Bernd
Nitzschke Wilhelm
Stekel, Pionier der Psychoanalyse Anmerkungen
zu ausgewählten Aspekten seines Werkes Wilhelm
Stekel (1868-1940) gehört neben Alfred Adler und Carl Gustav Jung zu
jenen Pionieren, die wesentlich zur Institutionalisierung der
Psychoanalyse beigetragen haben, bei der Gründung der »Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung« (IPV) auf dem Nürnberger Kongreß 1910
noch eine entscheidende Rolle spielten, in den nachfolgenden Jahren
jedoch aus der psychoanalytischen »Bewegung« ausgegrenzt wurden. In
seiner Schrift »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«
bezeichnet Freud allerdings nur zwei der »Abfallsbewegungen« (1914a,
S. 91), nämlich die Adlersche und die Jungsche, als durch theoretische
Meinungsverschiedenheiten bedingte Abspaltungen, während er für
Stekels Ausscheiden andere Gründe nennt: Das Verhalten des »später völlig
verwahrlosten« Stekel (1914a, S. 58) sei, so heißt es bei Freud, »in
der Öffentlichkeit schwer darstellbar« (1914a, S. 90). Durch diese Formulierung wird der Schluß nahegelegt, im Falle Stekels hätten
wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten keine Rolle gespielt. Stekel,
der unter der Trennung von Freud litt, unternahm später mehrmals
Versuche, den Kontakt wieder aufzunehmen, er scheiterte damit jedoch an
Freuds Unversöhnlichkeit. In einem Antwortbrief – Stekel hatte Freud
zum Jahreswechsel 1923/24 gratuliert und Genesungswünsche in Bezug auf
dessen Krebserkrankung ausgesprochen – stellte Freud dann noch einmal
klar, was aus seiner Sicht die Trennung notwendig gemacht hatte: »Der
Sachverhalt ist, daß ich nach anfänglicher Sympathie [...] mich durch
viele Jahre über Sie ärgern musste [...], und daß ich mit Ihnen
brach, nachdem Sie mich bei einem bestimmten Anlaß in garstiger Weise
hintergangen hatten [...]. Ich widerspreche auch Ihrer so oft
wiederkehrenden Behauptung, Sie seien von mir wegen wissenschaftlicher
Differenzen verstoßen worden. Das macht sich vor der Öffentlichkeit
recht gut, entspricht aber nicht der Wahrheit« (Freud 31980,
S. 365).[i]
Diese Version, der zufolge Stekels Charakterfehler und die daraus
resultierenden »Anlässe« (einschließlich eines angeblich
leichtfertigen Umgangs Stekels mit der wissenschaftlichen Wahrheit) zur
Trennung führen mußten, ist in der Freud-Biographik von Jones (1962,
II, S. 165ff.) bis Gay (1989, S. 244) tradiert worden. Ich will
versuchen, diese Version in einigen Punkten zu erläutern und
gegebenenfalls zu ergänzen, da Stekels Verdienste um wichtige
Grundkonzepte der Psychoanalyse aufgrund der Tendenz dieser überlieferten
Version in Vergessenheit geraten sind. Was die von Freudbehaupteten Eigenschaften Stekels anbelangt, so finden
sich bereits aus der Zeit vor der Trennung viele Briefzeugnisse, die
Freuds negative Meinung über Stekel belegen. So tituliert Freud
beispielsweise in einem Brief an Jung anläßlich eines soeben
erschienenen Buches von Stekel (»Die Sprache des Traumes«, 1911 a) den
Autor als »Schwein«. Diese Formulierung – »das Schwein findet Trüffeln«
(Freud, Jung 1974, S. 446) – gefällt Jung, der Stekel gegenüber
ebenfalls negativ eingestellt ist, so gut, daß er, Freuds Vergleich
aufgreifend, antwortet, »es wäre schade, wenn sein Riechorgan uns
verlorenginge« (S. 468). Das soll wohl bedeuten, ohne Stekels Mithilfe
wären künftig manche »Trüffel« schwerer zu finden. Freud hatte bereits in einem früheren Brief an Jung angekündigt, er »lauere«
nur auf eine »Gelegenheit«, Adler und Stekel »abzuwerfen« (1974, S.
445). Im Falle Stekels überlegte er es sich zunächst wieder anders.
Er wolle Stekel »wie eine alte Köchin« behalten, heißt es in einem
Brief an Jung vom 27. April 1911, da Stekel »im ganzen gutmütig«
(1974, S. 461) sei. Die »alte Köchin« bekam wieder einen Platz in der
Wiener Gruppe, wenngleich nur vorübergehend und nicht ohne demütigende
Gesten, zugesprochen. Stekel konnte (zunächst) bleiben, nachdem er sich
unterworfen, das heißt: von Freud hatte »anspucken« lassen. Freud an
Jung: »Gestern hatten wir Diskussion über sein Buch; ich verlas das
[...] Referat, er behauptete, anstatt sich angespuckt zu fühlen, es
habe bloß geregnet, und so ging es ganz gut« (1974, S. 462). Der im Brief Freuds an Stekel aus dem Jahre 1924 erwähnte »Anlaß«,
der dann doch zur Trennung Freuds von dem »im ganzen gutmütigen«
Stekel führen sollte, ist mit der ersten Institutionalisierungsphase
der Psychoanalyse verwoben, weshalb hier kurz einige Fakten zu
rekapitulieren sind. Die beiden Gründungsmitglieder der »Psychologischen
Mittwoch-Gesellschaft« Adler und Stekel hatten 1910 beim Nürnberger
Kongreß erfolgreich dagegen opponiert, Jung, wie von Freud zunächst
vorgesehen, auf Lebzeiten zum Präsidenten der »Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung« zu wählen. Statt dessen wurde Jungs
Amtszeit, wie es demokratischem Brauch entspricht, zeitlich limitiert.
