Realität aufzuklären. Vor allem sollte es Marx nicht mehr ohne Freud (keine Gesellschaftstheorie ohne Theorie des Unbewußten) und Freud nicht mehr ohne Marx (keine Psychologie des Unbewußten ohne Bezug zur politischen Geschichte) geben. An diese Arbeit der Ernüchterung machte sich u. a. Lorenzer, der Marcuse kritisierte (1973, 67ff.), aber auch Fromm, dem er vorwarf, „unter der Hand den Bezug zum Freudschen Materialismus der Triebpsychologie“, wie den „zu den konkreten Produktionsverhältnissen“ verloren zu haben (1973, 66). Die Fronten verliefen also nicht nur während der Debatte der 1920er Jahre „kurios verquer“ (Sandkühler 21971, 7); sie verliefen auch 1968ff wieder „kurios verquer“.

Und damit kehren wir noch einmal zur parteimarxistischen Sicht – genauer: zu der in der (damaligen) DDR vorgeschriebenen Einschätzung der „Frankfurter Schule“ und der „Kritischen Theorie des Subjekts“ zurück. Im „Philosophenlexikon“ von Lange und Alexander (1982, 41987) lesen wir, der „Linksliberalismus (Frankfurter Schule)“ sei von Nietzsche beeinflußt, ein Vorwurf, der – da Nietzsche als geistiger Vorläufer des Faschismus galt – gravierend war. Und in einem Beitrag über Freud (289-296) heißt es in diesem Lexikon: Die „Frankfurter Schule“ sei als Bindeglied zwischen den Freudo-Marxisten der 1920er Jahre und den Vertretern der „Kritischen Theorie des Subjekts“ zu verstehen. Letztere würden einen „neuerlichen Versuch der Revision des Marxismus-Leninis­mus“ unternehmen und die „linksbürgerliche Ideologie eines ‚dritten Weges’“ propagieren. Im selben Beitrag werden die Vertreter der „Kritischen Psychologie“ (gemeint ist die Holzkamp-Schule) als kompetente Kenner und Kritiker der Psychoanalyse vorgestellt, eine Einschätzung, die – wenn man an den Beitrag von Holzkamp-Osterkamp (1975, 1976) zur Psychoanalyse denkt16 – einigermaßen gewagt erscheint.

Wie dem auch sei: Die Marx-Freud-Debatte, die 1909 in Wien in der „Mittwochgesellschaft“ begann und mit den Diskussionen der 68er und ihrer Nachfolger ein vorläufiges Ende fand (wobei ich nur die ‚großen’ Debatten herausgegriffen habe und auf zahlreiche Einzeldebatten nicht eingegangen bin, die oftmals lokalen Charakter hatten17), läßt keine klaren und eindeutigen Trennlinien zwischen Marxisten und Freudianern erkennen. Marx und Freud sind sich so fremd geblieben wie Gesellschaft und Individuum – also sind sie innig miteinander verbunden.18

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Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals erschienen ist unter dem Titel Marxismus und Psychoanalyse. Historische und aktuelle Aspekte der Marx-Freud-Debatte in: Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 2 (Heft 3), 1989, 108-138.


Fußnoten:

1 Vortrag, gehalten bei der VIth Conference of the European Society for the History of the Behavioral and Social Sciences, Brighton, England, 2.-6. 9. 1987. Der vorstehende Text ist die stark überarbeitete Fassung der Erstpublikation dieses Vortrags, die unter dem Titel „Marxismus und Psychoanalyse. Historische und aktuelle Aspekte der Marx-Freud-Debatte“ in „Luzifer-Amor – Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse“ 2 (Heft 3), 1999, 108-138, erschienen ist.

2 So heißt es zum Beispiel bei Kätzel: Marxistische Theoretiker (gemeint ist an dieser Stelle: Sapir) hätten den „Nachweis“ erbracht, „daß die Psychoanalyse aufgrund ihres falschen methodologischen Ausgangspunktes notwendigerweise zu soziologischen Irrtümern kommen muß. Damit hatte sich erneut gezeigt, daß individualpsychologische Kategorien gesellschaftliche Tatbestände nicht erklären können, sondern im Gegenteil zu überflüssigen Spekulationen führen“ (1987, 143).

3 In einer polemischen Passage, die sich gegen den Glauben richtet, die gesellschaftlichen Bedingungen müßten nur hinreichend verändert werden, damit die Menschen sich endlich „gut“ verhalten könnten, schreibt Freud: „Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht“ (Freud 1930, 472f.).

