Bernd Nitzschke

Herbert Silberer

Skizzen zu seinem Leben und Werk

 

1

Mit der Hacke durch die Tür

„Durch Tod zum Leben“ – so lautet der Titel eines Buches von Herbert Silberer (geb. 28.2.1882; gest. 19.1.1923).[i] Dieser Titel bezieht sich auf das Symbol der Wiedergeburt. Im Hinblick auf Silberers Leben und Sterben hat der Titel aber auch noch eine zweite Bedeutung: Die Umstände seines Todes waren spektakulär genug, um ihm das Überleben in der Erinnerung der Freudianer zu sichern. Silberers Beiträge zur Psychoanalyse wurden hingegen im Lauf der Zeit vergessen. Seinen Kollegen war er schon zu Lebzeiten zu „jungisch und stekelisch“. Soll heißen, sie sahen in ihm einen mit C. G. Jung und Wilhelm Stekel vergleichbaren Abweichler von der Freudschen Lehre. So lautete jedenfalls das Urteil eines Diskussionsteilnehmers[ii] nach einem Vortrag, den Herbert Silberer am 1. November 1922 zum Thema „Beobachtungen an Träumen“ gehalten hatte. Auch die Kritiken der anderen Diskussionsteilnehmer, darunter die Freuds, waren harsch, obgleich Silberer ein – aus heutiger Sicht – recht interessantes Thema angesprochen hatte, nämlich „die in Träumen auftretenden Zeichen des Verhältnisses des Patienten oder Analysierten zu der Analyse und dem Analytiker“,[iii] also das Problem der Übertragung. Außerdem hatte er in seinem Vortrag noch einmal auf den für ihn so wichtigen Unterschied zwischen materialer (inhaltlicher) und funktionaler Symbolisierung hingewiesen. Er erläuterte diese Differenz durch das folgende Gleichnis: „Ein Stempel drückt irgendeinen Inhalt aus, wie z. B. den Firmenbegriff ‚Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Actien-Gesellschaft’ oder die Mitteilung ‚Botenlohn bezahlt’. Außerdem wird man aber an Merkmalen des Stempelabdrucks Verschiedenes über die Beschaffenheit des Stempels selbst erkennen können; so mag es vorkommen, daß der Kautschuk des Stempels rissig wird; der Abdruck wird dann den Riß zeigen [...]. Kurz, es wird unvermeidlich der Zustand des Stempels neben dem, was er sonst zu sagen hat, zum Ausdruck kommen.“[iv] Damit wollte Silberer sagen, daß in Träumen, Phantasien oder Halluzinationen neben Vorstellungsinhalten auch der Zustand der Psyche symbolisch dargestellt werden kann.

 

Träume, die in erster Linie „der Selbstdarstellung oder Selbstbespiegelung“ dienen, nannte er „enoptrische Träume“. Sie seien „recht häufig anzutreffen. Auch von ihnen gilt, was ich in meiner Studie ‚Der Seelenspiegel. Das enoptrische Moment im Okkultismus’ [...] über Visionen aller Art sagte: [...]. Es kommt überaus häufig vor, daß die Vision einzig den Zweck zu haben scheint, daß die Seele sich bespiegle. Dieses Schauen ist ein Schauen in einen Spiegel, worin das Ich dem Ich sich zeigt mit all seinen Regungen und Bewegungen, seinen Antrieben, Ängsten, Stimmungen, Sehnsüchten, Schuldgefühlen, Kämpfen, Leidenschaften, Hemmungen, Zerklüftungen.“[v]

 

Wenige Wochen nachdem er den Vortrag gehalten hatte, nahm sich Silberer das Leben. Schon ein Dreivierteljahr zuvor soll er einen ablehnenden Brief Freuds erhalten haben[vi] – ein Vorfall, den Roazen[vii] so sehr betont hat, daß der Eindruck entstehen mußte, zwischen beiden Ereignissen (dem Erhalt des Freud-Briefs und dem Selbstmord Silberers) habe nicht nur ein zeitlicher, sondern auch einen kausaler Zusammenhang bestanden. Suggeriert wird damit, Freud habe Silberer in den Tod getrieben. Diese „a-historisch psychologisierende“ Darstellung Roazens hat Fallend zurückgewiesen.[viii] Und in den Berichten der Wiener Zeitungen über Silberers Suizid finden sich denn auch keine Anschuldigungen, ja noch nicht einmal Hinweise darauf, daß Silberer über ein Jahrzehnt Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung war. Er ist, trotz Differenzen mit Freud, aus dieser Gruppe weder ausgetreten noch – wie später Wilhelm Reich[ix] – ausgeschlossen worden. In der „Neuen Freien Presse“ vom 12. Januar 1923 heißt es über die Hintergründe und Umstände des Todes von Silberer:

 

„Auf tragische Weise hat heute nacht der Schriftsteller Herbert Silberer geendet. Er hatte sich in seiner Wohnung [...] im Zustande geistiger Überreiztheit erhängt und wurde tot aufgefunden. Herr Silberer [...] hatte in der letzten Zeit Spuren nervöser Erkrankung gezeigt. Seiner Gattin war das Benehmen ihres Gatten aufgefallen, sie war um ihn besorgt und drang wiederholt, leider erfolglos, in ihn, sich zu schonen. Gestern namentlich war Herr Silberer unruhig und überaus nervös. Seine Gattin befand sich abends nicht ganz wohl und war zeitlich zu Bette. Herr Silberer war abends außer Hause und kam erst nach der Sperrstunde heim. Er begab sich in das Schlafzimmer seiner Gattin, das an das eigene grenzt. Er sagte ihr gute Nacht und ging in sein Zimmer. Es fiel ihr aber auf, daß er wieder hin und her ging. Dann wurde es im Schlafzimmer des Gatten ruhig. Frau Silberer erhob sich und ging in das Zimmer. Es war leer, das Bett unberührt. Sie wollte die Tür, die vom Schlafzimmer in das Vorzimmer führte, öffnen. Sie war versperrt. Nun weckte sie ihr Stubenmädchen und teilte ihr ihre Besorgnisse mit. Die beiden Frauen nahmen eine Hacke. Zuvor blickte Frau Silberer durch das Schlüsselloch in das Vorzimmer und sah zu ihrem Entsetzen ihren Mann auf dem Fensterkreuz hängen. Mit einigen Hieben mit der Hacke gegen die Tür war diese aufgesprengt und die unglückliche Frau fand den Mann erhängt. Ärztliche Hilfe war rasch zur Hand; allein der Tod war schon eingetreten. Keine Zeile von der Hand des Toten sagte ein Wort über den Grund der Tat; aber auch so ist es gewiß, daß sich Herbert Silberer im Zustand nervöser Erkrankung das Leben genommen hat [...]. Silberer war ein bekannter Schriftsteller. Er fungierte als Redakteur der Zeitung des Österreichischen Aeroklubs und hat sich auch viel mit Problemen der Metaphysik und der Telepathie usw. befaßt, die er wissenschaftlich behandelte.“[x]

 

Nicht nur der lebende Ehemann, in den sie „wiederholt“, jedoch „erfolglos“ einzudringen versuchte, auch der tote Gatte hat seiner Frau die Annäherung schwergemacht. Schließlich half ihr nur noch die Axt. Wir hingegen wollen uns Silberer mit etwas subtileren Mitteln nähern: mit Hilfe von schriftlichen Zeugnissen, die über ihn und seinen Vater, schließlich von ihm selbst verfaßt worden sind.

 

2

Vater und Sohn – Macher und Träumer

Wer war Herbert Silberer? Eine Antwort auf diese Frage hat Sigmund Freud in einem Brief vom 19. Juli 1909 versucht: „Silberer ist ein unbekannter junger Mensch, wahrscheinlich ein feiner Dégéneré; sein Vater ist eine Wiener Persönlichkeit, Gemeinderat und ‚Macher’.“[xi] Freud hatte von dem so charakterisierten jungen Mann soeben einen „Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinations-Erscheinungen hervorzurufen und zu beobachten“, erhalten. Er war von dieser Arbeit so sehr angetan, daß er sie C. G. Jung, dem damaligen Mitherausgeber des „Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“, zur alsbaldigen Publikation empfahl.[xii]

 

Im Sommer 1910 lernte Freud Silberer dann auch persönlich kennen; kurze Zeit später, am 12. Oktober 1910, trat der damals 28jährige Silberer der Gruppe um Freud bei. Hier war eine Methode zu erlernen, mit deren Hilfe man sich systematisch selbst „bespiegeln“, analysieren, erkennen, ja, vielleicht sogar finden konnte. Silberer jedenfalls war auf der Suche nach sich selbst, nach einem SELBST, das mehr sein sollte als eine Kopie des übermächtigen Vaters.