Es gelang den Wiener Rebellen ebenfalls, den Vorschlag zurückzuweisen,
alle psychoanalytischen Publikationen hinfort vereinsinterner Vorzensur
zu unterwerfen. Und schließlich standen die Wiener Juden Adler und
Stekel auch noch an der Spitze derer, die gegen die Bevorzugung des
schweizerischen »Ariers« Jung protestierten. Sie wollten Freuds
Argumentation nicht folgen, wonach wegen der Kronprinzenrolle Jungs künftig
weniger antisemitische Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse zu
erwarten seien. Um die rebellierenden Wiener zu beschwichtigen, überließ Freud im
Anschluß an den Nürnberger Kongreß Adler und Stekel den ersten bzw.
zweiten Vorsitz der Wiener Ortsgruppe, deren wissenschaftlicher
Vorsitzender Freud allerdings blieb. Adler und Stekel wurde außerdem
die Schriftleitung des neu gegründeten »Zentralblatts für Psychoanalyse«
übertragen, als dessen Herausgeber Freud fungierte. Dies war als
Ausgleich für den Einfluß gedacht, den Jung als verantwortlicher
Redakteur künftig auf das »Jahrbuch für
psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen« ausüben konnte. Kurze Zeit nachdem
dieser Kompromiß erreicht war, spielten sich – einer Darstellung
Stekels (1926) zufolge – die weiteren Ereignisse so ab: 1912 wollte
sich Freud die Verfügungsgewalt über das »Zentralblatt« wieder
sichern, nachdem zuvor Adler aus der Wiener Vereinigung und damit auch
aus der Redaktion des »Zentralblatts« ausgeschieden war. Stekel
weigerte sich jedoch, dem Wunsch Freuds zu entsprechen, Victor Tausk,
einen entschiedenen und persönlichen Gegner Stekels, hinfort als ständigen
Referenten des »Zentralblatts« zu akzeptieren. Stekel hatte sich rechtzeitig mit Bergmann, dem Verleger des »Zentralblatts«,
abgesprochen, um sich von ihm, dem die Querelen in der Wiener Gruppe
persönlich gleichgültig waren, für den Fall eines unlösbaren
Konflikts mit Freud, der seit der Rebellion Adlers und Stekels beim Nürnberger
Kongreß 1910 in der Luft lag, die Verfügungsgewalt über das »Zentralblatt«
zusichern zu lassen. Bergmann gab eine solche Zusicherung gegenüber
Stekel ab, und zwar wahrscheinlich nicht deshalb, weil er Stekel
besonders schätzte, vielmehr deshalb, weil er sich durch Freud wegen
der Neugründung einer psychoanalytischen Zeitschrift (»Imago«) brüskiert
fühlte, in der er ein Konkurrenzblatt fürchtete. Freud konnte
Bergmanns Entscheidung zugunsten Stekels nicht mehr rückgängig machen,
und Stekel weigerte sich hartnäckig, Tausk als Referenten des »Zentralblatts«
zu akzeptieren. Wollte sich Freud den von Stekel und Bergmann gesetzten
Bedingungen nicht unterwerfen, mußte er sich von Stekel wie vom »Zentralblatt«
trennen.[ii]
Dies alles erklärt allerdings noch nicht, warum Freud 1912, nachdem der
Konflikt mit Adler bereits entschieden war, Victor Tausk, den Eissler
(1971) in der Rückschau als psychopathologischen Fall einstufte[iii],
unbedingt als ständigen Referenten des von Stekel verantwortlich
redigierten »Zentralblatts« durchzusetzen versuchte. War das ein
sachlich berechtigter Wunsch Freuds oder nur ein Schachzug, der die »Gelegenheit«
liefern sollte, Stekel endlich »abzuwerfen«, wie es in einem früheren
Brief Freuds an Jung geheißen hatte (1974, S. 445)?[iv] Eine Vermutung liegt nahe, die verständlicher machen könnte, warum
Freud daran interessiert war, sein ursprüngliches Ziel, Adler und
Stekel gemeinsam »abzuwerfen«, das er mit dem Ausscheiden Adlers
bereits zur Hälfte realisiert hatte, nunmehr vollständig zu erreichen.
Diese Vermutung setzt voraus, daß Freud im
Konflikt mit Stekel die treibende Kraft war – und stellt die
Behauptung in Frage, bei dieser Trennung hätten wissenschaftliche
Differenzen keine Rolle gespielt. Nur wenige Monate vor dem Eklat um das »Zentralblatt« hatte Stekel die
Freudsche These einer eigenständigen diagnostischen Kategorie, genannt
»Aktualneurosen«, in Frage gestellt und damit der Behauptung widersprochen,
die von Freud als schädlich (pathogen) angenommenen Formen der
Sexualbetätigung (Masturbation und Coitus interruptus) seien für die
Entstehung von »Aktualneurosen« verantwortlich. Mit Verweis auf Fälle,
die er selbst behandelt habe, widersetzte sich Stekel im Verlauf der in
der Wiener Vereinigung geführten »Onanie-Debatte« der auf
theoretischen Vorannahmen aus der Fließ-Zeit beruhenden These Freuds,
wonach Selbstbefriedigung als inadäquate Abfuhr sexueller Erregung
aufzufassen sei (s. Diskussionen
… 1912). Stekel widersprach damit der Annahme einer somatisch-»toxischen«
Schädigung infolge vermeintlich inadäquater Formen der Sexualbetätigung.
Als behandlungsbedürftig faßte er hingegen die in Folge von Schuldgefühlen
entstehenden psychischen Konflikte im Zusammenhang mit Masturbation auf (vgl.