4 Freud rechtfertigt an dieser Stelle seine Sympathie für soziale Revolutionen mit dem Hinweis auf eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen. – Die Formen der Unterdrückung, auf die er sein Hauptaugenmerk richtet, beziehen sich allerdings auf emotionale Inhalte und – erweitert – auf emotionale Strategien der Unterdrückung. In einem Brief an Werner Achelis vom 30. 1. 1927 erläutert Freud(21968, 390), an welche Form von „Aufruhr“ er in erster Linie dachte. Er habe das der „Traumdeutung“ vorangestellte Motto (flectere si nequeo superos, acheronto movebo; dt.: Kann ich die höheren Mächte nicht beugen, bewege ich doch die Unterwelt), ein Zitat aus Vergils „Äneis“ (VII, 312), „von Lasalle entlehnt, bei dem es gewiß persönlich gemeint war und sich auf soziale – nicht psychologische – Schichtung bezog. Bei mir sollte es bloß ein Hauptstück aus der Dynamik des Traumes hervorheben. Die Wunschregung, die von den oberen seelischen Instanzen zurückgewiesen wird (...), setzt die seelische Unterwelt in Bewegung, um sich zur Geltung zu bringen“ Freud war gewiß kein Prophet des Auslebens der Wünsche („Triebe“); dem Denken wollte er aber keinerlei Schranken auferlegen. Daher seine Skepsis gegenüber dem real praktizierten Sozialismus: „In seiner Verwirklichung im russischen Bolschewismus hat nun der theoretische Marxismus die Energie, Geschlossenheit und Ausschließlichkeit einer Weltanschauung gewonnen, gleichzeitig aber auch eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem, was er bekämpft. Ursprünglich selbst ein Stück Wissenschaft, in seiner Durchführung auf Wissenschaft und Technik aufgebaut, hat er doch ein Denkverbot geschaffen, das ebenso unerbittlich ist wie seinerzeit die Religion. Eine kritische Untersuchung der marxistischen Theorie ist untersagt, Zweifel an ihrer Richtigkeit werden so geahndet wie einst die Ketzerei von der katholischen Kirche“ (Freud 1933, 194f.).

5 Zur Situation der Psychoanalyse in Rußland vor und nach der Revolution s. Neiditsch (1910); Laqueuer (1956); Fischer, Fischer (1977); Lobner, Levitin (1978); Carotenuto (1986, 324ff.) und in diesem Zusammenhang Spielrein (1921); Miller (1986); Tögel (1987).

6 Zum Thema Psychoanalyse und Nationalsozialismus s. Lohmann (1984); Lockot (1985); Brecht et al. (1985); Nitzschke (1999); Fallend, Nitzschke (2002).

7 In einer späteren Arbeit von Kolnai (1923) wird dessen antimarxistische, von reaktionären Visionen begleitete Einstellung offensichtlich. Diese Arbeit erschien in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“. Kolnai charakterisiert hier seinen Standpunkt wie folgt: „Und so dünkt es uns, wenn nun bald auf den Trümmern der mißglückten marxistischen Gesellschaftsumwälzung die geistige Vorbereitung einer neuen personalistischen und das flache Land mit in Rücksicht ziehenden Sozialreform an der Reihe sein wird, eines neuen Freisinns jenseits des alten mechanistisch-puritanischen Liberalismus, so wird die Psychoanalyse um die Geheimnisse der libidinösen Befriedigung und rationalen Freiheit des Menschen, um die Möglichkeit der selbstlenkenden Kulturpersönlichkeit befragt werden müssen“ (1923, 355f.).