 

Dieser Vater, Victor Silberer, war ein Mann der Tat, ein „Macher“, wie Freud ihn genannt hatte. Ein Selfmademan, der, aus einfachen Verhältnissen kommend, Karriere machte: 1870 gründete er das „Wiener Salonblatt“. 1873 übernahm er die Redaktion der „Militärzeitung“. 1877 gab er das zweibändige Prachtwerk „Die Generalität der k. u. k. Armee“ heraus. 1880 gründete er die „Allgemeine Sport-Zeitung“. Im Schlepptau des antisemitischen Populisten Karl Lueger kam er 1891 in den Wiener Gemeinderat. 1902 wurde er niederösterreichischer Landtagsabgeordneter. 1907, kurze Zeit bevor sich sein einziger, aus einer früh geschiedenen Ehe stammender Sohn dem – damals rein jüdischen – Kreis um Freud anschloß, erhielt er einen Sitz im Reichsrat. Zudem war er ein erfolgreicher Geschäftsmann: 1882 erbaute Victor Silberer in der Wiener Innenstadt den Annahof (das Haus, in dem sich Jahrzehnte später sein Sohn erhängen sollte). Und noch vor der Jahrhundertwende errichtete der Vater auf dem Semmering das Grandhotel Erzherzog Johann nebst einer prunkvollen Villa, genannt das Silberer-Schlößchen.

 

Der Sohn Herbert erbaute keine Schlösser. Allenfalls wandte er sich Luftschlössern zu, Träumen und Phantasien, Halluzinationen und Visionen, deren Symbolik er erforschte. Das muß für den Vater eine ziemlich herbe Enttäuschung gewesen sein, denn als bekannter Sportsmann, als einer der besten Ruderer der k. u. k. Monarchie, war er davon ausgegangen, daß „das Gehirn des Kindes eben nur eine copie des elterlichen Gehirnes“ sein konnte.[xiii] Als Vulgärdarwinist war er zudem von der „tausendjährigen Erfahrung“ überzeugt, wonach „ein stärkerer Vater ein stärkeres Kind zeugen wird [...]. Außerdem nahm er an, daß sich auch „ die moralischen Eigenschaften, welche durch die Gymnastik theils erweckt, theils gefördert und entwickelt werden, [...] weiter vererben [...]“ ließen.[xiv]

 

Zunächst hatte es tatsächlich so ausgesehen, als würde der Vater recht behalten: Von Kindesbeinen an war der Sohn „in den meisten Leibesübungen von ersten Meistern unterrichtet worden. Mit nur 4 ¾ Jahren nahm er als kleiner Knirps schon am damaligen 1. Wettschwimmen in Wien [...] an einem Wettbewerb von Kleinen unter fünf Jahren teil, den er gewann. Auf dem Fahrrad war der berühmte heimische Kunstfahrer Klomser sein Lehrer [...]. Herbert war auch Eisläufer und hatte ebenso einen vorzüglichen Turnlehrer [...]. Mit 17-18 Jahren, als sein Vater das Reiten aufgab, erhielt er dessen wunderbaren Irländer ‚Mucki’ als Weihnachtsgeschenk und sein Vater verschaffte ihm die Erlaubnis, mit den Söhnen aus höchster Aristokratie einen höheren Reitunterricht unter den großen Meistern in der Spanischen Hofreitschule zu genießen. Damit war Herberts gesamte Vorbildung für seine weitere Tätigkeit bei der ‚Allgemeinen Sportzeitung’ abgeschlossen und sein Vater nahm ihn nunmehr in die Schriftleitung dieses Blattes.“[xv]

 

Und schließlich war der Vater auch noch ein bedeutender Pionier der Österreichischen Luftschifffahrt. Auf diesem Gebiet bewies der Sohn ebenfalls Durchhaltevermögen. Die Freiheit, die Herbert Silberer über den Wolken fand, scheint seinem Naturell, seinem Hang zum Träumen, entgegengekommen zu sein. Über seine Allein-, Nacht- und Rekord-Flüge schrieb er ein Buch: „Viertausend Kilometer im Ballon“. Darin heißt es: „Der Reiz, der in der Nachtfahrt liegt, kann schwer beschrieben werden, man muß ihn selbst erfahren. Es wirkt da so viel auf die Phantasie ein [...].“[xvi]

