Bernd Nitzschke

 

»Ich bin sehr erfreut, mich zu überzeugen, daß meine Paladine

[…] immer fundamentale Dinge anpacken«

Ein Buchessay zum Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Karl Abraham

 

»Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« Auf die mit diesem Titel eines neueren populärphilosophischen Beststellers gestellte Frage nach der Einheit der Person hat es im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte zahlreiche Antworten gegeben. Im Hinblick auf Karl Abrahams Persönlichkeit sind ebenfalls mehrere Antworten möglich. Schließlich sind – aus der Nähe der Zeitgenossen gesehen – immer nur die Bruchstücke einer Person zu erkennen, die zusammengesetzt und aus der historischen Distanz betrachtet ein Mosaik ergeben und damit ein neu konturiertes Bild ermöglichen, wobei entscheidend ist, welche Bruchstücke aufbewahrt wurden und nach welchen Gesichtspunkten sie dann zusammengesetzt werden. Im Falle Karl Abrahams sind wir – anders als im Falle Freuds, dessen Bild in den letzten Jahrzehnten durch eine Vielzahl neu erschlossener Quellen immer vollständiger geworden ist – bislang auf vergleichsweise wenig Material angewiesen. Dank der von Ernst Falzeder und Ludger M. Hermann erstmals vollständig und sehr sorgfältig editierten Ausgabe seines Briefwechsels mit Sigmund Freud haben wir nun aber eine Vielzahl neuer Bruchstücken vor Augen.

 

In der 1965 erschienenen Ausgabe der Briefe, die Abrahams Tochter Hilda und Freuds Sohn Ernst besorgten, fehlte noch über die Hälfte der Brieftexte, wobei der Leser pauschal darauf hingewiesen worden war, dass zahlreiche Briefe vollständig ausgespart blieben. Um welche Briefe es sich dabei im Einzelnen handelte, erfuhr er nicht. Und über die Auslassungen in den abgedruckten Briefen wurde er auch nur unzureichend informiert: Ein dem Briefdatum hinzugefügter Stern bezeichnete die entsprechenden Briefe, die Stellen, an denen die Kürzungen vorgenommen worden waren, blieben jedoch unmarkiert. Als Grund für die »Auslassungen und Kürzungen« gaben die Herausgeber an, sie dienten »einerseits der Vermeidung von Wiederholungen und für den Gedankenaustausch oder die Charakterisierung der beiden Briefschreiber Unwesentlichem, andererseits der Wahrung der ärztlichen Diskretion«. Wie irreführend diese Behauptung war, lässt sich erst jetzt durch den Vergleich der alten mit der neuen (vollständigen) Briefausgabe erkennen. Offenbar sollten dem Leser damals Bilder vor Augen geführt werden, die dem weihevollen Gedenken nicht zu sehr im Wege standen.

Passagen aus den Briefen, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs gewechselt wurden, verdeutlichen das: Nachdem Österreich-Ungarn am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg erklärt hatte, waren überall patriotische Gefühle angesagt. Sie stellten sich bei Abraham in Berlin wie bei Freud in Wien ein. »Ich fühle mich aber vielleicht zum ersten Mal seit 30 Jahren als Österreicher und möchte es noch einmal mit diesem wenig hoffnungsvollen Reich versuchen«, ließ Freud wissen. Zum ersten Mal seit 30 Jahren? Was war vor 30 Jahren geschehen? Damals war der Leseverein deutscher Studenten Wiens, dessen Mitglieder für den Anschluss Deutsch-Österreichs an das Deutsche Kaiserreich eintraten, wegen Staatsgefährdung der Donaumonarchie gerade verboten worden. Freud hatte diesem Verein bis zum Verbot im Jahr 1878 angehört. Später wunderte er sich – wie er in der Traumdeutung schreibt – über diese »heute überwundene deutschnationale Periode der Jugendzeit«. Doch jetzt, im Sommer 1914, kommt es zur Wiederkehr des Verdrängten. Im zitierten Brief lesen wir weiter: »Die Stimmung ist überall eine ausgezeichnete. Das Befreiende der mutigen Tat [gemeint ist das Ultimatum an Serbien; B.N.], der sichere Rückhalt an Deutschland tut auch viel dazu.« Und Abraham kann aus Berlin ebenfalls »glänzende Nachrichten« vermelden: »Die deutschen Truppen stehen kaum 100 Kilometer vor Paris. Belgien ist erledigt […].« Das heißt: Die deutschen Truppen haben das neutrale Belgien überfallen und das Land besetzt. Zuvor hatte der deutsche Kaiser seinen Untertanen erklärt: »Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.«

