Bernd Nitzschke

«Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft»

oder

Einsamkeit als Mißgeschick einer «künstlichen Schizophrenie»

Anmerkungen zu Ludwig Staudenmaier (1865 - 1933)

 

Kurze Zeit nach der Jahrhundertwende veröffentlichte Dr. Ludwig Staudenmaier (kgl. ord. Gymnasialprofessor für Experimentalchemie am Lyzeum in Freising bei München) ein Buch mit dem etwas merkwürdigen Titel: «Die Magie als Experimentelle Naturwissenschaft» (1912 – zit. n. Neuausgabe: 1968). Darin beschreibt er eigene Erlebnisse als «Naturwissenschaftler», die er als «magische» auffaßt, und die infolge einer (wie er selbst meint) freiwilligen Isolation aufgetreten waren. Was er als «magisch» begreift, sind sinnlich-emotionale Prozesse, die erlebt werden können, wenn infolge von Reizentzug und Isolierung ein Zerfall der Persönlichkeit eingetreten ist. Staudenmaier beschreibt also die Magie des Körpers unter der Bedingung psychischer Desintegration. Dabei ist er sich selbst nicht ganz darüber im klaren, welche Erlebnisse er dem (bis dahin) Unbewußten, und welche er der «Magie» im engeren Sinn zuord­nen soll. Er beruft sich auf eine Reihe älterer Lehren, die Aussagen über ähn­liche Beobachtungen enthielten: auf Hexerei, Zauberei, Medizin der Primitiven, Schamanismus, Hypnotismus, animalischen Magnetismus, Mesmerismus, Mystizismus, Spiritismus und Okkultismus. Mit anderen Worten: Staudenmaier entdeckt im Zuge einer individuellen Regression Bereiche, die im Verlauf der Vernunftgeschichte zunehmend aus der offiziellen Kultur ausgeschlossen worden sind. Er redet also über Para-Wissenschaften, deren Gegenstände der Vernunft (der «naturwissenschaftlichen» zumal) höchst verdächtig erscheinen und eigentlich nicht sein (oder wenigstens nicht wahrnehmbar sein) sollten.

 

Staudenmaier meint, es müsse ein spezielles Wahrnehmungsorgan geben, mit dessen Hilfe man die innerseelische Welt zu Gesicht bekomme. Dabei beruft er sich auf die Mystiker, die Theosophen und die Anthroposophen (Rudolf Steiner vor allem), dann aber auch auf Goethe (vgl. Staundenmaier 1968, 14). Er wägt die Argumente kritisch ab und glaubt, seine These belegen zu können. Auch die Schriften von Psychoanalytikern – etwa Freud, Silberer und Jung – zitiert er. Immerhin hatte Jung mit einer Arbeit «Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene», 1902) promoviert. Staudenmaier war also nur einer von vielen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Ausgeschlossenen der Vernunft beschäftigten und sich so den unter- und hintergründigen Welten annäherten. Seine Aufzeichnungen erinnern zudem an die «Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken» (Schreber 1903). Wie in diesem Werk, so kreuzen das wissenschaftliche und das wahnhafte Denken auch in Staudenmaiers Buch die Klingen. Zurück bleibt ein Autor, der meint, die «Magie» experimentell betrieben, und dabei, wie er anfügt, eine «künstliche Schizophrenie» bei sich selbst erzeugt zu haben.

 

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Staudenmaier beginnt mit Versuchen zum «automatischen Schreiben» (die surrealistischen Literaten und Künstler wiederholen das wenig später). Zunehmend gleitet er so in eine «andere» Welt ab. Er hört Stimmen – «auch gegen meinen Willen»; und «sie wurden vielfach böswillig, raffiniert, spöttisch, zänkisch, ärgerlich usw.» (1968, 24). Was dem vernünftigen und organisierten Wachdenken verborgen war, kommt nun in Form von Geistererscheinungen zum Vorschein. Mitunter glaubt Staudenmaier jetzt, die «Geister» könnten sich materialisieren. Früher als erwünscht befindet er sich im Kampf mit den Geister-Wesen. Wenn es zunächst auch noch nicht um Leben oder Tod geht (Jahrzehnte später, nachdem er bereits mehrfach wegen einer Psychose in psychiatrischen Kliniken behandelt worden ist, hungert er sich tatsächlich dem Tode entgegen), so geht es bei dem im Buch beschriebenen Kampf doch um Erhalt oder Untergang des Ich (und des an das Ich gebundenen vernünftigen Wachdenkens).