 

Als Redakteur der vom Vater gegründeten und geleiteten „Allgemeinen Sport-Zeitung“ bewies der Sohn weniger Standvermögen. Die Naturereignisse, mit denen er hierbei konfrontiert war, hatten aber auch eine andere Qualität als die, die er nächtens im Ballon erleben konnte. Der Verfasser einer Festschrift zu Ehren Victor Silberers beschreibt die Ausbrüche dieses Vaters so: „Meisterstücke sind insbesondere die Glossen, durch die er sich in seiner ‚Allgemeinen Sport-Zeitung’ zu allerhand Vorkommnissen und Zuständen des sportlichen, wie überhaupt des ganzen öffentlichen Lebens zu äußern pflegt. Das sind die richtigen Gewitter in Druckerschwärze. Gewöhnlich donnert es ganz gehörig, blitzt aber auch hell und scharf und, was die Hauptsache ist – reinigt die Luft [...].“[xvii] Es ist anzunehmen, daß der Vater nicht nur die Zeitung, sondern gelegentlich auch den ihm untergebenen Zeitungsredakteur, also den Sohn, als Blitzableiter benutzt hat. Wilhelm Stekel, der mit Herbert Silberer befreundet war, wundert sich dennoch: „Merkwürdigerweise verlor sich aber das Interesse Herberts an der Sportzeitung mit den Jahren vollständig. Er tat dort wohl noch seine Pflicht, hatte aber gar keine Lust mehr, Rennplätze zu besuchen und sich um die administrativen Angelegenheiten des Blattes zu bekümmern [...]. Sein Vater war zuerst über diesen Szenenwechsel nicht sehr erfreut [...]. Herbert hatte sich ganz auf den Privatgelehrten eingerichtet, der nur noch pflichtgemäß, aber ohne alle Lust zur Sache, an der Sportzeitung mittat [...].“[xviii]

 

Herbert Silberer hatte sich dem Kreis um Freud zugewandt. Außerdem trat er einer Freimaurerloge bei. Als Privatgelehrter studierte er Philosophie und Mystik. Das alles ist wohl mit dem Ausdruck „Szenenwechsel“ gemeint, den Stekel benutzt. Diese Hinwendung zum Transzendenten und Imaginären, das Eintauchen in die Tiefen der Seele und das Eindringen in die Geheimnisse der Esoterik, befriedigten Herbert Silberer gewiß mehr als die profane Tätigkeit bei der Sportzeitung unter Anleitung eines Tat- und Kraftmenschen, wie der Vater einer war. Dennoch wurde der Sohn auch nach dem „Szenenwechsel“ nicht glücklich. Seine erste Ehe mit Lilli Tilgner wurde 1919 geschieden. Im selben Jahr heiratete er Berta Bloch, doch auch diese Ehe stand unter keinem guten Stern. Bereits 1920 ist erneut von Scheidung die Rede, zu der es aber nicht kam, denn in den Zeitungsberichten, die anläßlich von Silberers Selbstmord erschienen sind, ist von seiner Witwe die Rede – und die heißt in den Dokumenten, die aufgrund der Nachlaßverhandlungen erhalten sind: Berta Bloch.

 