 

Abraham und Freud waren im Sinne des Kaisers gewiss keine Vaterlandsverräter. Das zeigen die angeführten Briefstellen, die in beiden Briefausgaben enthalten sind; und das wird durch die folgenden Bekundungen, die nur in der neuen vollständigen Ausgabe enthalten sind, noch unterstrichen. So berichtet Abraham am 9. September 1914: »Die Stimmung ist hier ganz zuversichtlich. […] Wir harren jetzt auf große Ereignisse im Osten […]. Das Zusammenarbeiten von Deutschen und Österreichern wird gewiß auch hier zum Ziele führen. Dann bleibt England noch zu erledigen; doch wir hoffen auf Krupp und Zeppelin.« Und Freud hoffte auf eine Lektion, die den Briten endlich Bescheidenheit beibringen würde. Er habe einen Brief aus England erhalten, in dem sich Ernest Jones »über den Krieg« so geäußert habe »wie ein richtiger Angle«, schreibt er an Abraham. Das heißt: Jones war siegesgewiss, doch er erwartete – aus Freuds Sicht – den Sieg auf der falschen Seite. Daher fordert Freud im Brief an Abraham jetzt: »Noch ein paar Überdreadnoughts [gemeint sind die englischen Schlachtschiffe; B.N.] versenken oder einige Landungen durchsetzen, sonst gehen denen die Augen nicht auf. Es ist ein unglaublicher Hochmut auf der Insel zu Hause.« Dort leben aber auch noch Verwandte Freuds – die Nachkommen seiner Halbbrüder Emanuel (gest. Oktober 1914) und Philipp (gest. August 1911). Und deshalb ist die Situation nicht ganz so einfach, wie Freud in einem früheren Brief bemerkt (der in der Ausgabe von 1965 enthalten ist). Zwar sei »der große Krieg wohl als gesichert anzusehen«, schreibt er dort; doch dann schränkt er wieder ein: »[I]ch wäre von Herzen dabei, wenn ich nicht England auf der unrechten Seite wüßte.«

 

Die angeführten Zitate könnten den Eindruck erwecken, als hätten sich Freud und Abraham zwischen 1914 und 1918 hauptsächlich über Kriegsereignisse ausgetauscht. Das ist nicht der Fall, obwohl die drei Söhne Freuds an der Front sind und Abraham ab März 1915 als Militärarzt in Allenstein eingesetzt ist. Er arbeitet dort als Chirurg, ist nebenbei aber auch als Psychiater und Psychoanalytiker tätig. Der Hauptteil der Korrespondenz bleibt aber auch jetzt, »in diesen Zeiten der entfesselten Bestialität« (Freud am 22. September 1914 an Abraham) der »Sache« gewidmet, das heißt der Theorie und Praxis der Psychoanalyse und der Organisation des Vereinslebens der Psychoanalytiker. Beim 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress, der im September 1918 in Budapest stattfindet, lässt sich die »Sache« dann sogar mit dem Krieg verbinden: Die auf dem Kongress anwesenden Militärs der Mittelmächte erwarten psychoanalytischen Beistand bei der Behandlung der Kriegsneurosen. Und so kommt das Kriegsende für die »Sache« dann wieder etwas zu früh. »Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt. Kaum daß sie von den Kriegsneurosen aus die Welt zu interessieren beginnt, nimmt der Krieg ein Ende«, schreibt Freud am 17. November 1918 an Ferenczi.