 

Der «Gegenwille» macht sich immer stärker bemerkbar. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die erste in Freuds Gesammelte Werke aufgenommene Arbeit (Freud 1892/93) auch mit dem «Gegenwillen» zu tun hat. Staudenmaier schreibt: «Es ging dann tagelang ganz gegen meinen Willen ein unerträgliches und widerliches Streiten fort» (1968, 25), ein Zwist, der zwischen den sich verselbständigenden Geistern und dem noch erhaltenen Ich-Bewußtsein des Verfassers ausbricht. Die Spaltung in einen als fremd erlebten «Gegenwillen» und in einen Willen, der als eigener empfunden wird (gemeint sind die Triebimpulse oder Wünsche, mit denen sich Staudenmaier identifizieren kann), zeigt den fortschreitenden Desintegrationsprozeß an. «Gegenwille» und eigener Wille konstituieren den inneren Konflikt, der als Konflikt zwischen unterschiedlichen Identifikationssystemen aufzufassen wäre.

 

Staudenmaier stellt fest, daß sich seine vormals einheitlich erlebte Persönlichkeit nun in eine Reihe von Subpersönlichkeiten aufspaltet. Diese Subpersönlichkeiten grenzen sich voneinander ab und versuchen, nachdem sie sich verselbständigt haben, die Herrschaft an sich zu reißen. Mit zunehmendem Entsetzen registriert Staudenmaier, daß er die Geister, die er rief, immer weniger durch die Zentralgewalt seines Ichs steuern kann; daß jetzt nicht mehr er sie, sondern sie ihn beherrschen.

 

Da Staudenmaier seine Selbstversuche mit äußerster Rücksichtslosigkeit betreibt, wird nun auch seine körperliche Gesundheit «auf das schwerste angegriffen» (1968, 28). Der depersonalisierten Innenwelt entspricht dabei eine derealisierte Außenwelt. So erscheint die Welt als verzerrt, als «magisch», bevölkert von bedrohlichen und faszinieren­den phantastischen Gestalten. So glaubt Staudenmaier zum Beispiel, bei der Jagd in den Isar-Auen anstelle von Elstern Spottgestalten auf den Bäumen sitzen zu sehen; oder er verkennt einen Strauch als weibliches Wesen, als schönes Mädchen. Immer schwerer fällt ihm die Realitätsprüfung: Was ist innen, was ist außen? Was ist Phantasma, was ist objektiv-materiell vorhandenen?

 

Staudenmaier benennt nun auch die wesentliche Bedingung, unter der sich solche Erlebnisse einstellen können: «Jedenfalls lag ein Hauptgrund dieser inneren Quälereien darin, daß ich vereinsamt lebte, zuviel nachdachte und mich selbst beobach­tete» (1968, 31). Unter der Bedingung des Rückzugs aus emotio­nalen Bindungen verändert sich die Wahrnehmung; das Labyrinth der Seele öffnet sich. Nun wird vieles von dem erlebbar, was normaler­weise «unbewußt» bleibt oder nur in nächtlichen Träumen auftaucht. Der Faden der Ariadne, den Theseus in der Hand behielt, als er ins Labyrinth eintrat, um das dort verbor­gene Ungeheuer (das Trauma) zu finden und zu töten, das war die Bindung an eine Frau; sie fehlt Staudenmaier beim Abstieg in die Unterwelt. Der Faden, den er – anstelle der Bindung an einen anderen Menschen – besitzt, besteht nur aus der Erinnerungen und aus dem kritisch-vernünftigen (naturwissenschaftlichen) Wissen, dem zufolge die Dinge nicht schon immer so waren, wie sie jetzt erscheinen. Dieses Wissen beschwört Staudenmaier, um den Einfluß der «Geister» zurückzudrängen, die ihn nötigen wollen, an deren reale Existenz zu glauben. Diese inneren Wesen, die sich äußerlich zu materialisieren scheinen, bringt Staudenmaier trefflich auf den Begriff: Er nennt sie «Personi­fikationen» (1968, 33). Tatsächlich dürfte es sich um Teilstücke früh verinnerlichter Personen handeln, also um Bruchstücke von Ob­jekt-(und Selbst-)Repräsentanzen, die unter regressiven Bedingungen wieder etwas von ihrer ursprünglichen Kraft und Leb­haftigkeit zurückgewinnen können. Was einmal außen war, dann verinnerlicht und in die psychische Struktur eingeschmolzen wurde, gewinnt nun neue Selbständigkeit und taucht schließlich in der Außenwelt (scheinbar) wieder auf. Die Verwechslung von innen und außen liegt damit nahe. Noch ein oder zwei Schritte weiter – und der Schizophrene unterhält sich mit halluzinierten Geistern so, als seien sie wirkliche Menschen.

