Bernd Nitzschke «Die Magie als
experimentelle Naturwissenschaft» oder Einsamkeit als Mißgeschick
einer «künstlichen Schizophrenie» Anmerkungen zu Ludwig
Staudenmaier (1865 - 1933) Kurze Zeit nach
der Jahrhundertwende veröffentlichte Dr. Ludwig Staudenmaier (kgl.
ord. Gymnasialprofessor für Experimentalchemie am Lyzeum in
Freising bei München) ein Buch mit dem etwas merkwürdigen Titel:
«Die Magie als Experimentelle Naturwissenschaft»
(1912 – zit. n. Neuausgabe: 1968). Darin beschreibt er eigene
Erlebnisse als «Naturwissenschaftler», die er als «magische»
auffaßt, und die infolge einer (wie er selbst meint) freiwilligen
Isolation aufgetreten waren. Was er als «magisch» begreift,
sind sinnlich-emotionale Prozesse, die erlebt werden können, wenn
infolge von Reizentzug und Isolierung ein Zerfall der Persönlichkeit
eingetreten ist. Staudenmaier beschreibt also die Magie des Körpers
unter der Bedingung psychischer Desintegration. Dabei ist er sich
selbst nicht ganz darüber im klaren, welche Erlebnisse er dem (bis
dahin) Unbewußten, und welche er der «Magie» im engeren Sinn
zuordnen soll. Er beruft sich auf eine Reihe älterer Lehren, die
Aussagen über ähnliche Beobachtungen enthielten: auf Hexerei,
Zauberei, Medizin der Primitiven, Schamanismus, Hypnotismus,
animalischen Magnetismus, Mesmerismus, Mystizismus, Spiritismus und
Okkultismus. Mit anderen Worten: Staudenmaier entdeckt im Zuge einer
individuellen Regression Bereiche, die im Verlauf der
Vernunftgeschichte zunehmend aus der offiziellen Kultur
ausgeschlossen worden sind. Er redet also über Para-Wissenschaften,
deren Gegenstände der Vernunft (der «naturwissenschaftlichen»
zumal) höchst verdächtig erscheinen und eigentlich nicht sein
(oder wenigstens nicht wahrnehmbar sein) sollten. Staudenmaier
meint, es müsse ein spezielles Wahrnehmungsorgan geben, mit dessen
Hilfe man die innerseelische Welt zu Gesicht bekomme. Dabei beruft
er sich auf die Mystiker, die Theosophen und die Anthroposophen
(Rudolf Steiner vor allem), dann aber auch auf Goethe (vgl.
Staundenmaier 1968, 14). Er wägt die Argumente kritisch ab und
glaubt, seine These belegen zu können. Auch die Schriften von
Psychoanalytikern – etwa Freud, Silberer und Jung – zitiert er.
Immerhin hatte Jung mit einer Arbeit «Zur Psychologie und
Pathologie sogenannter occulter Phänomene», 1902) promoviert.
Staudenmaier war also nur einer von vielen, die sich zu Beginn des
20. Jahrhunderts mit dem Ausgeschlossenen der Vernunft beschäftigten
und sich so den unter- und hintergründigen Welten annäherten.
Seine Aufzeichnungen erinnern zudem an die «Denkwürdigkeiten eines
Nervenkranken» (Schreber 1903). Wie in diesem Werk, so kreuzen das
wissenschaftliche und das wahnhafte Denken auch in Staudenmaiers
Buch die Klingen. Zurück bleibt ein Autor, der meint, die «Magie»
experimentell betrieben, und dabei, wie er anfügt, eine «künstliche
Schizophrenie» bei sich selbst erzeugt zu haben. 1 Staudenmaier
beginnt mit Versuchen zum «automatischen Schreiben»
(die surrealistischen Literaten und Künstler wiederholen das wenig
später). Zunehmend gleitet er so in eine «andere» Welt ab. Er hört
Stimmen – «auch gegen meinen Willen»; und «sie wurden vielfach
böswillig, raffiniert, spöttisch, zänkisch, ärgerlich usw.»