Zu Beginn der 1920er Jahre scheiterten noch andere Zukunftspläne. So hatte Herbert Silberer gemeinsam mit Wilhelm Stekel von 1920 bis 1922 eine Zweimonatszeitschrift in englischer Sprache – das von Samuel Tannenbaum in New York finanzierte Periodikum „Psyche and Eros“ – herausgegeben. Tannenbaum erwies sich jedoch – Stekel schreibt: überraschenderweise – als „fanatischer Antifreudianer“, ein Grund, der, wiederum nach Aussage Stekels, dazu geführt habe, daß Stekel und Silberer die Mitarbeit an dieser Zeitschrift eingestellt hätten. Für Freud sei Silberer wegen des vorübergehenden Engagements bei „Psyche and Eros“ jedoch „erledigt“ gewesen.[xix] 1922 scheiterte dann auch noch Silberers Hoffnung, ein Ehrendoktorat zu erhalten. Und schließlich spielte er kurz vor Ende seines Lebens mit dem Gedanken, seinen Lebensunterhalt als Bankangestellter zu verdienen. „Er wollte unabhängig sein und verschmähte es, ewig auf Hilfe anderer angewiesen zu bleiben“;[xx] das heißt wohl: Herbert Silberer wollte nicht länger vom Geld des Vaters weiterleben. Die Konsequenz aus all diesem Scheitern, aus all diesen vergeblichen Mühen des Sohnes, aus dem gewaltigen Schatten des Vaters herauszutreten, faßte Stekel im Nachruf auf Herbert Silberer so zusammen: „Er verschloß sich vor aller Welt, vor seinen Freunden, vor seinem Vater und sogar vor seinem Weibe. Deshalb war unsere Freundschaft eine sehr merkwürdige [...]. Nie hat er mit mir ein Wort über sein Seelenleben gewechselt [...]. Ich habe nicht geahnt, welche dämonischen Gewalten sich hinter seiner scheinbar so abgeklärten Außenseite verbargen. Hätte er sich mir anvertraut, ich hätte ihn vielleicht retten können!“[xxi] Oder auch nicht. Schließlich suchte Herbert Silberer keinen Retter, keinen Erlöser, keinen zweiten Vater – vielmehr suchte er sich selbst. Bei dieser Suche hat er sich verirrt.

 

3

„… mehrfach anerkennend gewürdigt“

In Freuds Werken finden sich etwa zwanzig Hinweise auf Herbert Silberer, darunter das Lob für „eine der wenigen Ergänzungen zur Traumlehre, deren Wert unbestreitbar ist“. Damit hat Freud Silberers Darstellung und Erklärung des funktionalen Phänomens gemeint. Freud fährt an derselben Stelle fort: „Silberer hat bekanntlich gezeigt, daß man in Zuständen zwischen Schlafen und Wachen die Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder direkt beobachten kann, daß aber unter solchen Verhältnissen häufig nicht eine Darstellung des Gedankeninhaltes auftritt, sondern des Zustandes (von Bereitwilligkeit, Ermüdung usw.), in welchem sich die mit dem Schlaf kämpfende Person befindet. Ebenso hat er gezeigt, daß manche Schlüsse von Träumen und Absätze innerhalb des Trauminhaltes nichts anderes bedeuten als die Selbstwahrnehmung des Schlafens und Erwachens. Er hat also den Anteil der Selbstbeobachtung – im Sinne des paranoischen Beobachtungswahns – an der Traumbildung nachgewiesen.“[xxii]

 

Nach dem Tod Herbert Silberers erschien in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ ein Nachruf, der die zwiespältige Situation erkennen läßt, in der sich Herbert Silberer im Kreis der Freudianer befand: „Der Verstorbene war langjähriges Mitglied der Wiener Gruppe, von der er sich aber in den letzten Jahren bis auf gelegentliche Besuche persönlich fern gehalten hatte. Seine wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiete der Traumpsychologie, sind in der psychoanalytischen Literatur mehrfach anerkennend gewürdigt worden; aber auch an kritischen Einwendungen gegen manche ungerechtfertigte Verallgemeinerung hat es nicht gefehlt. Das Interesse Silberers lag offenkundig außerhalb des eigentlichen psychoanalytischen Bereiches; er hat sich mit schönem Erfolge um das psychologische Verständnis der sogenannten okkulten Phänomene bemüht, wovon sein eigentliches Hauptwerk: ‚Die Probleme der Mystik und ihrer Symbolik’, 1914, Zeugnis ablegt.“[xxiii]

 

Jahrzehnte später äußerte sich der weltberühmte Psychologe Jean Piaget ebenfalls anerkennend über Herbert Silberer, „der sich speziell mit dem Symbolismus im mystischen Denken befaßt hat“ – und ein wenig kritisch gegenüber den Psychoanalytikern, die Silberers Anregungen zuwenig aufgegriffen hätten: „[...] empirisch ausgerichtet, hat er versucht, die Theorie des Symbols weiterzuentwickeln, indem er die Bilder im Halbschlaf mittels einer originellen und fruchtbaren Methode analysierte. Das (spätere – B.N.) Schweigen der Freudianer zu diesen Arbeiten ist schwer zu erklären [...], denn sie sind von besonderem Interesse und hätten, wenn sie weiterentwickelt worden wären, dazu beigetragen, die Psychoanalyse und die übrige Psychologie einander näherzubringen.“[xxiv]