Nunberg, Federn 1981, IV, S. 86ff.). Die zeitliche Nähe dieses wissenschaftlichen Dissens’ zur
machtpolitisch motivierten Auseinandersetzung um das »Zentralblatt« läßt
die Vermutung plausibel erscheinen, Freud habe die Trennung von Stekel
auch (wenngleich nicht nur) wegen der genannten wissenschaftlichen
Meinungsverschiedenheiten angestrebt. Für die Plausibilität dieser Überlegung
spricht die Tatsache, daß Freud die wissenschaftliche Auseinandersetzung
hinsichtlich der schädlichen Folgen der Masturbation in einem Brief an
Wittels vom 15.8.1924 noch einmal angesprochen hat, wobei er bemüht
war, eine Behauptung zu widerlegen, die Stekel so
gar nicht aufgestellt hatte: »Eines Tages, wenn ich nicht mehr bin –
mit mir geht auch meine Diskretion zu Grabe –, wird auch manifest
werden, daß die Stekelsche Behauptung von der Unschädlichkeit der
ungehemmten Masturbation auf Lüge beruht« (Freud 31980,
S. 370). Stekel hatte die Kategorie der »Aktualneurosen« und die damit zusammenhängende
»toxische« Erklärung der Schädigung durch Masturbation in Frage
gestellt, keineswegs aber psychische Konflikte als Ursachen oder Folgen
der Masturbation bestritten. Freuds hintergründiger Verweis im Brief an
Wittels (der sich – für Eingeweihte erkennbar – auf Potenzstörungen
im Zusammenhang mit Masturbation bezieht, die Stekel 1900 veranlaßt
hatten, um eine »Analyse« von einigen Stunden bei Freud nachzusuchen)
muß denn auch eher als Indiskretion denn als Richtigstellung in
Hinsicht auf eine wissenschaftliche Streitfrage verstanden werden. Ein anderes hartes Urteil Freuds über Stekel findet sich in einem Brief
an Jones. Darin heißt es, Stekel sei »in der Theorie und im Denken
schwach, aber er hat einen guten Spürsinn für die Bedeutung des
Verborgenen und Unbewußten« (zit. n. Jones 1962, II, S. 83).[v]
Bevor ich den möglichen Doppelsinn dieser Mitteilung erörtern will,
ist zunächst noch auf eine Fehlleistung des Briefempfängers
hinzuweisen. Gay (1989, S. 763, Anm. 89) hat das angeführte Zitat
anhand des Originals überprüft und festgestellt, daß Freud diesen
Brief nicht, wie von Jones angegeben, am 20. November 1909, sondern
bereits ein Jahr früher, am 20. November 1908, geschrieben hat. Dieses
Datum ist insofern von Bedeutung, als 1908 Stekels neues Buch (»Nervöse
Angstzustände und ihre Bedeutung«) erschienen ist, auf das sich Freuds
Äußerung im Brief an Jones bezieht. Noch wichtiger ist allerdings, daß Freuds Bemerkung über Stekels Spürsinn
nur wenige Tage nach einer Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft« – am
11. November 1908 – fällt, in der über Albert Molls neuestes Buch
– »Das Sexualleben des Kindes« (1909) – diskutiert wurde. In
dieser Sitzung preist Wittels Freud als »Entdecker des Sexuallebens des
Kindes« (Nunberg, Federn 1977, II, S. 42). Daraufhin bestätigte Freud,
»die normale Kindersexualität sei tatsächlich, so komisch das auch
klingen mag, von ihm – Freud – entdeckt worden. In der Literatur
finde sich vorher keine Spur davon«. Moll, so Freud weiter, publiziere
jetzt ein Buch über dieses Thema, ohne Freuds Entdeckungen gebührend
anzuerkennen. »Darum durchziehe der Gedanke, Freuds Einfluß zu
leugnen, das ganze Buch« (S. 44).[vi]
Die Frage schließt sich an, ob man diese Äußerung Freuds nicht noch
allgemeiner verstehen könnte. Dann würde sie bedeuten: A hat die
infantile Sexualität früher als B entdeckt; B schrieb später ein Buch
zu diesem Thema (Freud 1905 a), erwähnte darin aber A mit keinem Wort,
obgleich er dessen bahnbrechende Arbeit kannte. Bei der Beantwortung der
so formulierten Fragestellung hätte Stekel behilflich sein können –
wenn er an der fraglichen Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft«
teilgenommen hätte. Doch Stekel fehlte ausgerechnet an diesem
Mittwoch, dem 11.11.1908. Und das, obgleich er bei allen
vorausgegangenen Treffen des Sitzungsjahres 1908/09 anwesend war und
(bis über die Jahreswende hinaus) auch an allen weiteren Treffen
teilgenommen hat. Warum also fehlte Stekel ausgerechnet an dem Tag, an dem anhand des
Buches von Moll ein Thema diskutiert wurde, für das Stekel sich doch
schon seit langem in besonderem Maße interessiert hatte? Mit Verweis auf Fallmaterial, das er mit eigenen Erinnerungen verknüpfte
(Erinnerungen, die auch seiner späteren Analyse bei Freud zur Sprache
gekommen sein dürften), hatte Stekel 1895 über eine, wie er meinte, neuartige
Tatsache berichtet: über die »normale«, das heißt, über eine
spontan auftretende, also triebbedingte infantile Sexualität. Bis über
die Zeit der Abfassung der »Traumdeutung« hinaus hatte Freud »die
Kindheit« hingegen deshalb als eine »glückliche« Zeit gepriesen, »weil
sie die sexuelle Begierde noch nicht kennt« (1900, S. 136).[vii]
Dieser von Freud 1900 vertretenen Ansicht hatte Stekel bereits fünf
Jahre zuvor ausdrücklich widersprochen, als er die Tatsache einer nicht
durch »Verführung« initiierten Kindersexualität betonte. Man darf
also Stekel – »so komisch das auch klingen mag« – als den (oder
einen der) ersten männlich-»wissenschaftlichen« Entdecker[viii]
der infantilen Sexualität bezeichnen, während »un«wissenschaftliche,
doch ohne Scheuklappen wahrnehmende Mütter die fragliche Tatsache wohl
niemals völlig aus den Augen verloren hatten. Stekel referiert in seiner Arbeit »Ueber Coitus im Kindesalter« aus
dem Jahre 1895 einleitend zeitgenössische Autoritäten und deren
Ansichten über die vermeintlich nur pathologischen Gründe des –
durchaus bekannten – Phänomens der infantilen Masturbation. Im
Anschluß daran verweist er auf eigene Erlebnisse und klinische
Untersuchungen: »Eigene Erfahrungen, klare Erinnerung und Zufall haben
mich schon vor einigen Jahren zu Nachforschungen auf diesem für die
Hygiene des Kindesalters so wichtige Gebiet geführt. Fragt man eine größere
Anzahl intelligenter Personen über diesen Punkt aus, fordert man sie
auf, genau nachzudenken, so wird fast jeder Zweite sich an gewisse Vorgänge
in seiner Kindheit erinnern, die ihm früher unverständlich waren, die
sich aber bei genauer Betrachtung als die ersten Anfänge des
Geschlechtstriebes erweisen. Fälle von wirklichem Coitus sind seltener.