(1968, 24). Was dem vernünftigen
und organisierten Wachdenken verborgen war, kommt nun in Form von
Geistererscheinungen zum Vorschein. Mitunter glaubt Staudenmaier
jetzt, die «Geister» könnten sich materialisieren. Früher als
erwünscht befindet er sich im Kampf mit den Geister-Wesen. Wenn es
zunächst auch noch nicht um Leben oder Tod geht (Jahrzehnte später,
nachdem er bereits mehrfach wegen einer Psychose in psychiatrischen
Kliniken behandelt worden ist, hungert er sich tatsächlich dem Tode
entgegen), so geht es bei dem im Buch beschriebenen Kampf doch um
Erhalt oder Untergang des Ich (und des an das Ich gebundenen vernünftigen
Wachdenkens). Der «Gegenwille»
macht sich immer stärker bemerkbar. In diesem Zusammenhang sei
daran erinnert, daß die erste in Freuds Gesammelte
Werke aufgenommene Arbeit (Freud 1892/93) auch mit dem «Gegenwillen» zu tun hat.
Staudenmaier schreibt: «Es
ging dann tagelang ganz gegen meinen Willen ein unerträgliches und
widerliches Streiten fort» (1968, 25),
ein Zwist, der zwischen den sich verselbständigenden Geistern
und dem noch erhaltenen Ich-Bewußtsein des Verfassers ausbricht.
Die Spaltung in einen als fremd erlebten «Gegenwillen» und in
einen Willen, der als eigener empfunden wird (gemeint sind die
Triebimpulse oder Wünsche, mit denen sich Staudenmaier
identifizieren kann), zeigt den fortschreitenden
Desintegrationsprozeß an. «Gegenwille» und eigener Wille
konstituieren den inneren
Konflikt, der als Konflikt zwischen unterschiedlichen
Identifikationssystemen aufzufassen wäre. Staudenmaier
stellt fest, daß sich seine vormals einheitlich erlebte Persönlichkeit
nun in eine Reihe von Subpersönlichkeiten aufspaltet. Diese Subpersönlichkeiten
grenzen sich voneinander ab und versuchen, nachdem sie sich
verselbständigt haben, die Herrschaft an sich zu reißen. Mit
zunehmendem Entsetzen registriert Staudenmaier, daß er die Geister,
die er rief, immer weniger durch die Zentralgewalt seines Ichs
steuern kann; daß jetzt nicht mehr er sie, sondern sie ihn
beherrschen. Da Staudenmaier
seine Selbstversuche mit äußerster Rücksichtslosigkeit betreibt,
wird nun auch seine körperliche Gesundheit «auf das schwerste
angegriffen» (1968, 28). Der depersonalisierten Innenwelt
entspricht dabei eine derealisierte Außenwelt. So erscheint die
Welt als verzerrt, als «magisch», bevölkert von bedrohlichen und
faszinierenden phantastischen Gestalten. So glaubt Staudenmaier
zum Beispiel, bei der Jagd in den Isar-Auen anstelle von Elstern
Spottgestalten auf den Bäumen sitzen zu sehen; oder er verkennt
einen Strauch als weibliches Wesen, als schönes Mädchen. Immer
schwerer fällt ihm die Realitätsprüfung: Was ist innen, was ist
außen? Was ist Phantasma, was ist objektiv-materiell vorhandenen? Staudenmaier
benennt nun auch die wesentliche Bedingung, unter der sich solche
Erlebnisse einstellen können: «Jedenfalls lag ein Hauptgrund
dieser inneren Quälereien darin, daß ich vereinsamt lebte, zuviel
nachdachte und mich selbst beobachtete» (1968, 31).