8 Vor allem Jurinetz (1925) bezieht sich in seiner Polemik gegen die Psychoanalyse auf die Arbeit von Kolnai (1920). Jurinetz zählt aber auch Schopenhauer und Bergson, die in seinen Augen als Reaktionäre zu gelten haben, zu den Freud verwandten Geistern. Bernfeld verurteilte die Schrift von Jurinetz als „erschreckend oberflächliche, von keiner Sachkenntnis getrübte, leitartikelartig verwilderte“ Arbeit (1970, 83). Jurinetz hatte Freud mit Nietzsche verglichen und konstatiert, bei beiden rieche „das Psychische nach dumpfer, fauler Spitalluft“ (21971, 99). Ein Artikel, mit dem Wilhelm Reich 1929 in die Debatte eingriff, wurde von der Redaktion der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“ mit der Vorbemerkung eingeleitet: „Die Redaktion hält es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß sie die vom Autor gegebene Darstellung und Einschätzung der Freudschen Lehre nicht teilt“ (Reich 21971, 137, Anm. 1). Sapirs Arbeit wiederum war eine Replik auf den Beitrag von Reich. Sapirs Fazit lautete: „Den Freudismus als System lehnen wir ab, was uns durchaus nicht hindert, den hohen wissenschaftlichen Wert einzelner Lehrsätze der Psychoanalyse anzuerkennen, besonders wenn diese von den zahlreichen Entstellungen gereinigt werden, denen sie im allgemeinen System der psychoanalytischen Ansichten unterworfen sind“ (21971, 246). Diese Einschätzung entspricht der Psychoanalyserezeption in der späteren DDR. Bernfeld hatte im Auftrag von Freud 1932 in die Debatte eingegriffen. Er wendet sich ebenso (wie Sapir – wenngleich aus anderen Motiven) gegen den Versuch Reichs, die Psychoanalyse als Hilfswissenschaft für den Marxismus zu empfehlen. Andererseits plädiert Bernfeld aber auch für eine Annäherung von Marxisten und Psychoanalytikern, die allerdings nicht das „Opfer des Intellekts“ kosten dürfe.

9 Die Herausgeber der englischen Übersetzung des Werkes von Volosinov stellen fest, daß über dessen weiteres Schicksal nichts bekannt sei. Alle Hinweise auf Volosinov seien ab Mitte der 1930er Jahre verschwunden; erst in den 1960er Jahren sei er in sowjetischen Publikationen wieder zitiert worden. 1973 behauptete der sowjetische Philologe Ivanov, die Hauptwerke Volosinovs seien Baxtin zuzuschreiben (der in den 1930er Jahren verhaftet und in den 1960er Jahren rehabilitiert wurde); Volosinov habe an den entsprechenden Büchern nur mitgearbeitet (vgl. Bruss, Titunik 1976, XIIf.). Im englischen Werk Volosinovs fehlt das letzte Kapitel, das die Auseinandersetzung mit Bykowsky, Luria, Fridman und Zalkind enthält. Es erschien unter dem Namen Bakhtins als separate Übersetzung (Bakhtin 1985; vgl. Cole 1985).

10 Wilhelm Reich wurde Ende 1933 aus der KP ausgeschlossen. Groteskerweise war er kurz zuvor aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) u.a. deshalb ausgeschlossen worden, weil er als Kommunist eine Gefahr für den Weiterbestand dieser Gesellschaft unter Hitler darstellte. Reichs DPG-Ausschluß wurde von den Funktionären der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) im Sommer 1934 bestätigt. Reich (1935a) schildert seine Ausgrenzung beim 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Luzern (26.-31. 8. 1934), wobei er u.a. aus einem an ihn gerichteten Schreiben zitiert, in dem es heißt: „Sehr geehrter Herr Kollege! Der (Internationale Psychoanalytische) Verlag will zum Kongreß einen Kalender mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung herausbringen. Die Situation läßt es nun dringend geboten erscheinen, daß Ihr Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser Maßnahme einverstanden erklären würden“ (Reich 1935a, 55). Reich brachte dem „Gegebenen“ allerdings nicht jenes „Verständnis“ entgegen, das die opportunistischen Vertreter der Psychoanalyse forderten, die das Verbot der Psychoanalyse im Hitler-Staat durch Verbeugungen zu verhindern versuchten; also schloß man ihn aus (vgl. Nitzschke 1999, 2002, 2003).

Ein politischer Weggefährte Reichs, Otto Fenichel, hatte in der von Reich im Exil herausgegebenen „Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie“ noch 1934 publiziert. Später beklagte sich Reich über Fenichel und andere vormalige Kampfgenossen, die ihm nicht zur Seite gestanden hätten, als es in Luzern um den Ausschluß aus der IPV ging. Fenichel äußerte dazu später, „das Wichtigste, was ich gegenwärtig für die psychoanalytische Bewegung tun kann, ist, mich nicht hinauswerfen zu lassen“ (zit. n. Jacoby 1985, 110). Duckmäusertum, Angst, Einschüchterung, Rechthaberei und Ausgrenzung Andersdenkender waren in der IPV keine unbekannten Erscheinungen. Eissler, der Verwalter des Sigmund-Freud-Archivs, verweigerte noch sehr viel später Einsicht in Dokumente, als Jacoby die Geschichte „linker“ Freudianer zu rekonstruieren versuchte (vgl. Jacoby 1985, 9). – Zur Person und zum Werk Wilhelm Reichs s. Büntig (1977); Fallend, Nitzschke (2002).