 

Es gibt aber nicht nur Verlierer, es gibt auch Sieger. In Ungarn kommt Béla Kun an die Macht – und unter dessen Räteregierung erhält Ferenczi die (weltweit erste) Professur für Psychoanalyse. Doch auch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer. Kaum sind die Bürgerlichen an der Regierung, wird Ferenczi »als Strafe für seine bolschewistische Professur« – wie Freud im Juni 1920 an Abraham schreibt – (vorübergehend) aus der ungarischen Ärzteschaft ausgeschlossen. Ferenczi ist damals aber nicht nur vom Pfad der politischen, er ist – gemeinsam mit Otto Rank – auch vom Pfad der psychoanalytischen Tugenden abgewichen. Jedenfalls war Abraham dieser Meinung, der eifersüchtig über die »reine« Theorie und Technik der Psychoanalyse wachte. In einem Warnbrief, den er jetzt an Freud schreibt, heißt es dazu: »Ich sehe Anzeichen einer unheilvollen Entwicklung, bei der es sich um Lebensfragen der Psychoanalyse handelt. Sie nötigen mir zu meinem tiefsten Schmerz – nicht zum ersten Mal in 20 Jahren meiner psychoanalytischen Laufbahn – die Rolle des Warnenden auf.« Was war geschehen?

 

Abraham-Kassandra hatte »nach sehr sorgfältigem Studium […] sowohl in den ›Entwicklungszielen‹ [der Psychoanalyse. Ferenczi/Rank 1924] wie im ›Trauma der Geburt‹ [Rank 1924] die Äußerungen einer wissenschaftlichen Regression [erkannt], die sich bis in kleine Einzelheiten mit der Jungschen Abkehr von der Psychoanalyse […] deckt.« Das waren starke Worte – doch Freud reagierte gelassen. Der Lehrer hat es eben leichter als der Schüler, der sich die Lehrsätze mühsam aneignet und bei jeder Revision befürchtet, diese Mühen könnten vergebens gewesen sein. Jones charakterisiert Abrahams »Haltung« gegenüber Freud tatsächlich als »die eines sehr fortgeschrittenen Schülers«. Und dann setzt er in der von ihm verfasste Freud-Biografie, seine Aussage präzisierend, noch hinzu: »Abraham sagte mir einmal, daß er für jede neue Theorie, die Freud aufstellte, einige Zeit brauche, um sie zu verdauen, und daß er erst zufrieden sei, wenn er sie in Beziehung zum zentralen Ödipuskomplex setzen könne.«

 

Ja, ja – der Ödipuskomplex! Er galt damals – und auch noch Jahrzehnte später – als der Dreh- und Angelpunkt der neurotischen (und normalen) Entwicklung. »Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist […]. In ihm gipfelt die infantile Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität des Erwachsenen entscheidend beeinflußt. […] Der Fortschritt der psychoanalytischen Arbeit hat diese Bedeutung des Ödipuskomplexes immer schärfer gezeichnet; seine Anerkennung ist das Schiboleth geworden, welches die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet.« So steht es im Abriß der Psychoanalyse, der als Freuds wissenschaftliches Testament gelten kann – und so hat es Abraham immer gelten lassen. Schon im ersten Brief, den er von Freud erhält, bedankt sich der für eine ihm von Abraham zugeschickte Arbeit mit den Worten: »Es ist mir besonders sympathisch, daß Sie die sexuelle Seite des Problems angegriffen haben, die, an welche die wenigsten heran wollen.«

 

Sechs Jahre später erreicht der Streit zwischen Freud und Jung, der wesentlich am Geltungsbereich der Freudschen Libidotheorie abgehandelt wurde, einen ersten Höhepunkt. Jetzt braucht Freud Verbündete – und da kann er mit Abrahams unbedingter Loyalität rechnen. »Ich […] freue mich, Sie offiziell als das betrachten zu können, was Sie immer waren, einen meiner besten Helfer«, lobt er ihn im November 1913. Doch jetzt, 1924, bremst der Lehrer den Eifer seines Schülers, der sich gerade wieder einmal über andere Schüler bei ihm beklagt hat: »Nehmen wir den extremsten Fall: Ferenczi und Rank kämen direkt mit der Behauptung heraus, daß wir unrecht gehabt haben, beim Ödipuskomplex halt zu machen. […] Weiter: auf Grund dieser Theorie würde eine Anzahl von Psychoanalytikern die gewissen Modifikationen der Technik vornehmen. Was würde da weiter für Unheil geschehen? Man könnte mit größter Gemütsruhe unter demselben Dach zusammen bleiben und nach einigen Jahren Arbeit würde es sich herausstellen, ob die einen einen wertvollen Fund übertrieben oder die anderen ihn unterschätzt haben.«