Meist kommt es zu einem mit für die Kinder überraschendem Wollustgefühle
verbundenen Betasten von Genitalien. Oft genügt der bloße Anblick
derselben, wie er sich zufällig beim Spiel ergibt [...]. Im Kindesalter
zeigt sich eben klar, wie viel von dem, was die Menschen mit Willen und
Ueberlegung zu thun glauben, auf Rechnung des Instinctes kommt. Das
Kindesalter ist die Brücke, die den Homo sapiens mit dem Thierreiche
verbindet« (1895, S. 247). Gegenüber dieser Feststellung Stekels aus dem Jahr 1895 erscheint die
Aussage Freuds aus dem Jahr 1900 über die »glückliche«, weil von
sexuellen (Er-)Regungen scheinbar freie Kindheit naiv. Was Freud 1900
noch übersah – das Auftreten spontaner sexueller Erregungen beim Kind
–, stand bei Stekel im Fokus der Aufmerksamkeit, während ihn jene »Fälle,
wo Kinder von älteren Personen mißbraucht werden«, deshalb weniger
interessierten, weil sie »allbekannt« waren und auch »nicht in den
Rahmen dieser Ausführungen« (1895, S. 247) gehörten. Stekel schilderte in seinem Aufsatz spontane infantile Sexualäußerungen
bis hin zum Koitus; und er wollte als Erklärung für diese Phänomene
weder Verführung noch eine besondere psychopathologische Belastung der
Kinder als notwendige
Vorbedingungen gelten lassen: »So wird auch der Coitus im Kindesalter
meistens von den Kindern – instinctiv – auf dem Wege des Geschlechtstriebes gefunden«
(Stekel 1895, S. 247; Herv. v. B. N.). Stekel verwendet hier weder eine
der üblichen zeitgenössisch moralisierenden Verurteilungen der
infantilen Sexualität noch beschwört er »toxische« Schädigungen im
Falle einer bis in die Jugendzeit fortgesetzten Masturbation. Vielmehr
begnügt er sich mit der Erklärung, die möglichen schädlichen Folgen
einer in der Kindheit begonnenen und unter Umständen bis in die
Jugendzeit oder ins Erwachsenenalter fortgesetzten Onanie gründeten in
der mangelhaften Fähigkeit des unreifen Organismus, die dabei
auftretenden Reiz- und Erregungsquantitäten zu bewältigen. Aus
diesem Grund gibt Stekel Ratschläge zur Vermeidung von Situationen, die
bei Kindern zu vorzeitigem Erwachen sexueller Wünsche führen können.
So sollten »Kinder über vier (!) Jahre« zum Beispiel nicht mehr »das
Schlafzimmer der Eltern teilen« müssen (1895, S. 249). Betrachten wir die Ausführungen Stekels vor dem Hintergrund der Äußerung
Freuds im Brief an Jones vom 20.11.1908, der kurze Zeit nach der Debatte
über Molls Buch und die infantile Sexualität geschrieben worden ist:
In diesem Brief hatte Freud über Stekel, den er inzwischen langjährig
kannte, geäußert, er sei »in der Theorie und im Denken schwach«,
jedoch habe er »einen guten Spürsinn für die Bedeutung des
Verborgenen und des Unbewußten«. Und tatsächlich hatte Stekel 1895 ja
auch etwas »Verborgenes«, nämlich die von Erwachsenen oft verleugnete
infantile Sexualität, aufgedeckt. Er hatte die spontanen sexuellen
Interessen der Kinder entdeckt und sie auf »Unbewußtes«, auf
Instinkte, auf Triebhaftes zurückgeführt. Bis zu diesen Beobachtungen
war Stekel gelangt. Dann aber hatte er nicht weitergedacht. Er hatte aus
seiner Entdeckung lediglich konventionelle pädagogische Ratschläge
abgeleitet, um Verführungssituationen einzuschränken, durch die das
infantile Interesse weiter angeregt werden könnte. Stekel hatte aus der (Wieder-)Entdeckung der spontanen infantilen
Sexualität also keine allzu weitreichenden theoretischen Konsequenzen
gezogen. Er war, wie Freud sich äußerte, findig; aber er war nicht in
der Lage, den Fund von 1895 gebührend zu nutzen. Er blieb »in der
Theorie und im Denken schwach«. Die Möglichkeiten, die
Freud befähigten, die Entdeckung der infantilen Sexualität als
einen der Grundbausteine der psychischen Entwicklung zu begreifen, womit
er von der Trauma- zur Konflikttheorie, beziehungsweise von der Theorie
»toxischer« Verursachung der Aktualneurosen zur Theorie der
Verursachung der Psychoneurosen durch Wunsch- und Angstphantasien
voranschritt, fehlten Stekel. Daß Freud solche Fortschritte auch nicht
leicht fielen, daß er Zeit brauchte, um die Konsequenzen der in Stekels
Artikel enthaltenen Beobachtungen voll zu erfassen, beweist der Umstand,
daß sich Freud im Vortrag am 21. April 1896 vor dem »Verein für
Psychiatrie und Neurologie« in Wien über das tatsächlich Neuartige an
Stekels Publikation, das weit über die bekannte Tatsache des sexuellen
Mißbrauchs von Kindern (und dessen vermeintliche oder tatsächliche
Folgen) hinausging, nicht klar war. Freud rühmte sich der Entdeckung
eines »caput Nili«[ix],
womit er die so genannte Verführungstheorie meinte, die er u. a. mit
Verweis auf die Arbeit Stekels »aus den letzten Wochen« (Freud 1896,
S. 444)[x]
zu rechtfertigen suchte, doch er befand sich gerade in Widerspruch zu
dem, was Stekel als neu anerkannt wissen wollte: zur These nämlich, daß
es eine spontan auftretende (also nicht
die durch Verführung initiierte) infantile Sexualität gibt. Die zentrale Hypothese Stekels, wonach die Sexualität bei Kindern auch
ohne explizite Verführung, lediglich aufgrund von Sexualneugier und
instinkthaft gesteuertem Verhalten erwachen konnte, wird von Freud 1896
also noch vollständig ignoriert. Die damals allgemein bekannte (und von
Stekel nicht bestrittene) Tatsache der Verführung von Kindern durch
Erwachsene – Freud hob in diesem Zusammenhang »Ammen und Kinderfrauen«
(1896, S. 443) besonders hervor – nahm Freud hingegen zum Anlaß,
einen, wie er meinte, gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen sexueller Verführung im
Kindesalter und Hysterie im Jugend- oder Erwachsenalter zu behaupten.