 

Was «normalerweise» unentdeckt in die Realitätswahr­nehmungen eingeht, also mit dem Außenwelt­objekt verschmolzen ist, das wird im Selbstexperiment à la Staudenmaier wieder separiert und freigesetzt. Staudenmaier trifft die Gestalten seines Inneren deshalb nicht mehr als Er-Innerungen, sondern als Traumgebilde an, die sich jetzt, zu neuem Leben erwacht, wie Menschen in der Außenwelt zu verhalten scheinen. Staudenmaier ist nun aber kein mythischer Sänger. Er beschreibt die archaisch-infantilen Wahrnehmungs-Traum-Bilder, die einst­mals die Mythenschöpfer zum Anlaß nahmen, um poetische Traumwelten zu gestalten, deshalb ganz nüchtern.

 

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Wir dürfen annehmen, daß Staudenmaier Freuds «Traumdeutung» (1900) kannte. Freud hatte festgestellt, daß es im Traum zu einer Wahr­nehmungsregression kommt, in deren Verlauf ein ursprüngliches Bilderdenken (das dem Wachbewußtsein weitgehend verborgen bleibt) wieder die Oberhand gewinnt. Es kommt gleichsam zu einer Umkehrung des Wahrnehmungsvorgangs, in deren Verlauf das äußere durch ein inneres Bild ersetzt wird. Staudenmaier spricht von einem «Gesetz der Umkehrbarkeit (Reversibilität) des Verlaufs der Nervenerregungen» (1968, 43). Und er stellt fest: «Menschen, die viel sich selber überlassen bleiben, Sonderlinge, welche die Einsamkeit zu sehr aufsuchen, erzielen häufig solch rückläufige Verstärkungen der aus verschiedenen Körpergebieten kommenden Erregungen unbewußt und unfreiwillig. Sie neigen daher zu Halluzinationen, Gesprächen <mit sich selbst>, zu Einbildungskrankheiten, Hysterie usw.» (1908, 45).

 

Entsprechende Erlebnisse berichten auch Schizophrene, die versuchen, sich und anderen zu versinnbildlichen und zu erklären, was sie bewegt. So berichten sie von einem «Beeinflussungsapparat» (Tausk 1919). Dieser Apparat wird als Quelle geheimnisvoller Strahlen oder Magnetismen aufgefaßt, wobei andere Wesen die Macht haben sollen, diesen Apparat – meist zum Schaden des Kranken – zu bedienen. Zwar glaubt Staudenmaier nicht an einen solchen Apparat, denn er ist noch immer in der Lage, seine Trugwahrnehmungen kritisch zu relativieren; aber er hat Erlebnisse, die in letzter Konkretisierung zur gedanklichen Konstruktion eines solchen Apparates führen. Sie werden von ihm überzeugend beschriebenen. Es fehlt allerdings der letzte Schritt zur Verdichtung des «Bösen» (des Unheimlichen oder Übermächtigen) in einem Verfolger, der bei der Paranoia zu beobachten ist.

 

Staudenmaier schwankt zwischen der Annahme, die Personifikationen – z. B. «Hoheit, Kind, Teufel» (1968, 68) – seien materialisiert vorhanden, und der Annahme, sie seien nur Ausdruck des eigenen Innern. Sich selbst bescheinigt er, in der Lage zu sein, Innen und Außen weiterhin unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit zur Realitätsprüfung spricht er seinen Teilpersönlichkeiten – den von ihm so genannten Personifikationen – ab. Sie könnten «Wirklichkeit und Vorstellung» nicht unterscheiden und blieben deshalb in «einer gewissen Suggestion befangen» (1968, 75).

