Thomas Anz, Oliver Pfohlmann (Hrsg.): Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Band I: Einleitung und Wiener Moderne. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg, 2006.

 

 Als sich Sigmund Freuds Geburtstag zum 150. Mal jährte – wurde dies in aller Welt gefeiert. In Istanbul, zum Beispiel. Da konnte man 2006 „Freud auf der Ottomane“ bewundern. Oder in New York. Dort konnte man den Deuter des Witzes in einer Cartoon-Ausstellung belächeln. Oder in Hanoi. Hier gab’s Grund zur Freude, weil Die Traumdeutung nun endlich in vietnamesischer Übersetzung vorlag. Die Mutter aller Geburtstagstorten aber stand in einem Berliner Museum: innen hohl und oben drauf 250 Kilogramm Zuckerguß samt 24 Männlein, die den Weg des Erfinders der Psychoanalyse von der Wiege bis zur Bahre symbolisieren sollten. Und in Wien? Dort führten die „Wege zum Unbewußten“ diesmal nicht zur Couch, sondern an 23 Litfasssäulen vorbei, auf denen Freuds Werke „im historischen Umfeld“ vorgestellt wurden. Soviel Aufklärung war nie zuvor! Und doch stand hinter dem Wiener Festvortrag über die Frauen um Freud ein Fragezeichen: „Die süßen Mädel des Herrn Professors?“

 Das hätte Freud nicht gefallen: diese Assoziation „Psychoanalyse – Libertinage“. Der Meister des Es hat ihr stets widersprochen. Im Dezember 1908 zum Beispiel, als in der Mittwochgesellschaft über das Buch Die sexuelle Not diskutiert wurde, dessen Verfasser Fritz Wittels zum Kreis um Freud, aber auch zu den Autoren der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel gehörte. Otto Rank protokollierte Freuds Standpunkt damals so: „Durch die Kur befreien wir die Sexualität, aber nicht damit sich nun der Mensch von ihr beherrschen lasse, sondern wir ermöglichen eine Unterdrückung, Verwerfung der Triebe von einer höheren Instanz aus. Die Fackel trete für das Ausleben ein.“ Freud grenzte sich damit von jedweder sexuellen Revolution ab, die damals nicht nur beschrieben, sondern in Ascona und in Schwabing vom selbsternannten Psychoanalytiker und Bohemien Otto Gross auch betrieben wurde.

 „Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom ‚freien Ausleben’ der Sexualität“, wiederholte Freud seinen Standpunkt in einem 1923 für das von Max Marcuse herausgegebene Handwörterbuch der Sexualwissenschaften verfaßten Beitrag noch einmal. Fritz Wittels hatte hingegen 1908 den Programmsatz formuliert: „Die Menschen müssen ihre Sexualität ausleben, sonst verkrüppeln sie.“ Der Protokollant der Mittwochgesellschaft faßte Freuds Reaktion darauf so zusammen: „Am unsympathischsten sei ihm das Motto des Buches gewesen.“

 Doch dieses Motto entsprach dem Zeitgeist – oder wenigstens einem Teil desselben. Ein anderer Teil hatte sich kurz zuvor, 1903, zu Wort gemeldet: Otto Weininger, der über „Geschlecht und Charakter“, beziehungsweise über sexuelle Libertinage und Askese nachgedacht hatte und zu dem Schluß gekommen war, die „Unfreiheit, die in der Geschlechtlichkeit liegt“, könne nur durch die Bejahung der „Enthaltsamkeit für beide Geschlechter“ überwunden werden. Als Philosoph der Tat ging er mit radikalem Beispiel voran. Er suizidierte sich kurz nach Erscheinen seines Werkes. Und Frauenverehrer wie Stefan Zweig und Karl Kraus gaben dem Frauenverächter das letzte Geleit, womit sie demonstrierten, daß die Dämonisierung und die Idealisierung des Geschlechts zwei Seiten eines Begehrens sind.

 

Ja, das waren denkwürdige Allianzen, die in Wien, dieser „alten porta Orientis für Europa“, die zur „porta Orientis auch für jenen geheimnisvollen inneren Orient, das Reich des Unbewußten“ (Hugo von Hofmannsthal) werden sollte, damals geschmiedet wurden. Dabei kamen Begegnungen zustande, die oft widersprüchlich waren und in Polemik endeten – wie die zwischen Sigmund Freud und Karl Kraus. Als dessen vormaliger Mitarbeiter Fritz Wittels den Schlüssel-Loch-Roman Ezechiel der Zugereiste (1910) veröffentlichte, mit dem er Kraus lächerlich machen wollte, zerbrach die Allianz. Kraus schlug mit Aphorismen zurück, darunter dem, den heute alle Welt zitiert, wenn von Kraus und Freud die Rede ist: „Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“ Das war in mehrfachem Sinn eine Retourkutsche, denn Kraus fühlte sich nicht nur persönlich angegriffen; ihm waren auch die Versuche zuwider, Schriftsteller mit Rückgriff auf deren Werke zu analysieren oder gar zu pathologisieren. Und so machte er mit einem Satz nach, was Psychoanalytiker mit tausend Sätzen vorgemacht hatten: Er erschloß den Geisteszustand des Autors aus dessen Werk.