11 Zur Situation der Psychoanalyse im vorrevolutionären Russland s. Wulff (1911). Zu Wulff, der ein wichtigen Pionier der russischen Psychoanalyse war und sich später, nach seiner Emigration nach Palästiná, Woolf nannte s. Jaffe (1966), Kloocke (2002). Laut Rickman (1928) waren in Rußland vor der Revolution bereits die folgenden Bücher von Freud erschienen: Freud 1900, 1901, 1904, 1905, 1907, 1908, 1909, 1910, 1911, 1912a, 1912b, 1912c, 1913). Weitere Schriften Freuds in russischer Sprache waren in Sammelbänden enthalten.

12 Vgl. Lurias (1926b) Beitrag über Psychoanalyse und die „moderne russische Physio­logie“, der in der „Zeitschrift“ erschienen ist. Die Versuche Lurias und anderer Autoren, Freud und Pawlow zu verbinden, faßt Kätzel als Ausdruck eines „vereinfachten, mechanisch-materialistischen Standpunkts“ auf (1981, 194).

13 Wera Schmidts Pionierarbeiten auf dem Gebiete der psychoanalytischen Kinderbeobachtung fanden in Bernfeld (1921) und Aichhorn (1925) Anreger und Begleiter (Nitzschke 1978).

14 Hinsichtlich der Einschätzung der Situation der Psychoanalyse in der Sowjetunion Ende der 1920er Jahre hatte es unter Psychoanalytikern eine Kontroverse gegeben. Wilhelm Reich, von einer Reise in die Sowjetunion zurückgekehrt, meinte: „Von einer psychoanalytischen ‚Bewegung’ in der Sowjetunion kann, wenn man darunter dasselbe wie in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten versteht, nicht gesprochen werden.“ Anders die Einschätzung von Miller (1986, 130) unter Berufung auf Marti, die behauptet, Mitte der 1920er Jahre hätten Russen etwa 1/8 aller Mitglieder der IPV gestellt (vermutlich einschließlich der Exil-Russen?). Reich fährt fort, es gebe in der Sowjetunion zwar eine Psychoanalytische Vereinigung, aber nur wenig praktizierende Ärzte (Analytiker). „Und der erste Eindruck“ gegenüber der Psychoanalyse, „den man sonst gewinnt, ist der der Ablehnung“ (1929b, 358). Weiter berichtet Reich, daß er in Moskau einen Vortrag („Psychoanalyse als Naturwissenschaft“) gehalten und mit Sapir diskutiert habe. Seinen eigenen Standpunkt beschreibt Reich so: Die Psychoanalyse sei eine Naturwissenschaft, die soziale Erscheinungen „wie Klassenbewußtsein, Streikwille usw.“ (1929b, 362) nicht erklären könne. Die Erklärung derartiger Erscheinungen falle in den Kompetenzbereich der (Kommunistischen) Partei. Die Arbeit Reichs über die Situation der Psychoanalyse in Rußland, hatte bei Wulff heftigen Widerspruch hervorgerufen: „Was aber am Artikel Reichs so sonderbar auffällt, ist der Umstand, daß mit keinem einzigen Wort das große Interesse erwähnt wird, das die Psychoanalyse in den weiten Kreisen der Intelligenz außerhalb der kommunistischen Partei, bei den Wissenschaftlern, Pädagogen, Juristen, teilweise sogar bei den Ärzten, schon seit Jahren, ja noch vor dem Kriege gefunden hatte, daß auch jetzt jedes psychoanalytische Büchlein, wenn es nur erscheinen kann, schnell ausverkauft wird (...). Man kann mit Sicherheit behaupten, daß in Rußland eine starke und fruchtbare Bewe­gung sich entwickeln könnte, wenn sie nicht von offizieller Seite so energisch bekämpft würde. Was aber Reich geschildert hat, ist die Stellung der in der Sowjetunion regieren­den kommunistischen Partei zur Psychoanalyse, und so hätte eigentlich sein Aufsatz beti­telt werden sollen“ (1930, 75). Der Titel der Arbeit von Reich lautet: „Die Stellung der Psychoanalyse in der Sowjetunion.“ Nach seinem KP-Ausschluß, vor allem aber nach Inkrafttreten des so genannten „Homosexuellen-Gesetzes“ (ein „tief bedauerlicher Atavismus“ – Epstein 1935, 51), än­derte Reich seine Meinung über die Sowjetunion (vgl. Reich 1935b).