 

Suggestibilität ist eine regelmäßig Begleiterscheinung regressiver Entgrenzung (und ein großer Teil der Abwehr, die sich bei entsprechenden Patienten beobachten läßt, dürfte dem Versuch zuzuschreiben sein, sich gegen die eigene Suggestibilität – beziehungsweise gegen denjenigen, von dem der Versuch der Beeinflussung auszugehen scheint – zur Wehr zu setzen). Suggestibilität tritt aber auch im normalseelischen Erleben auf – etwa bei der Verliebtheit. Und «von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose. Die Übereinstimmungen beider sind augenfällig. Dieselbe demütige Unterwerfung, Gefügig­keit, Kritiklosigkeit gegen den Hypnotiseur wie gegen das geliebte Objekt» (Freud 1921, 126).

 

Wir dürfen weitergehend interpretieren: Der Isolierte, der Kranke, der die emotionale Bindung an andere Menschen verloren hat, befindet sich im Zustand der Verliebtheit ohne Objekt, in einem Zustand der Bindungsbereit­schaft, die ihn in hohem Grade suggestibel und beeinflußbar macht, da er vom Wunsch, den bindungslosen Zustand zu überwinden, beherrscht wird. Und gerade deshalb fürchtet er sich vor Überwältigung durch denjenigen, an den er sich binden will.

 

Bindungssehnsucht und Bindungsangst konstituieren den inneren Konflikt, der sich in zwischenmenschlichen Beziehungen als Nähe-Distanz-Konflikt, aber auch als Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt bemerkbar macht. Man kann psychische Krankheit als Folge von Kränkung (oder besser gesagt: vielfach wiederholter Kränkungen) und des daraus resultierenden Rückzugs aus sozialen Beziehungen verstehen, aber auch als Schutzreaktion, die zu einem Zustand führt, der alles andere als Schutz ge­währt, nämlich zu einem hochgradig bedürftigen Zustand, der vom Wunsch nach Bindung und von der Angst vor Bindung beherrscht wird.

 

Folgeerscheinungen sind das Empfinden der eigenen Schwäche (oft kompensiert durch unrealistische Größenphantasien) und das Erleben des anderen als mächtig oder gar übermächtig. Diese Selbst- wie Fremdwahrnehmung hat einen realistischen Kern: man ist schwach, weil man sich nicht selbst geben kann, was man braucht; und der andere ist stark, weil er (vermeintlich) über die Ressourcen verfügt, die man braucht, und weil er (vermeintlich) entscheiden kann, ob er davon etwas abgibt oder nicht. Das entspricht dem (Wieder-)Erleben einer Beziehung aus grauer Vorzeit. Auch damals gab es einen hilflos-ohnmächtigen Menschen, das bedürftige «Kind», und Menschen, die mächtig waren: die Eltern, von deren Zuwendung und Versorgung das Kind abhängig war. Wenn sich eine solche Relation im Erleben später wieder hergestellt, dann gelten die alten «magischen» Gesetzmäßigkeiten wieder. Und so scheint der ersehnte, geliebte, ver­ehrte, bewunderte, von der Kritik des vernünftigen Wachdenkens nicht mehr relativierte Mensch all die Eigenschaften und Vermögen zu besitzen, die das primitive Denken Göttern, Häuptlingen oder Führern zuschreibt.

 

Häuptlinge (die oft zugleich als Götter oder Priester verehrt wurden) erschienen dem Primitiven so, als seien sie „im Besitz einer geheimnisvollen Macht […], die dem [abhängigen – B. N.] Subjekt den eigenen Willen raubt, oder, was dasselbe ist, das Subjekt glaubt es von ihm. Diese geheimnisvolle Macht – populär noch oft als tierischer Magnetismus bezeichnet – muß dieselbe sein, welche dem Primitiven als die Quelle des Tabu gilt, dieselbe, die von Königen und von Häuptlingen ausgeht und die es gefährlich macht, sich ihnen zu nähern», heißt es dazu bei Freud (1921, 140). Am Ende ist es ein und dieselbe Macht, die der Verliebte dem geliebten Objekt, der Primitive dem Götterhäuptling und der Schizophrene dem «Beeinflussungsapparat» zuschreibt. Diese Macht verdankt sich dem emotionalen Zustand, in dem sich der Abhängige befindet, also der Ohnmacht des Bedürftigen.