Diese Gesetzmäßigkeit (nicht
aber die Tatsache als solche – wie Freud später behauptete –, der
zufolge es sexuellen Mißbrauch von Kindern häufig gab) bestritten die
Hörer des Freudschen Vortrags entschieden (Nitzschke 1997). Stekel hat 1926 aus seiner Sicht »Zur Geschichte der analytischen
Bewegung« Stellung genommen. In der traditionellen psychoanalytischen
Geschichtsschreibung blieb dieses Dokument bislang weitgehend
unbeachtet, und das, obgleich es wichtige Informationen zur Frühgeschichte
der psychoanalytischen Institutionalisierung enthält. So berichtet
Stekel etwa, wie er mit Freud zusammentraf, nachdem er eine Rezension
der »Traumdeutung« gelesen hatte.[xi]
Stekel absolvierte »eine Psychoanalyse [...], die ungefähr acht
Sitzungen umfaßte« (1926, S. 540). Dabei ging es um die Ursachen und
Folgen der Masturbation, die in der Kindheit begonnen und im
Erwachsenenalter zu vermeintlichen oder tatsächlichen Potenzstörungen
geführt hatte. Mit Freud, der »mir eine Fixation an meine Mutter
nachweisen wollte«, war Stekel (1926, S. 540) ganz und gar nicht
einverstanden. Freuds (Hin-)Deutung auf die vom Kind verführerisch
erlebte Mutter ist dennoch sinnreich. Neben anderen Detailinformationen,
die das Stekel’sche Dokument enthält[xii],
wird darin auch noch einmal das bestätigt, was Freud (1914a, S. 63)
einige Jahre zuvor bemerkt hatte: Es war Stekel, der 1902 die Anregung
zur Gründung der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft« gab. Neben dem Hinweis auf die spontan auftretende infantile Sexualität
liegt ein weiteres Verdienst Stekels um die Freudsche Psychoanalyse also
in der Anregung zu deren organisatorischer Festigung. Und schließlich
war es Stekel, der lange vor Freud in der Wiener Gruppe vom »Todestrieb«
sprach[xiii],
den er als Gegenspieler des »Lebenstriebes« begriff (vgl. Nunberg,
Federn 1976, I, S. 166). Stekel beschrieb diese beiden Triebe als
Einheit der Gegensätze und fügte hinzu, »Angst« sei als Äquivalent
des »Vordringens des Todestriebes [...] durch Unterdrückung des
Geschlechtstriebes« zu verstehen (Nunberg, Federn 1977, II, S. 358).
Das klingt aus heutiger Sicht wie eine Melodie aus weiter Ferne – zu
der Freud (nach 1920) die Noten niederschrieb.[xiv] Abschließend sei noch kurz auf zwei von Stekel angefertigte »Protokolle«
früher Sitzungen der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft«
eingegangen, die – trotz ihres feuilletonistischen Charakters – als
(soweit bisher bekannt) früheste Dokumente zur psychoanalytischen
Bewegung von historischer Bedeutung sind. Die erste Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft« fand im Herbst 1902
statt. Das »Protokoll« hierüber ist am 28.1.1903 unter dem Titel »Gespräch
über das Rauchen« im Prager Tagblatt (Morgen-Ausgabe) erschienen.
Stekel hat es später noch einmal publiziert.[xv]
Er stellt in diesem Text die Teilnehmer der »Mittwoch-Gesellschaft«
unter Pseudonymen vor. Später hat er sie folgendermaßen entschlüsselt:
»Der Meister ist Freud, der Sozialist Adler, der Bequeme Kahane, der
Schweigsame Reitler und der Unruhige [bin] ich« (Stekel 1926, S. 545).
Diese fünf Männer fanden sich in der Keimzelle aller späteren
psychoanalytischen Vereine zusammen: in der »Psychologischen
Mittwoch-Gesellschaft«, die 1908 in »Psychoanalytische Gesellschaft«
und 1910 in »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« umbenannt wurde.
Drei der Gründungsmitglieder – Alfred Adler, Wilhelm Stekel selbst
und (nach Stekels Aussage – 1926, S. 570) Max Kahane – gerieten später
in Gegnerschaft zu Freud. Ein vierter, Rudolf Reitler nahm nur bis zum
Oktober 1914 an den Sitzungen der Gruppe teil. Danach blieb als einziges
und letztes Gründungsmitglied Sigmund Freud übrig. Stekels zweites Sitzungsprotokoll, ein Feuilletonartikel mit dem Titel
»Gespräch über das Rauchen«, wird von einer kurzen Passage
eingeleitet, in der die Präliminarien der Sitzungen bei Freud
beschrieben sind: Zigarren für die Gäste und (damals) eine Pfeife für
den »Meister«. Diese einleitende Passage (1926, S. 542 f.) findet
sich, ergänzt durch weitere Bemerkungen, in einem Beitrag Stekels, der
am 4.3.1914 im Prager Tagblatt erschienen ist.[xvi]
Darin wird die Atmosphäre in der Gruppe um Freud aus der Sicht Stekels
charakterisiert, eine Atmosphäre, die buchstäblich aus Rauch bestand.
Stekels Feststellung der Abhängigkeit Freuds – »Das Rauchen muß ein
Komplex des Meisters gewesen sein« (1926, S. 542) – entspricht
sinngemäß dem Urteil, das später Max Schur über Freuds »Nikotinsucht«
(1973, S. 64) fällte. Inwieweit Stekels Mitteilungen auch im Hinblick auf andere Fakten als
verläßlich einzuschätzen sind, kann anhand eines weiteren Vergleichs
untersucht werden. Laut Stekel äußerte der »Meister« im Gespräch,
er habe einmal »zwei Jahre nicht rauchen dürfen« (1926, S. 454). In
einem Brief an Rubens vom 12.2.1929 bestätigt Freud, er habe das
Rauchen einmal »durch 1½ Jahre aufgegeben wegen Herzstörungen« (zit.