 

Hatte Freud Silberers Beschreibung des „funktionalen Phänomens“ ausdrücklich gelobt, so stand er der „anagogischen“ Deutungsmöglichkeit des Traums, die Silberer vorgeschlagen hatte, skeptisch gegenüber. Umso mehr begeisterte sich C. G. Jung für den Vorschlag Silberers, neben dem mit Hilfe der Freudschen Interpretationstechnik zu entschlüsselnden Sinn der Träume, der in die Vergangenheit zurückweist, auch den prospektiven, in die Zukunft weisenden Sinn der Träume zu berücksichtigen. In Jungs Werken finden sich denn auch etwa zwanzig Hinweise auf Silberer. Die Zahl als solche ist jedoch nicht aussagekräftig, hat Jung Silberer doch weit mehr zu danken, als dies anhand der wenigen Fußnoten zu erkennen ist. In Hinsicht auf die Erforschung der Symbolwelt der Alchemie erkannte Jung Silberers Priorität aber an: „Dem leider zu früh verstorbenen Herbert Silberer kommt das Verdienst zu, der erste gewesen zu sein, die geheimen Fäden, die von der Alchemie zur Psychologie des Unbewußten laufen, entdeckt zu haben [...]. Heutzutage sind wir in der Lage zu sehen, wie sehr die Alchemie der Psychologie des Unbewußten vorgearbeitet hat, indem sie einerseits unabsichtlich durch die Aufhäufung ihrer Symbolik ein für moderne Symboldeutung ungemein wertvolles Anschauungsmaterial hinterlassen, andererseits durch ihre absichtlichen synthetischen Bemühungen symbolische Prozeduren, die wir in den Träumen unserer Patienten wieder entdecken, angedeutet hat. Wir können heute sehen, wie der gesamte alchemistische Gegensatzprozeß [...] ebensogut den Individuationsweg eines einzelnen Individuums darstellen kann, mit dem nicht zu übersehenden Unterschied allerdings, daß kein einziges Individuum jemals die Fülle und den Umfang der alchemistischen Symbolik erreicht.“[xxv]

 

Daß der alchemistische Prozeß – erst die Zerstückelung und dann die daran anschließende Synthetisierung einer reinen Substanz, „Gold“ genannt – als Abbild des Individuationsprozesses verstanden werden kann, hat Herbert Silberer in der Schrift „Probleme der Mystik und ihrer Symbolik“ (1914) überzeugend nachgewiesen. Symbolischer Tod und symbolische Wiedergeburt strukturieren aber auch den Prozeß, der für die Riten geheimer Gesellschaften kennzeichnend ist: Der Novize, der sich aus alten Bindungen lösen will, muß erst einen symbolischen Tod erleiden, bevor er, nach einem Intervall von Einsamkeit, Verwirrung und Sehnsucht, eine neue Bindung aufnehmen, ein neues Leben in einer neuen Gemeinschaft beginnen kann. In diesem Sinn hat Silberer die Bedeutung des Symbols der Wiedergeburt in der Schrift „Durch Tod zum Leben“ (1915) erörtert.

 

„Die Entstehung der Symbole“ – so lautet schließlich der programmatische Titel eines 1919 vor einer Großloge gehaltenen Vortrags Herbert Silberers. Und tatsächlich galt dessen Forschungsinteresse der Genese der Symbole, mochten sie nun in individuellen Träumen oder in kollektiv praktizierten Riten, in spontan auftretenden Visionen oder im Okkulten, dem die Schrift „Der Seelenspiegel“ (1921) gewidmet war, enthalten sein. Ziel all seiner Forschungen war es, das in Bildern gefangene Reale zu befreien, das in Symbolen geronnene Erleben der Erfahrung wieder zugänglich zu machen.

 



[i] Herbert Silberer: Durch Tod zum Leben. Eine kurze Untersuchung über die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Symbols der Wiedergeburt in seinen Urformen, mit besonderer Berücksichtigung der modernen Theosophie. Leipzig 1915.