15 Mit Hinweis auf Veröffentlichungen von Autoren der Holzkamp-Schule schreibt Thom, es bestehe kein „Zweifel daran, daß zwischen den Freudschen Ansichten und denen einer empirisch begründeten Psychologie auf marxistisch-leninistischer Grundlage unüberbrückbare Gegensätze bestehen“ (1981, 190). Und dann folgt die einschränkende Bemrrkung: „Alle diese Feststellungen schließen nun aber keineswegs aus, daß mit der gleichen Sorgfalt geprüft wird, ob und inwieweit die in erster Linie an klinische Erfahrungen anknüpfende Freudsche Psychopathologie und Therapietechnik rationale Elemente enthält, die in moderne Erkenntnisse einzelwissenschaftlicher Art integriert werden können“ (1981, 191).

16 Unter der griffigen Kapitelüberschrift „Die Gegenüberstellung ‚des’ bedürftigen Individuums und ‚der’ versagenden Gesellschaft als ein Grundirrtum psychoanalytisch-sozialisationstheoretischen Denkens“ stellt Holzkamp-Osterkamp (1976, 318ff.) ihr Zerrbild der Psychoanalyse vor, das – wie sie glaubt - zu Lasten der Psychoanalyse gehe. So lastet sie Freud beispielsweise den „Fehler“ an, die Funktion der Eltern für das Kind nur im Hinblick auf die „Befriedigung oder Versagung unmittelbarer Triebbedürfnisse“, nicht aber deren „Unterstützungsfunktion“ für das Kind bei der „Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (1976, 319) bemerkt zu haben. Ich will es bei diesem einen Beispiel belassen (das Buch wimmelt von ähnlichen Unterstellungen) – und merke dazu an: Die Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit, d. h. der Fortschritt vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip (und damit der Fortschritt des Denkens) ist mit der Befriedigung und Versagung von Wünschen, also mit der Entwicklung des Wirklichkeitssinns verknüpft. In diesem Zusammenhang wäre dann auch an Freuds wiederkehrende Ausführungen zur Hilfs-Ichfunktion der Eltern sowie an seine Betonung der Identifikationsprozesse zu denken. Und auch das folgende Freud-Zitat scheint der Autorin fremd zu sein: „Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie (...)“ (1921, 73). 

17 Ich greife aus der Fülle möglicher Beispiele (Einzeldebatten, die das Verhältnis Marx/Freud be­treffen) zwei Beispiele heraus: (1) Aus parteimarxistischer Sicht bietet Sève (1977) einen Überblick zu einem Teil der französischen Debatten über Marx und/oder Freud. Sève denunziert dabei die Psychoanalyse als „,theoretische’ Grundlage der pseudo-revolutionären Abwandlungen einer anarchisch-nietzscheanischen Rauschhaftigkeit“ (1977, 64). Die Psychoanalyse sei, so meint er weiter, zu einer „reaktionären Ideologie“ (1977, 11) herabgesunken. Ergänzend wäre auf Brede (1986) zu verweisen, die eine Debatte zwischen Sève und Green referiert. (2) In der Zeitschrift „Science and Society“ wurde zwischen Bartlett (1939, 1941) und Rapaport (1941) eine Debatte geführt,  die auf Osborn (1937 – später fortgesetzt in: 1965) Bezug nimmt. Bartlett folgte dem Argumentationsmuster marxistischer Kritiker der Psychoanalyse der 1920er Jahre. Er hob – unter Verweis auf eine Arbeit von Luria (1932) – Freuds Verdienste auf klinischem Gebiet hervor, um zu folgern, Marxismus und Psychoanalyse seien doch nicht zu vereinbaren (Rapaport widersprach dieser Einschätzung).

18 Ernst Federn (1976, 1041) teilt die Marx-Freud-Debatten ebenfalls in fünf Stufen ein: (1) Diskussionen Adler-Freud in der „Mittwochgesellschaft“ einschließlich späterer Beiträge von Autoren, die sich bei ihrer Marxismuskritik auf die Psychoanalyse beriefen (z. B. Kolnai); (2) Antworten marxistisch orientierter Psychoanalytiker (Bernfeld, Reich, Fenichel) auf marxistische Angriffe gegen die Psychoanalyse; (3) Diskussionen in den USA über das Verhältnis Marx/Freud (zum Teil in Verbindung mit der „Frankfurter Schule“); (4) Versuche, „Marxismus und Psychoanalyse kritisch von der Philosophie und der soziologischen Empirie her zu verstehen“; (5) neuere Diskussionen, vor allem in Verbindung mit der „Psychohistorie“.