n. Schur 1973, S. 82f.). Aufgrund der Annahme, Freuds Herzbeschwerden
seien durch das Rauchen zu erklären, hatte Fließ schon früher
(1893-94) versucht, Freud zum Aufgeben des Rauchens zu bewegen. Trotz
allen Bemühens gelang es Freud aber nicht dauerhaft, auf den Genuß,
etwas »Warmes [...] zwischen den Lippen« zu haben, zu verzichten, wie
er sich in einem Brief an Fließ ausdrückte, als er die ihm auferlegte
»Abstinenz« vorübergehend einzuhalten vermochte (Freud 1986, S. 61).[xvii] Das zweite Protokoll Stekels beschreibt die »vierte oder fünfte«
Sitzung der Gruppe (vgl. Stekel 1926, S. 545). Es trägt den Titel »Der
>kleine Kohn<«.[xviii]
Entweder nahm der »Schweigsame« (= Reitler) an dieser Sitzung nicht
teil oder er hat sich, seinem Pseudonym angemessen, damals nicht zu Wort
gemeldet – das entsprechende »Protokoll« der Sitzung weist
jedenfalls keinen »Schweigsamen« aus. Neu hinzugekommen sind jetzt der
»Schriftsteller« – wahrscheinlich der von Stekel (1926, S. 545) als
Musikschriftsteller bezeichnete Max Graf, der von 1903 bis 1909
Professor für Musikästhetik am Konservatorium der Gesellschaft der
Musikfreunde in Wien war – und der »Gemäßigte«, hinter dem sich
vielleicht doch der schweigsame Reitler oder aber der Musikkritiker
David Josef Bach verstecken könnte, der nach Stekels Angaben (1926, S.
545) kurze Zeit nach Max Graf der Gruppe um Freud beitrat. Das Protokoll der Sitzung, das in Stekels Buch über »Nervöse Leute«
(1911b) publiziert worden ist, enthält einige interessante Gedanken zu
Fragen des Reims und der Lust am Unsinn (vgl. Freud 1905 b, S. 136ff.)
sowie Ausführungen zum Problem musikalischen Erlebens. In diesem
Zusammenhang macht der »Meister« eine Bemerkung, in der er indirekt über
seine eigene Beschäftigung mit Musik spricht: »Es scheint mir unmöglich,
aus der Musik heraus intellektuelle Vorgänge zu deuten. Die Musik ist
die dunkelste und geheimnisvollste aller Künste. Wir müssen den
umgekehrten Weg gehen und die Macht der Musik aus dem Intellekt heraus
zu erklären suchen« (Stekel 1911 b, S. 137). Diese Worte, die Stekel
dem »Meister« in den Mund legt, lassen sich durch manche spätere Äußerung
Freuds über sein Verhältnis zur Kunst und speziell zur Musik bestätigen.
So heißt es an einer Stelle: »[...] Kunstwerke üben eine starke
Wirkung auf mich aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik,
seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden
Gelegenheiten lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine
Weise erfassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich
das nicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig« (Freud
1914 b, S. 172). Anders als Freud war Stekel ausgesprochen musikalisch. Er war
Musikliebhaber und -kenner. In seinem Haus führte etwa Herbert Silberer
selbstkomponierte Stücke auf (Stekel 1924, S. 412). Stekels Sohn Erich Stekel selbst beschrieb den Unterschied zwischen sich und Freud so: »Freud
ist der metapsychologische Philosoph, ich bin der nüchterne Beobachter,
der aus klinisch beobachteten Fällen seine zwingende Schlüsse zieht«
(1926, S. 564). Freud sah in den »zwingenden Schlüssen« Stekels
allerdings oftmals nur unwissenschaftliche Spekulationen. Diese Einschätzung
wurde von Freuds Anhängern weitgehend übernommen und wird bis heute
tradiert. So taucht in der Freud-Biographik und in der
psychoanalytischen Geschichtsschreibung noch immer der so genannte »Mittwochpatient«
auf, für den Jones die Vorlage geliefert hat: »Stekel hatte [...]
einen ernsthaften Charakterfehler, der ihn für akademische Arbeiten
ungeeignet machte: er hatte überhaupt kein wissenschaftliches
Gewissen. Darum schenkte auch niemand seinen Worten viel Vertrauen. So
war es zum Beispiel eine Gewohnheit von ihm, jede Diskussion, gleich,
welches Thema an der Tagesordnung gewesen war, mit der Bemerkung
einzuleiten: >Erst heute vormittag sah ich einen solchen Fall<, so
daß Stekels >Mittwochpatient< sprichwörtlich wurde« (Jones
1962, II, S. 167). »Sprichwörtlich« blieb dieser Stekel zugeschriebene Patient im Sinne
einer Tradierung des Immergleichen (zum Beispiel bei Gay 1989, S. 244).
Die Schatten, die so auf Stekels wissenschaftliche Leistungen fielen,
verdunkelten sein Andenken und ließen seine Leistungen weitgehend in
Vergessenheit geraten. Vielleicht hätte man den Platz, den man in der
psychoanalytischen Literatur Stekels »Mittwochpatient« einräumte,
aber auch sinnvoller verwenden können – zum Beispiel dadurch, daß
man den Hinweisen auf Stekels Pionierleistung nachgegangen wäre, die
zur Entdeckung der triebbedingten infantilen Sexualität beigetragen
haben? Literaturverzeichnis
Berichte
über die Sitzungen der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien vom
15.Oktober und 26. November 1886. Luzifer-Amor, 1 (Heft 1), 1988,
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(1914 a): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X, 137-170. Freud, S.
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(1962): Sigmund Freud - Leben und Werk, I-II. Bern (Huber). Moll, A.
(1909): Das Sexualleben des Kindes. Berlin (Walther). Nitzschke,
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B. (1997): Die Debatte des sexuellen
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(1896) – und der Mißbrauch dieser Debatte hundert Jahre später. In:
H. Richter-Appelt (Hg.): Verführung – Trauma – Mißbrauch
(1896-1996). Giessen (Psychosozial), 25-38. Nitzschke,
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F. J. (1982): Freud – Biologie der Seele. Jenseits der
psychoanalytischen Legende. Köln (Hohenheim). [i]
Daß bei der Trennung zwischen Freud und Stekel auch sehr persönliche
Umstände eine Rolle gespielt haben, ist durch die Veröffentlichung
der zwischen Stekel und Freuds Bruder Alexander gewechselten Briefe
bekannt geworden (vgl. Nitzschke 2007). [ii]
Das »Zentralblatt« (erschien unter Einschluß des »Korrespondenzblattes«
= Vereinsnachrichten). Es war damit das offizielle Organ der IPV.
Nach der Trennung Freuds von Bergmann / Stekel übernahm die neu
gegründete »Internationale Zeitschrift für ärztliche
Psychoanalyse« diese Aufgabe. Das unter Stekels Leitung fortgeführte
»Zentralblatt« stellte im Ersten Weltkrieg das Erscheinen ein. [iii]
Wenige Jahre nachdem er Tausk als Referent für das »Zentralblatt«
hatte durchsetzen wollen, äußerte sich Freud in einem Brief vom 1.