Unter der Bedingung des Rückzugs aus emotionalen Bindungen
verändert sich die Wahrnehmung; das Labyrinth der Seele öffnet
sich. Nun wird vieles von dem erlebbar, was normalerweise «unbewußt»
bleibt oder nur in nächtlichen Träumen auftaucht. Der Faden der
Ariadne, den Theseus in der Hand behielt, als er ins Labyrinth
eintrat, um das dort verborgene Ungeheuer (das Trauma) zu finden
und zu töten, das war die Bindung an eine Frau; sie fehlt
Staudenmaier beim Abstieg in die Unterwelt. Der Faden, den er –
anstelle der Bindung an einen anderen Menschen – besitzt, besteht
nur aus der Erinnerungen und aus dem kritisch-vernünftigen
(naturwissenschaftlichen) Wissen, dem zufolge die Dinge nicht schon
immer so waren, wie sie jetzt erscheinen. Dieses Wissen beschwört
Staudenmaier, um den Einfluß der «Geister» zurückzudrängen, die
ihn nötigen wollen, an deren reale Existenz zu glauben. Diese
inneren Wesen, die sich äußerlich zu materialisieren scheinen,
bringt Staudenmaier trefflich auf den Begriff: Er nennt sie «Personifikationen»
(1968, 33). Tatsächlich dürfte
es sich um Teilstücke früh verinnerlichter Personen handeln, also
um Bruchstücke von Objekt-(und Selbst-)Repräsentanzen, die unter
regressiven Bedingungen wieder etwas von ihrer ursprünglichen Kraft
und Lebhaftigkeit zurückgewinnen können. Was einmal außen war,
dann verinnerlicht und in die psychische Struktur eingeschmolzen
wurde, gewinnt nun neue Selbständigkeit und taucht schließlich in
der Außenwelt (scheinbar) wieder auf. Die Verwechslung von innen
und außen liegt damit nahe. Noch ein oder zwei Schritte weiter –
und der Schizophrene unterhält sich mit halluzinierten Geistern so,
als seien sie wirkliche Menschen. Was «normalerweise»
unentdeckt in die Realitätswahrnehmungen eingeht, also mit dem Außenweltobjekt
verschmolzen ist, das wird im Selbstexperiment à la Staudenmaier
wieder separiert und freigesetzt. Staudenmaier trifft die Gestalten
seines Inneren deshalb nicht mehr als Er-Innerungen, sondern als
Traumgebilde an, die sich jetzt, zu neuem Leben erwacht, wie
Menschen in der Außenwelt zu verhalten scheinen. Staudenmaier ist
nun aber kein mythischer Sänger. Er beschreibt die
archaisch-infantilen Wahrnehmungs-Traum-Bilder, die einstmals die
Mythenschöpfer zum Anlaß nahmen, um poetische Traumwelten zu
gestalten, deshalb ganz nüchtern. 2 Wir dürfen
annehmen, daß Staudenmaier Freuds «Traumdeutung» (1900)
kannte. Freud hatte festgestellt, daß es im Traum zu einer Wahrnehmungsregression
kommt, in deren Verlauf ein ursprüngliches Bilderdenken (das dem
Wachbewußtsein weitgehend verborgen bleibt) wieder die Oberhand
gewinnt. Es kommt gleichsam zu einer Umkehrung des
Wahrnehmungsvorgangs, in deren Verlauf das äußere durch ein
inneres Bild ersetzt wird. Staudenmaier spricht von einem «Gesetz der
Umkehrbarkeit (Reversibilität)
des Verlaufs der Nervenerregungen» (1968, 43).
Und er stellt fest: «Menschen, die viel sich selber überlassen
bleiben, Sonderlinge, welche die Einsamkeit zu sehr aufsuchen,
erzielen häufig solch rückläufige Verstärkungen der aus
verschiedenen Körpergebieten kommenden Erregungen unbewußt und
unfreiwillig. Sie neigen daher zu Halluzinationen, Gesprächen
<mit sich selbst>, zu Einbildungskrankheiten, Hysterie usw.» (1908, 45). Entsprechende
Erlebnisse berichten auch Schizophrene, die versuchen, sich und
anderen zu versinnbildlichen und zu erklären, was sie bewegt. So
berichten sie von einem «Beeinflussungsapparat» (Tausk 1919).
Dieser Apparat wird als Quelle geheimnisvoller Strahlen oder
Magnetismen aufgefaßt, wobei andere Wesen die Macht haben sollen,
diesen Apparat – meist zum Schaden des Kranken – zu bedienen.
Zwar glaubt Staudenmaier nicht an einen solchen Apparat, denn er ist
noch immer in der Lage, seine Trugwahrnehmungen kritisch zu
relativieren; aber er hat Erlebnisse, die in letzter Konkretisierung
zur gedanklichen Konstruktion eines solchen Apparates führen. Sie
werden von ihm überzeugend beschriebenen. Es fehlt allerdings der
letzte Schritt zur Verdichtung des «Bösen» (des Unheimlichen oder
Übermächtigen) in einem Verfolger, der bei der Paranoia zu
beobachten ist. Staudenmaier
schwankt zwischen der Annahme, die Personifikationen – z. B. «Hoheit, Kind, Teufel»
(1968, 68) – seien materialisiert vorhanden, und der Annahme, sie
seien nur Ausdruck des eigenen Innern. Sich selbst bescheinigt er,
in der Lage zu sein, Innen und Außen weiterhin unterscheiden zu können.