 

Abraham wollte Primus inter pares sein – doch er wurde in dieser Rolle erst anerkannt, nachdem Freud seinen Kronprinzen enterbt hatte. 1909 hatte Freud Jung noch prophezeit, »Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne schauen darf, in Besitz nehmen«. Ausgerechnet dieses Land! Hatte nicht Abraham Anspruch auf dieses Land? Hatte er nicht seine erste psychoanalytische Arbeit der Psychose (Dementia praecox) gewidmet? Früher als Jung hatte Abraham Freud persönlich kennengelernt: Er nahm schon im Dezember 1907 an einer Sitzung der »Mittwoch-Gesellschaft« teil, während Jung erst im März 1908 nach Wien kam, kurz vor der »Zusammenkunft für Freudsche Psychologie«, die später als 1. Internationaler Psychoanalytischer Kongress in die Annalen eingehen sollte. Hier, in Salzburg, kam es zwischen Abraham, dem vormaligen Assistenten der Psychiatrischen Klinik Burghölzli, der jetzt als »Spezialist für nervöse und psychische Krankheiten« in Berlin praktizierte, und dem noch immer an der Zürcher Klinik tätigen Oberarzt Jung zur offenen Rivalität um die Gunst Freuds. Kurz darauf, im Mai 1908, bittet Freud Abraham mit folgenden Worten um etwas mehr Zurückhaltung: »Seien Sie tolerant und vergessen Sie nicht, daß Sie es eigentlich leichter als Jung haben, meinen Gedanken zu folgen, denn erstens sind Sie völlig unabhängig, und dann stehen Sie meiner intellektuellen Konstitution durch Rassenverwandtschaft näher, während er als Christ und Pastorensohn nur gegen große innere Widerstände den Weg zu mir findet. Um so wertvoller ist dann sein Anschluß. Ich hätte beinahe gesagt, daß erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden.«

 

Freud spricht hier – wie auch an anderen Stellen – in Anschluss an Darwin und in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Jargon der Zeit ganz unbefangen von »Rasse«. Ende 1908 wiederholt er in einem Brief an Abraham dann noch einmal die Bedeutung, die er der gemeinsamen Abkunft beimisst: »Die Gelegenheit, unser Können zu zeigen, wird kommen, auch wenn es nicht an diesem Falle [der Behandlung eines Patienten durch Abraham; B.N.] glückt. Seien Sie sicheren Mutes! Unsere altjüdische Zähigkeit wird sich auch diesmal überlegen zeigen.«

 

Im September 1913 erhält Abraham eine Ansichtskarte aus Rom, auf deren Rückseite zu lesen ist: »Der Jude übersteht’s! Herzlichen Gruß, und Coraggio Casimiro! Ihr Freud.« Auf der Vorderseite der Karte ist ein Triumphbogen zu sehen, der Titusbogen, den Kaiser Domitian für seinen Bruder errichten ließ. Titus war der Feldherr, der 71 n. Chr. den Aufstand der Juden niedergeschlagen und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem angeordnet hatte. In diesem Zusammenhang ist die auf den ersten Blick wenig verständliche Formulierung »Coraggio, Casimiro!« (zu Deutsch: »Nur Mut, Kasimir!«) bedeutsam, die Freud an dieser Stelle erstmals benutzt. Der Appell taucht auch noch in einigen späteren Briefen auf, wobei es jedes Mal darum geht, in einer scheinbar aussichtslosen Situation daran zu erinnern, den Mut nicht zu verlieren.