 

Kehren wir wieder zu Staudenmaier zurück – und zu dem von ihm erlebten und beschriebenen Zustand des (partiellen) Zerfalls seiner Persönlichkeit: «Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, daß selbst bei an­scheinend ganz normalen Menschen und in völlig wachem Zu­stande, namentlich aber im Traume und bei Geisteskrankheiten, sich für kürzere oder längere Zeit einzelne Zentren des Unterbewußtseins mehr oder weniger weit emanzipieren können, wobei dann natürlich oft schwer zu unterscheiden ist, ob und inwieweit das bewußte Ich noch beteiligt ist. Es gibt eben die verschiedenen Zwischenstufen von der völligen autokratischen psychischen Einheit des normalen Menschen bis zur förmlichen pathologischen Zersplitterung und weitestgehenden Emanzipation einzelner Gehirnpartien» (1968, 78).

 

Wenn im Netz der emotionalen Bindungen (im Innern und im Äußern) Lücken entstehen, wenn dieses Netzt aufreißt oder gar zerreißt, dann lockern sich die vordem so fest verknüpften Assoziationen, auf denen die abgegrenzten Vorstellungsinhalte beruhen. Damit liegen die Fäden wieder einzeln auf der Hand, die unter normalen Umständen – zusammengebunden – klare Vorstellungsinhalte ermöglichen. Die Fähigkeit, Innen und Außen zu unterscheiden, setzt solche Vorstellungsinhalte voraus und ermöglicht so eine abgegrenzte Selbst- und Objektwahrnehmung.

 

Staudenmaier hat bei seinen Selbstversuchen unter der Bedingung sozialer Isolation das Netz der Assoziationen wieder aufgelöst. So konnte er die Rohbausteine erkennen, die, zusammengesetzt, das Gebäude ergeben, das unserer «normalen» Wahrnehmung der Welt und der eigenen Person entspricht. In diesem Gebäude, das «unsere» Welt ist, fühlen wir uns sicher. Beim Verlassen dieses Gebäudes bekommen wir Angst. Deshalb bleiben wir lieber in dieser Höhle sitzen und begnügen uns mit den Schatten, die wir für wirkliche Menschen halten, als uns ins Freie hinauszuwagen und dort den wirklichen Menschen zu begegnen. Staudenmaiers Versuche zeigen nun aber, daß das Gebäude unserer Wachvernunft nur ein Traumgebäude ist.

 

Staudenmaier hat die «weitgehende Spaltung» (1968, 80), die im Innern jedes Menschen besteht, im Wachen wahrgenommen, anstatt sie nur als Traum zu erleben. Auch im Hinblick auf die von Prince (1905) beschriebene «multiple Persönlichkeit» ist Staudenmaiers Buch aufschlussreich: Die Partialwesen, die sich in ihm verselbständigt haben, entsprechen dem Bild einer multiplen Persönlichkeit. Im Zuge der fortschreitenden Desintegration seiner Normalpersönlichkeit bemerkt Staudenmaier bei sich nun auch deutlicher «unmoralische oder gemeingefährliche [...] Tendenzen» (1968, 81). Die Tatsache, daß sich einige Partialwesen als «böse» erweisen, ängstig ihn. Er folgert: «So manche nervöse Störung ist zweifellos auf Rechnung solcher entarteter Partialwesen zu setzen, und es ist oft schwer, ihnen beizukommen, da sie sehr raffiniert sein können» (1968, 82).

 