Diese Fähigkeit zur Realitätsprüfung spricht er seinen Teilpersönlichkeiten
– den von ihm so genannten Personifikationen – ab. Sie könnten
«Wirklichkeit und Vorstellung» nicht unterscheiden und blieben
deshalb in «einer gewissen Suggestion befangen» (1968, 75). Suggestibilität
ist eine regelmäßig Begleiterscheinung regressiver Entgrenzung
(und ein großer Teil der Abwehr, die sich bei entsprechenden
Patienten beobachten läßt, dürfte dem Versuch zuzuschreiben sein,
sich gegen die eigene Suggestibilität – beziehungsweise gegen
denjenigen, von dem der Versuch der Beeinflussung auszugehen scheint
– zur Wehr zu setzen). Suggestibilität tritt aber auch im
normalseelischen Erleben auf – etwa bei der Verliebtheit. Und «von
der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose. Die
Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demütige
Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur
wie gegen das geliebte Objekt» (Freud 1921, 126). Wir dürfen
weitergehend interpretieren: Der Isolierte, der Kranke, der die
emotionale Bindung an andere Menschen verloren hat, befindet sich im
Zustand der Verliebtheit ohne
Objekt, in einem Zustand der Bindungsbereitschaft, die ihn in
hohem Grade suggestibel und beeinflußbar macht, da er vom Wunsch,
den bindungslosen Zustand zu überwinden, beherrscht wird. Und
gerade deshalb fürchtet er sich vor Überwältigung durch
denjenigen, an den er sich binden will. Bindungssehnsucht
und Bindungsangst konstituieren den inneren Konflikt, der sich in
zwischenmenschlichen Beziehungen als Nähe-Distanz-Konflikt, aber
auch als Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt bemerkbar macht. Man kann
psychische Krankheit als Folge von Kränkung
(oder besser gesagt: vielfach wiederholter Kränkungen) und des
daraus resultierenden Rückzugs aus sozialen Beziehungen verstehen,
aber auch als Schutzreaktion, die zu einem Zustand führt, der alles
andere als Schutz gewährt, nämlich zu einem hochgradig bedürftigen
Zustand, der vom Wunsch nach Bindung und von der Angst vor
Bindung beherrscht wird. Folgeerscheinungen
sind das Empfinden der eigenen Schwäche (oft kompensiert durch
unrealistische Größenphantasien) und das Erleben des anderen als mächtig
oder gar übermächtig. Diese Selbst- wie Fremdwahrnehmung hat einen
realistischen Kern: man ist schwach, weil man sich nicht selbst
geben kann, was man braucht; und der andere ist stark, weil er
(vermeintlich) über die Ressourcen verfügt, die man braucht, und
weil er (vermeintlich) entscheiden kann, ob er davon etwas abgibt
oder nicht. Das entspricht dem (Wieder-)Erleben einer Beziehung aus
grauer Vorzeit. Auch damals gab es einen hilflos-ohnmächtigen
Menschen, das bedürftige «Kind», und Menschen, die mächtig
waren: die Eltern, von deren Zuwendung und Versorgung das Kind abhängig
war. Wenn sich eine solche Relation im Erleben später wieder
hergestellt, dann gelten die alten «magischen»
Gesetzmäßigkeiten wieder. Und so scheint der ersehnte, geliebte,
verehrte, bewunderte, von der Kritik des vernünftigen Wachdenkens
nicht mehr relativierte Mensch all die Eigenschaften und Vermögen
zu besitzen, die das primitive Denken Göttern, Häuptlingen oder Führern
zuschreibt. Häuptlinge
(die oft zugleich als Götter oder Priester verehrt wurden)
erschienen dem Primitiven so, als seien sie „im Besitz einer
geheimnisvollen Macht […], die dem [abhängigen – B. N.] Subjekt
den eigenen Willen raubt, oder, was dasselbe ist, das Subjekt glaubt
es von ihm. Diese geheimnisvolle Macht – populär noch oft als
tierischer Magnetismus bezeichnet – muß dieselbe sein, welche dem
Primitiven als die Quelle des Tabu gilt, dieselbe, die von Königen
und von Häuptlingen ausgeht und die es gefährlich macht, sich
ihnen zu nähern», heißt es dazu bei Freud (1921, 140). Am Ende