 Freud hat immer wieder betont, Dichter hätten vieles von dem gesagt, was er jetzt in einer anderen Sprache vorzutragen habe. Und so blieb die kulturgeschichtlich bedeutsamste Begegnung, die in Wien ihren Ausgangsort hatte, die zwischen Psychoanalyse und Literatur. Ihr ist eine Dokumentation gewidmet, deren erster Band nun vorliegt: Äußerungen deutschsprachiger Schriftsteller des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts über die Psychoanalyse in Essays, Briefen, Gesprächen, Rezensionen oder Tagebüchern (literarische Werke im engeren Sinn wurden nur am Rande berücksichtigt, da sonst jeder Rahmen gesprengt worden wäre).

 In der Einleitung zu der Dokumentation, die auf ein mehrjähriges Forschungsprojekt zurückgeht, zitiert Thomas Anz eine Passage aus dem Zauberberg, in der Thomas Mann Settembrini die Frage „Sind Sie schlecht auf die [Psycho-]Analyse zu sprechen?“ mit dem Satz beantworten läßt: „Sehr schlecht und sehr gut, beides abwechselnd“. Settembrini spricht hier stellvertretend für viele Poeten, die von der Psychoanalyse fasziniert waren – und sich von ihr abgestoßen fühlten. Diese Ambivalenz ist der Psychoanalyse auf den Leib geschrieben. Sie beginnt als Es-Psychologie – und sie wird zur Ich-Psychologie. Damit legt ihr eigener Werdegang Zeugnis ab für Freuds Diktum: „Wo Es war, soll Ich werden.“ Und wie sollte das gehen, wo doch in Wien gerade festgestellt worden war, das Ich sei „unrettbar“ (Ernst Mach)?

 Freud wollte dieses Ich retten, in dem er es re-konstruierte. Die psychoanalytische Behandlungsmethode zielte deshalb darauf ab, das Ich durch Vereinheitlichung zu stärken. Doch der Preis, der dafür zu zahlen war, erschien manchem zu hoch: Der Trieb, dieser verlorene, verdrängte, desintegrierte, „pervers-neurotische“ Sohn konnte nur dann wieder in Gnaden aufgenommen werden, wenn er sich dem Gesetz des Vaters unterwarf. Also ist nicht nur die Wunscherfüllung, sondern auch die Fähigkeit, den nicht erfüllten Wunsch ohne (Selbst-)Haß zu ertragen, Grundlage der Ich-Bildung. Also ist Triebverzicht Voraussetzung jedweder Kultur. Das war Freuds Credo. Und damit konnte er nicht ohne weiteres Freunde gewinnen.

 Doch das Drama des Kampfes mit der „Natur“ in der eigenen Brust, das kannten die Schriftsteller auch. Davon zeugen die Dokumente, die der hier besprochene Band über die Psychoanalyse in der Wiener Moderne (Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Karl Kraus) enthält, den Thomas Anz und Oliver Pfohlmann „aus Anlass von Sigmund Freuds 150. Geburtstag im Mai 2006 veröffentlicht“ und mit Quellennachweisen und Kommentaren vorzüglich ausgestattet haben. Das ist mehr als ein flüchtiges Geburtstagsgeschenk für Freud. Das ist für jeden, der sich mit Literatur und Psychoanalyse beschäftigt, ein Handwerkszeug von bleibendem Wert. Denn hier werden nicht nur Begegnungen und Berührungen nachvollziehbar; hier gibt es auch vielfältige Hinweise auf das gemeinsame Erbe von Schriftstellern und Psychoanalytikern. Das „Es“ sprechen zu lassen war denn auch ein Anliegen der Psychoanalyse wie der literarischen Moderne. So forderte Hermann Bahr schon 1890 eine „neue Psychologie“, die er so beschrieb: „Es handelt sich um eine Methode zur Objektivierung der inneren Seelenzustände.“ Mit Hilfe dieser Methode sollten „die Ereignisse in den Seelen“ dargestellt werden. Freud stellte kurz darauf die „Methode der freien Assoziation“ vor. Sie hat eine lange Vorgeschichte. Sie reicht zurück bis zu Descartes: „ich denke, also bin ich“. Nein, lautete der Einspruch von Philosophen und Poeten: „es denkt in mir.“ Also muß ich darauf achten, was in mir vorgeht, wenn ich wissen will, wer ich bin. Denn: „Es ist falsch, zu sagen: Ich denke; man sollte sagen: Es denkt mich. – Entschuldigen Sie das Wortspiel. – Ich ist ein Anderer. Was soll man machen, wenn das Holz auf einmal Violine wird?“ (Arthur Rimbaud). Dann muß man zurück zu den Wurzeln, wenn man erkennen will, wie das aus dem Erbe geworden ist, was als Violine (Kultur, Ich) vor uns liegt.

 Bernd Nitzschke, Düsseldorf