[ii] So äußerte sich Eduard Hitschmann am 1. November 1922 in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Der Vortragstext und das Protokoll der Diskussion sind abgedruckt in Karl Fallend: Sonderlinge Träumer Sensitive. Psychoanalyse auf dem Weg zur Institution und Profession. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und biographische Studien. Wien 1995, S. 236-244.

[iii] Silberer in Karl Fallend, 1995, S. 236.

[iv] Silberer in Karl Fallend, 1995, S. 238.

[v] Silberer in Karl Fallend, 1995, S. 239.

[vi] Der Brieftext ist abgedruckt bei Bernd Nitzschke: Herbert Silberer – Luftschiffer und Halluzinationsforscher. Stichworte zu seinem Leben und Werk. In Ernst Federn und Gerhard Wittenberger (Hg.): Aus dem Kreis um Freud. Zu den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt/M. 1992, S. 170-175. Hier finden sich auch jene Argumente, die gegen die These sprechen, Herbert Silberer sei der Empfänger des fraglichen Freud-Briefes gewesen, bzw. Indizien, die dafür sprechen, daß der Brief an Silberers Vater gerichtet gewesen sein könnte.

[vii] Paul Roazen: Brudertier. Sigmund Freud und Victor Tausk – die Geschichte eines tragischen Konflikts. Hamburg 1963.

[viii] Karl Fallend, 1995, S. 260.

[ix] Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Bernd Nitzschke: „Ich muß mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden“. Voraussetzungen, Umstände und Konsequenzen des Ausschlusses Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV in den Jahren 1933/34. In Karl Fallend und Bernd Nitzschke (Hg.): Der ‚Fall’ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt/M. 1997, S. 68-130. Neuauflage: Giessen (Psychosozial-Verlag) 2002, S. 83-139.

[x] Zit. n. Bernd Nitzschke: Die Gefahr, sich selbst ausgeliefert zu sein: Herbert Silberer, zum Beispiel. In Bernd Nitzschke (Hg.): Zu Fuß durch den Kopf – Wanderungen im Gedankengebirge. Ausgewählte Schriften Herbert Silberers – Miszellen zu seinem Leben und Werk. Tübingen 1988, S. 60f.

[xi] Die Briefstelle findet sich in Sigmund Freud, Carl Gustav Jung: Briefwechsel. Frankfurt/M. 1974, S. 267.

[xii] Herbert Silberer: Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzinations-Erscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 2, 1909, S. 541-622.

[xiii] Victor Silberer: Ueber den Werth und die Bedeutung der Gymnastik vom Standpunkte der Darwin’schen Theorie. Wien 1880; zit. n. Karl Fallend, 1995, S. 262.

[xiv] Victor Silberer, 1880; zit. n. Karl Fallend, 1995, S. 261f.

[xv] Wilhelm Stekel: In memoriam Herbert Silberer. Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychoanalyse 1, 1924, S. 418.

[xvi] Herbert Silberer: Viertausend Kilometer im Ballon. Mit 28 photographischen Aufnahmen vom Ballon aus. Leipzig 1904, S. 55.

[xvii] Hans Plecher (Hg.): Victor Silberer. Ein Lebensbild mit acht Bildnissen. Wien 1916, S. 18.

[xviii] Wilhelm Stekel, 1924, S. 419.

[xix] Wilhelm Stekel, 1924, S. 411.

[xx] Wilhelm Stekel, 1924, S. 416.

[xxi] Wilhelm Stekel, 1924, S. 417.

[xxii] Sigmund Freud: Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre (1914). GW X, London 1946, S. 164.

[xxiii] Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 9, 1923, S. 119.

[xxiv] Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. GW 5, Stuttgart 1975, S. 247.

[xxv] Carl Gustav Jung: Mysterium Coniunctionis. Untersuchungen über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie (Teil 2). GW 14/2, Olten/Freiburg i.Br. 1971, S. 336f.

 

Der vorstehende (hier überarbeitete) Beitrag von Bernd Nitzschke ist erstmals erschienen unter dem Titel Herbert Silberer – Skizzen zu seinem Leben und Werk als Einleitung (S. 7-21) zu dem neu aufgelegten Buch von Herbert Silberer: Probleme der Mystik und ihrer Symbolik (1914). Sinzheim 1997.