8. 1919 an Lou Andreas-Salomé über Tausk, der sich soeben das
Leben genommen hatte: »Ich gestehe, daß er mir nicht eigentlich
fehlt; ich hielt ihn seit langem für unbrauchbar, ja für eine
Zukunftsbedrohung. Ich hatte Gelegenheit, einige Blicke in den
Unterbau zu tun, auf dem seine stolzen Sublimierungen ruhten; und
ich hätte ihn längst fallen gelassen, wenn Sie ihn nicht in meinem
Urteil so gehoben hätten [...]. Seine bedeutende Begabung habe ich
nie verkannt; es war ihr aber versagt, sich in entsprechend
wertvolle Leistung umzusetzen« (Freud, Andreas-Salomé 21980,
S. 109). [iv]
Nach Freuds Version (vgl. Nunberg, Federn 1981, IV, S. 108f., Anm.
2) soll es Stekel selbst gewesen sein, der seinen Intimfeind Tausk
als Mitarbeiter des »Zentralblatts« vorgeschlagen habe, um hernach
die von Tausk eingereichten Beiträge ablehnen zu können. Diese
Darstellung widerspricht nicht nur vollständig der von Stekel überlieferten
Version, sondern im Kern auch dem von Jones (1962, Il, S. 168)
mitgeteilten Sachverhalt. Objektiv nachprüfbare Angaben bestätigen
die Version von Stekel und Jones und widerlegen damit die Angaben
Freuds: Das Protokoll der »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung«
(WPV) vom 9.10.1912 weist aus, daß Freud den Antrag stelle, Tausk
in ein Referierkomitee zu berufen, dessen Aufgabe es gewesen wäre,
die Beiträge des »Jahrbuchs« im »Zentralblatt zusammenzufassen.
Dagegen wehrte sich Stekel, der noch am 9.10.1912 anläßlich des
neuen Vereinsjahres 1912/1913 auf Antrag von Sachs in den Vorstand
der WPV kooptiert worden war. Kurz darauf überstürzten sich die
Ereignisse, und bereits am 6.11.1912 vermerkt das Protokoll den
Austritt Stekels aus der WPV. Freuds Entscheidungen im Zusammenhang
mit der Trennung vom »Zentralblatt« (bzw. von Stekel) erfolgten so
rasch, daß sich selbst der Präsident der IPV – damals noch Jung
– übergangen fühlte. Nach Rückkehr von einer Vortragsreise
durch die USA protestierte er deshalb bei Freud gegen dessen eigen-mächtige
Entscheidung und berief wegen der Querelen um das »Zentralblatt«
eine Obmänner-Konferenz nach München ein (vgl. Freud, Jung 1974,
S. 573 ff.). Es war also nicht Freud (wie Jones fälschlich angibt),
sondern Jung, der das Münchner Treffen aus den genannten Gründen
gefordert und auch durchgesetzt hatte. Bei diesem Treffen kam es
dann zu einer der beiden Begegnungen zwischen Jung und Freud, die
von einem Ohn-Machts-Anfall Freuds begleitet waren. So erhielt Jung
(kurz bevor er selbst aus der psychoanalytischen Bewegung
ausscheiden mußte) noch einmal die Gelegenheit, den ohnmächtigen
Freud auf die Couch zu legen: »Plötzlich stürzte er (Freud – B.
N.) zum Schrecken seiner Freunde ohnmächtig zu Boden. Der kräftige
Jung trug ihn schnell zu einer Couch in der Halle [...]« Jones
1962, I, S. 370). [v]
Bereits in dieser Formulierung taucht implizit das Bild des Trüffel
(also Kostbarkeiten) »riechenden« Stekel auf, das Freud später,
im Briefwechsel mit Jung, weiter explizierte, um schließlich
expressis verbis von Stekel als von einem »Schwein« zu sprechen.
»In der Vergangenheit wurden häufig auch Schweine zur Trüffelsuche
eingesetzt. Der Duft des Pilzes ähnelt Androstenon, dem
Sexualduftstoff des Ebers, sehr stark, weshalb weibliche,
geschlechtsreife Schweine instinktiv danach suchen. Selbst das Wort
>Trüffelschwein< geht auf die Suche nach dem delikaten Pilz
zurück.« (zit. n. http://trueffel-rezepte.de/truffelsuche-mit-fliege-schwein-hund/#3). [vi]
In dieser Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft« äußerten Anhänger
Freuds auch die Überzeugung, erst durch ihn sei die Hysterie beim
Manne ernst genommen worden, während vor Freud nur die Hysterie bei
Frauen bekannt gewesen sei – eine Behauptung, die aufgrund der
Berichte von 1886 über Freuds Vortrag zur männlichen Hysterie zurückgewiesen
werden kann (vgl. Berichte ... 1988). [vii]
Diese Stelle wurde von Freud in der 3. Auflage der »Traumdeutung«
aufgrund einer Intervention C. G. Jungs (vgl. Freud, Jung 1974, S.