 

In der Ausgabe des Briefwechsels von 1965 wird der fragliche Ausdruck folgendermaßen erläutert: »Zwei Bergführer, mit denen Abraham eine Bergbesteigung unternommen hatte, sollen auf diese Tour als Proviant rohes Fleisch mitgenommen haben, das, als sie es in der Hütte zubereiten wollten, bereits leicht verdorben war. Um es dennoch zu essen, sprachen sie sich Mut zu: Coraggio, Casimiro!« Auf diese Weise erfahren wir, dass Karl Abraham nicht nur viele gelehrte Abhandlungen geschrieben hat, sondern auch begeisterter Bergsteiger war. Diese Facette seiner Persönlichkeit wird in einem Brief seiner Witwe näher beleuchtet (Abraham starb 1925 im Alter von 48 Jahren an den Spätfolgen einer verschluckten Fischgräte: erst die Verletzung der Speiseröhre, dann eine Blutvergiftung und schließlich ein tödlicher Lungenabzess).

 

Im Februar 1926 schreibt Hedwig Abraham an Ernest Jones: »Karl war der zweitgeborene von 2 Söhnen […]. Er war – im Gegensatz zu seinem damals sehr kränklichen, stark neurotischen Bruder – ein gesundes, gut entwickeltes Kind und empfand es daher sehr bitter, dass er mit seinem Bruder in allem völlig gleich gehalten, vor jedem Luftzug bewacht, mit steter Sorge umgeben, von allen Spielen mit anderen Knaben, jeder sportlichen Betätigung ferngehalten wurde. Erst später konnte er sich von dieser schädlichen Bevormundung emancipieren, und manches aus seinem späteren Leben lässt sich aus dem Energieaufwand erklären, den er brauchte, um es seinen Altersgenossen im Turnen, Schwimmen usw. gleichzutun. Von seiner Liebe zu den Bergen, seinen Leistungen als Hochtourist wissen Sie; es war immer sein Stolz, neben den zahllosen Hochtouren auch einmal eine Erstbesteigung in den Alpen ausgeführt zu haben.« Welch ein Triumph: jetzt ist Abraham der Erste!

 

Neben diesem Brief finden sich noch einige andere Briefe von und an Hedwig Abraham im Anhang der von Ernst Falzeder und Ludger M. Hermann herausgegebenen Bände. Bezüglich des Zuspruchs »Coraggio, Casimiro!« sind die Herausgeber der vollständigen Ausgabe des Briefwechsels nun aber noch etwas genauer als die der Ausgabe von 1965. Sie wissen nämlich, dass die Geschichte vom Bergsteiger, der seinem Begleiter Mut zuspricht, auch von Martin Freud erzählt worden ist. In dessen Buch Mein Vater Sigmund Freud (1957/1999) wird sie so geschildert: »Eines Tages teilten wir uns eine primitive Berghütte mit zwei italienischen Bergsteigern. Sie hatten beschlossen […] ein Stück rohes Fleisch zu braten, das sie in ihrem Rucksack mehrere Tage lang mit sich getragen hatten […]. Infolgedessen war das Fleisch nicht mehr ganz tadellos. […] Beide starrten einige Augenblicke lang auf das Fleisch […]. Endlich wandte sich der ältere Bergsteiger an den jüngeren und sagte: ›Coraggio, Casimiro!‹ und schnitt sich die erste Portion ab.« Als der Ältere (Sigmund Freud) dem Jüngeren (Karl Abraham) im September 1913 Mut zusprach, war nun aber kein verdorbenes Fleisch zu essen. Jetzt war eine Kröte zu schlucken: Carl Gustav Jung war auf dem 4. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in München soeben als Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung wiedergewählt worden.

 