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Staudenmaiers Experimente erschüttern die Grundüberzeugungen seines gesunden Menschenverstands. Die Annahme eines einheitlichen Subjekts als Träger eines einheitlichen Bewußtseins und einer einheitlich operierenden Vernunft läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Dabei ist Staudenmaier, wie er meint, zunächst ganz freiwillig (und neugierig) in das unbekannte Reich der vielfältig zusammengesetzten Persönlichkeit vorgedrungen. Am Ende bemüht er sich dann aber wieder verzweifelt darum, die verlorene Einheit zurückzugewinnen. Zu diesem Zweck sei es notwendig, auf die Personifikationen einzureden. In anschaulich-konkretistischer Sprache schildert er diesen Versuch, bei dem er sie davon überzeugen will, daß es notwendig ist, sich einer Zentralinstanz zu beugen: «Die weitere Entwicklung der psychischen Zentren denke ich mir so, daß ich sie vor allem immer wieder über ihren prinzipiellen Irr­tum der Verwechslung von realer Außenwelt und innerer Vorstellung aufkläre, daß ich ihnen immer wieder, so unangenehm es ihnen oft ist, sage: <Du bist kein Kind, du bist keine Hoheit, du bist kein Teufel>, und daß ich ihnen ihre Zugehörigkeit zu einem großen Organismus begreiflich zu machen suche. Die meisten nehmen ja ihre Personifikation so ernst, daß sie, bei unrichtiger Führung oder Vernachlässigung, der Einheit des Ganzen gefährlich zu werden droben. Diese Gefahr ist namentlich auch deshalb immer wieder vorhanden, weil mit dem Auftreten der verschiedenen Halluzinationen und Personifikationen [...] spezifische Lustgefühle verbunden sind. Im Zusammenhang, mit der vorher erwähnten aufklärenden Belehrung wird es sich bei mir weiter darum handeln, die psychischen Zentren des Unterbewußtseins wieder inniger dem bewußten Ich anzugliedern und sie zu leh­ren, mehr gemeinsam mit demselben und übereinstimmend mit den großen Zielen des gesamten Organismus zu denken und zu fühlen. Die Personifikationen im eigentlichen Sinne, im Sinne von Teilwesen, die sich ohne Rücksicht auf den Gesamtorganis­mus und das Gemeinwohl weiter zu entwickeln streben, die das im Ernste werden und sein wollen, was sie nur als eine Art Künst­ler oder Schauspieler darstellen können, müssen wieder ver­schwinden» (1968, 151).

 

Die Teilwesen oder Personifikationen wären demnach allenfalls «Künstler» oder «Schauspieler». Sie treten in ihrer Rolle jedoch oft sehr überzeugend auf, so als ob sie reale Menschen wären. Und so hat Staudenmaier mit seinen Experimenten die Als-ob-Persönlichkeit, bei der Teilidentifikationen (Personifikationen) vorübergehend das Ganze repräsentieren, auch noch erklärt.

 

Herbert Silberer (1913) hat für die psychoanalytische Zeitschrift «Imago» Stauenmaiers Buch besprochen. Staudenmaier habe sich «unter steter Beobachtung seiner selbst mit großer Mühe und Kunst systematisch eine Besessenheit […] angezüchtet», heißt es da (I913,447). Weiter stellte Silberer bei dieser Gelegenheit fest, Staudenmaier sei «durch harte Erfahrungen» zur «Erkenntnis» gelangt, daß «die Seele keine so absolute Einheit darstellt, als man gewöhnlich annimmt» (1913, 450). Zwischen Staudenmaiers Beobachtungen und den durch die psychoanalytische Behandlung provozierten Erlebnisinhalten gebe es daher Übereinstimmungen – aber auch Unterschiede. Silberer zollte Staudenmaier, dem «ernsten Mann», gebührenden Respekt, weil der experimental-«magische» Studien unternahm, die ihm beinahe den Verstand kosteten.

 

 

Literatur

Breuer, J., Freud, S.: Studien über Hysterie (1895). Neuausgabe (unter Verände­rung der Autorenfolge): Frankfurt a. M. (Fischer) 1970.

Freud, S.: Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den «Gegenwillen». 1892/93 G. W. I.

Freud, S.: Die Traumdeutung. 1 900. G. W. II / III

Freud, S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse. 1921. G. W. XIII.

Jung, C. G.: Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phäno­mene. 1902. G. W. Bd. 1. Olten, Freiburg i. Br. (Walter) 1971, 1-98.

Prince, M.: The dissociation of personality. The hunt of the real Miss Beauchamp (1905). Neuausgabe: Oxford (Oxford Univ. Press) 1978.

Schreber, D. P.: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Neuausgabe: Frankfurt a. M., Berlin, Wien (Ullstein) 1973.

Silberer, H.: Buchbesprechung. Imago 2, 1913, 447-451.

Staudenmaier, L.: Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft (1905). Neuausgabe: Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1968.

Tausk, V.: Über die Entstehung des «Beeinflussungsapparates» in der Schizo­phrenie (1919). Neudruck in: Tausk, V.: Gesammelte psychoanalytische und literarische Schriften (hg. H.-J. Metzger). Wien, Berlin (Medusa) 1983, 245-286.

 

Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals erschienen ist in Bernd Nitzschke: Sexualität und Männlichkeit. Zwischen Symbiosewunsch und Gewalt, Reinbek (Rowohlt) 1988, 228-237.