433) ergänzt. Jetzt hieß es in einer Fußnote: »Eingehendere
Beschäftigung mit dem Seelenleben der Kinder belehrte uns freilich,
daß sexuelle Triebkräfte in infantiler Gestaltung in der
psychischen Tätigkeit des Kindes eine genügend große, nur zu
lange übersehene Rolle spielen, und läßt uns an dem Glücke der
Kindheit, wie die Erwachsenen es späterhin konstruieren, einigermaßen
zweifeln« (Freud 1900, S. 136, Anm. 1). Verwiesen wird an dieser
Stelle auf die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud
1905a), die die neueren psychoanalytischen Auffassungen zur
infantilen Sexualität enthielten – ein Buch, auf das auch in der
oben erwähnten Diskussion der »Mittwoch-Gesellschaft« um Moll
Bezug genommen wurde. [viii]
Sulloway (1982, S. 388) belegt, daß die Entdeckung der infantilen
Sexualität vor Freud nicht nur Stekel, sondern auch noch einer
Reihe anderer Autoren zugeschrieben werden kann. [ix]
Zu dieser kühnen Äußerung fühlte sich Freud veranlaßt, weil er
glaubte, den Beweis angetreten zu haben, daß »zugrunde jedes
Falles von Hysterie« (1896, S. 439) das Erlebnis einer realen Verführung
des Kindes anzunehmen sei, wobei die infrage kommenden Verführungsmöglichkeiten
von Freud (S. 444f.) auch noch genauer spezifiziert wurden. Dabei
bestand das tatsächliche »wissenschaftliche Märchen« (so
Krafft-Ebing hinsichtlich der Thesen Freuds) darin, daß Freud auch
noch eine Gesetzmäßigkeit in umgekehrter Richtung postulierte,
also von der Hysterie eines Erwachsenen auf dessen Verführung im
Kindes- oder Jugendalter als Ursache der Erkrankung rückschloß. [x]
Die Zeitangabe im Vortrag Freuds vom 2. Mai 1895 bezieht sich auf
die am 18. April 1895 erschienene Arbeit Stekels. Die schriftliche
Fassung von Freuds Vortrag erschien erst 1896. In Freuds »Gesammelten
Werken« wird Stekels Arbeit »Über Coitus im Kindesalter« (1895)
zwar zitiert, jedoch fehlerhaft auf das Jahr 1896 datiert, was
bereits Jones (1962, II, S. 20) bemerkt hat. [xi]
Diese Rezension Burckhardts war in »Die Zeit« (Wien) am 6. und –
in Fortsetzung – am 13. Januar 1900 erschienen. [xii]
So wird zum Beispiel der Hinweis gegeben, daß Freud wenigstens
einmal – nämlich bei Stekel selbst – auch als Supervisor einer
Behandlung auftrat (1926, S. 541). [xiii]
Über den »Todestrieb« sprach Stekel in den Sitzungen am
24.4.1907, am 19.10.1910 und am 29.11.1911. Sabina Spielrein weist
in ihrer Arbeit über »Die Destruktion als Ursache des Werdens«
(1912) auf Stekels Auffassung des Todeswunsches als eines
Gegensatzes des Eros hin. [xiv]
Nach seiner Ausgrenzung kam Stekel noch verschiedentlich in Kontakt
zur Psychoanalyse, wenn auch bisweilen nur auf indirekte Weise. So
behandelte er zum Beispiel Otto Gross, einen früheren Schüler und
Patienten Jungs (und Freuds), dessen Krankengeschichte Hurwitz
(1979) publiziert hat. Einen verschlüsselten Bericht über die
Behandlung von Gross durch Stekel (1925) konnte Dvorak (1985)
auffinden und dechiffrieren. Schließlich gab Stekel gemeinsam mit
Tannenbaum und Silberer zwischen 1920 und 1922 die englischsprachige
Zeitschrift »Psyche and Eros«, heraus (vgl. Nitzschke 1988, S.
57f.). Der Titel dieser Zeitschrift ähnelte einem Titel, den Stekel,
laut Jones (1962, II, S. 114), bereits früher einmal vorgeschlagen
hatte, und zwar für jenes Periodikum, das Freud dann aber »Imago«
nannte, und das bei der Trennung Freuds von Stekel eine Rolle
spielte, weil sich Bergmann, der Verleger des »Zentralblatts«,
wegen dieser Neugründung über Freud geärgert und deshalb auf die
Seite Stekels gestellt hatte. [xv]
Inzwischen ist »Das Gespräch über das Rauchen« wiederholt
publiziert worden (zum Beispiel von Handlbauer 1989, 1990). Ich
selbst hatte mich vor Jahren auf die Suche nach weiteren »Protokollen«
Stekels begeben, dabei einem Hinweis von Jones (1962, II, S. 21)
folgend, wonach Stekel »regelmäßig« Berichte über die
Diskussionen der »Mittwoch-Gesellschaft« publiziert haben soll.
Trotz intensiver Recherchen – und zwar nicht nur in dem von Jones
genannten »Neuen Wiener Tagblatt« – gelang es nicht, weitere »Protokolle«
Stekels aufzufinden und dadurch die Behauptung von Jones zu
verifizieren. Bei Marianne Mayer (Wien), die für mich diese
Recherchen in Wiener Bibliotheken durchführte, möchte ich mich an
dieser Stelle bedanken. Elisabeth Honsel (Münster) hat sich
ebenfalls auf die Suche nach den von Jones behaupteten »Berichten«
Stekels gemacht. Auch sie konnte nichts finden – bis auf eine
Ausnahme: Sie fand das »Protokoll« mit dem Titel »Der >kleine
Kohn<« (abgedruckt mit einer Einleitung von B. Nitzschke [1992]
in Federn, Wittenberger 1992, S. 220-227). Der kleine Kohn war eine
antisemitische Spottfigur, auf die sich das Lied Hab’n Sie
nicht den kleinen Cohn gesehn’n! bezieht,
das im Frühjahr/Sommer 1902 zum Schlager der Saison wurde (Schnider
2005, S. 110ff.). Elisabeth Honsel überließ mir eine Kopie dieses
»Protokolls« und auch noch anderes Material zu Stekel, das im
vorliegenden Beitrag Verwendung gefunden hat, wofür ich ihr auch an
dieser Stelle noch einmal danken möchte. [xvi]
Den Hinweis auf diese Stelle (einschließlich Kopie) verdanke ich
Gerhard Wittenberger (Kassel). [xvii]
Da Freud (1986, S. 313) die Nikotinsucht als Abkömmling der »>Ursucht,«,
nämlich der Masturbation, begriff, ließe sich sagen, das Thema,
das Stekel und Freud immer wieder verhandelten – die Frage nach
den Ursachen und möglichen Folgen der Onanie –, habe in
verdeckter, symbolischer Form schon die erste Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft«
beherrscht. Zwischen dem 22.11.1911 und dem 24.4.1912 wurde das
Thema Masturbation dann in der WPV in einer Serie von Sitzungen
behandelt. Kurz nach dem Ende dieser so genannten »Onanie-Debatte«
schied Stekel aus dem Kreis um Freud aus. [xviii]
Anklänge an Inhalte der von Stekel wiedergegebenen Sitzung finden
sich auch bei Freud (1905 b, S. 136). Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der
erstmals unter dem Titel Wilhelm
Stekel, ein Pionier der Psychoanalyse – Anmerkungen zu ausgewählten
Aspekten seines Werkes in dem von Ernst Federn und Gerhard
Wittenberger herausgegebenen Buch Aus
dem Kreis um Sigmund Freud. Zu den Protokollen der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung (Frankfurt/M., Fischer Verlag
1992, S. 176-191) erschienen ist. |