Noch im Januar 1913 hatte Freud an Jung geschrieben: »Es verlautet jetzt, daß zwischen Stekel [der im November 1912 aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgetreten war, wobei Freud alles getan hatte, was er konnte, um ihn zu diesem Schritt zu nötigen; B.N.] und dem Verleger [des Zentralblattes für Psychoanalyse; B.N.] schon vor anderthalb Jahren ein Geheimvertrag abgeschlossen wurde, welcher meine Beseitigung im Falle eines Konfliktes […] garantierte. Ein nicht ganz übles Stück Verräterei.« Als Freud sich so bei Jung über diesen »Geheimvertrag« empörte, war er selbst längst Mitglied des »Geheimen Komitees«, das deshalb so hieß, weil seine Existenz vor dem amtierenden IPV-Präsidenten – also Jung – geheim gehalten werden sollte. Erklärtes Ziel der Komiteemitglieder (zu denen neben Freud Abraham, Eitingon, Ferenczi, Rank und Jones gehörten) war es jetzt, nach der Wiederwahl Jungs, dafür zu sorgen, den IPV-Präsidenten so (Auflösung der IPV) oder so (Austritt der Anhänger Freuds aus der IPV) oder so (Rückzug Jungs aus der IPV) loszuwerden. Die letzte Variante war die favorisierte Lösung – und sie glückte, zunächst symbolisch und dann tatsächlich.

 

Wo Jung war, sollte jetzt Abraham werden. Und so sollte, wo auf Freuds Schreibtisch bislang Jungs Foto stand, nun Abrahams Portrait stehen: »Ihr Bild wird morgen vom Rahmen zurückkommen und dann den Platz von Jung einnehmen«, heißt es dazu in Freuds Brief vom 16. März 1914. Darin kündigt Freud zugleich die »Bombe« an, deren Explosivkraft ausreichen sollte, Jung zu beseitigen. Gemeint war damit die Arbeit »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«. Deren Inhalt sollte Jung so sehr treffen, dass er sich noch vor dem für Herbst 1914 geplanten nächsten IPV-Kongress (der wegen des Beginns des Ersten Weltkriegs dann aber doch nicht stattfinden konnte) gekränkt von seinem Amt zurückziehen und aus der IPV austreten würde.

 

Deshalb musste jetzt alles sehr schnell gehen. Am 14. Juni schreibt Freud an Abraham: »Wir warten natürlich jetzt die Wirkung der ›Bombe‹ ab, die noch nicht gelegt ist. Deuticke [der Verleger des Jahrbuchs für Psychoanalyse, in dem der Beitrag erscheinen sollte und das inzwischen von Abraham redigiert wurde; B.N.] hat äußerste Beschleunigung versprochen.« Eine Woche später antwortet Abraham: »Die Bombe erwarte ich mit Spannung, vielleicht schon morgen.« Und am 25. Juni meldet sich Freud dann sehr erleichtert zu Wort: »Die Bombe ist also jetzt geplatzt. Was sie anrichtet, werden wir bald erfahren. Ich meine, daß wir den Opfern doch zwei bis drei Wochen Zeit lassen müssen zur Sammlung und Reaktion, bin übrigens nicht sicher, daß sie auf die genossenen Liebenswürdigkeiten mit Austritt antworten werden.« Am 10. Juli 1914 tritt die Ortsgruppe Zürich (und damit Jung) aus der IPV aus. Am 18. Juli schreibt Freud in Siegerlaune: »Ich kann ein Hurrah nicht unterdrücken. So sind wir sie also los geworden! […] Meine Bombe hat also gut gewirkt.« Damit ist dieser Kampf zu Ende.

 

Doch Abraham kämpft weiter. Und so erreicht er in der Folgezeit noch manchen anderen Gipfel, auch wenn er nicht immer der erste ist. Zwischen 1914 und 1918 wird er Jungs Nachfolger im Amt des IPV-Präsidenten. In der Nachkriegszeit übernehmen Ferenczi (1918–1919), der sich bald darauf politisch wie psychoanalytisch verdächtig macht, und Jones (1920–1924), der sich in der Auseinandersetzung mit Ferenczi (und Rank) auf Abrahams Seite schlägt, den IPV-Vorsitz. 1924 wird dann wieder Abraham in dieses Amt gewählt (das er bis zu seinem Tod innehat).

 

Im Juni 1925 erhält Abraham von der Neumann Filmproduktion ein überraschendes Angebot: Man will »einen populär-wissenschaftlichen Film über die Lehren der Freud’schen Psychoanalyse herstellen und hierzu von Herrn Geheimrat S. Freud eine offizielle Autorisation […] erlangen«. Der IPV-Präsident könnte dabei helfen. Er wendet sich sofort an Freud – und beißt bei ihm auf Granit: »Das famose Projekt ist mir nicht behaglich« (Freud am 9. Juni 1925 an Abraham). Freud ist Realist. Er weiß, dass sich »die Verfilmung […] sowenig vermeiden [lässt] wie […] der Bubikopf, aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden« (Freud am 14. August 1925 an Ferenczi).