ist es ein und dieselbe Macht, die der Verliebte dem geliebten
Objekt, der Primitive dem Götterhäuptling und der Schizophrene dem
«Beeinflussungsapparat» zuschreibt. Diese Macht verdankt sich dem
emotionalen Zustand, in dem sich der Abhängige befindet, also der
Ohnmacht des Bedürftigen. Kehren wir
wieder zu Staudenmaier zurück – und zu dem von ihm erlebten und
beschriebenen Zustand des (partiellen) Zerfalls seiner Persönlichkeit:
«Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, daß selbst bei anscheinend
ganz normalen Menschen und in völlig wachem Zustande, namentlich
aber im Traume und bei Geisteskrankheiten, sich für kürzere oder längere
Zeit einzelne Zentren des Unterbewußtseins mehr oder weniger weit
emanzipieren können, wobei dann natürlich oft schwer zu
unterscheiden ist, ob und inwieweit das bewußte Ich noch beteiligt
ist. Es gibt eben die verschiedenen
Zwischenstufen von der völligen autokratischen psychischen
Einheit des normalen Menschen bis zur förmlichen pathologischen
Zersplitterung und weitestgehenden Emanzipation einzelner
Gehirnpartien» (1968, 78). Wenn im Netz
der emotionalen Bindungen (im Innern und im Äußern) Lücken
entstehen, wenn dieses Netzt aufreißt oder gar zerreißt, dann
lockern sich die vordem so fest verknüpften Assoziationen, auf
denen die abgegrenzten Vorstellungsinhalte beruhen. Damit liegen die
Fäden wieder einzeln auf der Hand, die unter normalen Umständen
– zusammengebunden – klare Vorstellungsinhalte ermöglichen. Die
Fähigkeit, Innen und Außen zu unterscheiden, setzt solche
Vorstellungsinhalte voraus und ermöglicht so eine abgegrenzte
Selbst- und Objektwahrnehmung. Staudenmaier
hat bei seinen Selbstversuchen unter der Bedingung sozialer
Isolation das Netz der Assoziationen wieder aufgelöst. So konnte er
die Rohbausteine erkennen, die, zusammengesetzt, das Gebäude
ergeben, das unserer «normalen» Wahrnehmung der Welt und der
eigenen Person entspricht. In diesem Gebäude, das «unsere» Welt
ist, fühlen wir uns sicher.
Beim Verlassen dieses Gebäudes bekommen wir Angst. Deshalb bleiben
wir lieber in dieser Höhle sitzen und begnügen uns mit den
Schatten, die wir für wirkliche Menschen halten, als uns ins Freie
hinauszuwagen und dort den wirklichen Menschen zu begegnen.
Staudenmaiers Versuche zeigen nun aber, daß das Gebäude unserer
Wachvernunft nur ein Traumgebäude ist. Staudenmaier
hat die «weitgehende Spaltung» (1968, 80), die
im Innern jedes Menschen besteht, im Wachen wahrgenommen,
anstatt sie nur als Traum zu erleben. Auch im Hinblick auf die von
Prince (1905) beschriebene «multiple Persönlichkeit» ist
Staudenmaiers Buch aufschlussreich: Die Partialwesen, die sich in
ihm verselbständigt haben, entsprechen dem Bild einer multiplen
Persönlichkeit. Im Zuge der fortschreitenden Desintegration seiner
Normalpersönlichkeit bemerkt Staudenmaier bei sich nun auch
deutlicher «unmoralische oder gemeingefährliche [...] Tendenzen» (1968,
81). Die Tatsache, daß sich einige Partialwesen als «böse»
erweisen, ängstig ihn. Er folgert: «So manche nervöse Störung
ist zweifellos auf Rechnung solcher entarteter Partialwesen zu
setzen, und es ist oft schwer, ihnen beizukommen, da sie sehr
raffiniert sein können» (1968, 82). 3 Staudenmaiers
Experimente erschüttern die Grundüberzeugungen seines gesunden
Menschenverstands. Die Annahme eines
einheitlichen Subjekts als Träger eines einheitlichen Bewußtseins
und einer einheitlich operierenden Vernunft läßt sich nicht mehr
aufrecht erhalten. Dabei ist Staudenmaier, wie er meint, zunächst
ganz freiwillig (und neugierig) in das unbekannte Reich der vielfältig
zusammengesetzten Persönlichkeit vorgedrungen. Am Ende bemüht er
sich dann aber wieder verzweifelt darum, die verlorene Einheit zurückzugewinnen.
Zu diesem Zweck sei es notwendig, auf die Personifikationen
einzureden. In anschaulich-konkretistischer Sprache schildert er
diesen Versuch, bei dem er sie davon überzeugen will, daß es
notwendig ist, sich einer Zentralinstanz zu beugen: «Die
weitere Entwicklung der psychischen Zentren denke ich mir so, daß
ich sie vor allem immer wieder über ihren prinzipiellen Irrtum
der Verwechslung von realer Außenwelt und innerer Vorstellung aufkläre,
daß ich ihnen immer wieder, so unangenehm es
ihnen oft ist, sage: <Du bist kein Kind, du bist keine
Hoheit, du bist kein Teufel>, und daß ich ihnen ihre Zugehörigkeit
zu einem großen Organismus begreiflich zu machen suche. Die meisten
nehmen ja ihre Personifikation so ernst, daß sie, bei unrichtiger Führung
oder Vernachlässigung, der Einheit des Ganzen gefährlich zu werden
droben. Diese Gefahr ist namentlich auch deshalb immer wieder
vorhanden, weil mit dem Auftreten der verschiedenen Halluzinationen
und Personifikationen [...] spezifische Lustgefühle
verbunden sind. Im Zusammenhang, mit der vorher erwähnten
aufklärenden Belehrung wird es sich bei mir weiter darum handeln,
die psychischen Zentren des Unterbewußtseins wieder inniger dem
bewußten Ich anzugliedern und sie zu lehren, mehr gemeinsam mit
demselben und übereinstimmend mit den großen Zielen des gesamten
Organismus zu denken und zu fühlen. Die Personifikationen im
eigentlichen Sinne, im Sinne von Teilwesen, die sich ohne Rücksicht
auf den Gesamtorganismus und das Gemeinwohl weiter zu entwickeln
streben, die das im Ernste werden
und sein wollen, was sie nur als eine Art Künstler
oder Schauspieler darstellen können, müssen wieder verschwinden»
(1968, 151). Die Teilwesen
oder Personifikationen wären demnach allenfalls «Künstler» oder
«Schauspieler». Sie treten in ihrer Rolle jedoch oft sehr überzeugend
auf, so als ob sie reale Menschen wären. Und so hat Staudenmaier mit seinen
Experimenten die Als-ob-Persönlichkeit, bei der
Teilidentifikationen (Personifikationen) vorübergehend das Ganze
repräsentieren, auch noch erklärt. Herbert
Silberer (1913) hat für die psychoanalytische Zeitschrift «Imago»
Stauenmaiers Buch besprochen. Staudenmaier habe sich «unter steter
Beobachtung seiner selbst mit großer Mühe und Kunst systematisch
eine Besessenheit […] angezüchtet», heißt es da (I913,447).
Weiter stellte Silberer bei dieser Gelegenheit fest, Staudenmaier
sei «durch harte Erfahrungen» zur «Erkenntnis» gelangt, daß «die
Seele keine so absolute Einheit darstellt, als man gewöhnlich
annimmt» (1913, 450). Zwischen Staudenmaiers Beobachtungen und den
durch die psychoanalytische Behandlung provozierten Erlebnisinhalten
gebe es daher Übereinstimmungen – aber auch Unterschiede.
Silberer zollte Staudenmaier, dem «ernsten Mann», gebührenden
Respekt, weil der experimental-«magische» Studien unternahm, die
ihm beinahe den Verstand kosteten. Literatur Breuer,
J., Freud, S.: Studien über Hysterie (1895). Neuausgabe (unter Veränderung
der Autorenfolge): Frankfurt a. M. (Fischer) 1970. Freud,
S.: Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die
Entstehung hysterischer Symptome durch den «Gegenwillen». 1892/93 G. W. I. Freud,
S.: Die Traumdeutung. 1 900. G. W. II / III Freud,
S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse. 1921. G. W. XIII. Jung, C. G.:
Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene. 1902. G. W. Bd. 1. Olten,
Freiburg i. Br. (Walter)
1971, 1-98. Prince,
M.: The dissociation of personality. The hunt of the real Miss
Beauchamp (1905). Neuausgabe:
Oxford (Oxford Univ. Press) 1978. Schreber,
D. P.: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Neuausgabe:
Frankfurt a. M., Berlin, Wien (Ullstein) 1973. Silberer,
H.: Buchbesprechung. Imago 2, 1913, 447-451. Staudenmaier,
L.: Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft (1905).
Neuausgabe: Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1968. Tausk,
V.: Über die Entstehung des «Beeinflussungsapparates» in der
Schizophrenie (1919). Neudruck in: Tausk, V.: Gesammelte
psychoanalytische und literarische Schriften (hg. H.-J. Metzger).
Wien, Berlin (Medusa) 1983, 245-286. Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags,
der erstmals erschienen ist in Bernd Nitzschke: Sexualität und Männlichkeit. Zwischen Symbiosewunsch und Gewalt,
Reinbek (Rowohlt) 1988, 228-237. |