 

Der Film Geheimnisse einer Seele wird unter der Regie von Georg Wilhelm Pabst schließlich ohne Freuds Autorisation gedreht – wenngleich nicht gegen Freuds grundsätzlichen Einspruch, denn einem solchen hätten sich Abraham und Sachs, der an dem Projekt ebenfalls beteiligt ist, gewiss gebeugt. Es liegt dennoch kein Segen auf diesem letzten Jahr im Leben des Karl Abraham: Adolf Storfer und Siegfried Bernfeld haben inzwischen Wind von der Sache bekommen und beginnen deshalb »ein unfaires Konkurrenzmanöver hinter dem Schleier der Freundschaft« (so Abraham an Freud). Das heißt, sie planen ein Konkurrenzprojekt. Das bringt Abraham auf die Palme. Ausgerechnet Bernfeld! »So wenig wie ich ihm ein Kind als pädagogisches Objekt anvertrauen möchte, so wenig erwarte ich Gutes von ihm«, beschwert sich Abraham bei Freud, der sich vergebens darum bemüht, dessen Zorn zu dämpfen. Abraham bleibt hartnäckig: »So leid es mir tut, kann ich an meinem Urteil über Bernf.[eld und Storfer nichts ändern.« Und er legt nach: »Ersterer ist ein begabter Mensch, bei dem aber die Grenzen zwischen Realität und Phantasie, zwischen idealistischer Wahrheitsliebe und triebhafter Pseudologie ganz unscharf sind.« Freud ist machtlos – Abraham ist verbittert. Der letzte Brief, den er am 27. Oktober 1925 schreibt, mutet tragisch an. Darin beschwert sich der treue Diener über die Ungerechtigkeit, die ihm seitens Freud zuteil wird, wie er meint: »Sie wissen, lieber Herr Professor, daß ich die Angelegenheit mit Storfer und Bernfeld sehr ungern nochmals erörtere. Aber ich befinde mich durch den Vorwurf der Schroffheit […] wiederum in der Lage, in der ich schon mehrfach war. Es hat in fast 20 Jahren zwischen Ihnen und mir nie Meinungsdifferenzen gegeben, außer wenn es sich um Personen handelte, an denen ich – sehr zu meinem Bedauern – Kritik üben mußte. Es wiederholte sich jedes Mal der gleiche Vorgang: Sie gingen über alles Anfechtbare im Verhältnis der Betreffenden mit Nachsicht hinweg, dagegen entlud sich auf mich aller Tadel, den Sie später dann als unberechtigt erkannten.«

 

Freud antwortet am 5. November 1925, die Beschwerde zurückweisend: »Es macht mir keinen tiefen Eindruck, [daß] ich in der Filmsache B.[ernfeld]-S.[orfer] doch nicht zu Ihrer Ansicht bekehrt werden kann.« Darauf gibt es keine Entgegnung mehr. Abraham stirbt kurz darauf, am ersten Weihnachtsfeiertag 1925.

 

Bleibt als Ergänzung des Bildes von Abraham noch nachzutragen, was die Herausgeber in der Einleitung des hier besprochenen Briefwechsels knapp und präzise zusammengefasst haben: Nicht nur im Amt des IPV-Vorsitzenden, sondern auch als Mitbegründer der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, aus der die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft hervorgegangen ist, sowie als einer der Leiter (der andere war Ernst Simmel) der 1920 von Eitingon finanzierten Berliner Poliklinik und Mitbeteiligter des Berliner Curriculums der psychoanalytischen Ausbildung, das weltweit zum Vorbild wurde, hat Abraham einen wesentlichen Beitrag zur Institutionalisierung der Psychoanalyse geleistet. Zu seinen Schülern zählten unter anderen Felix Boehm, Carl Müller-Braunschweig, Theodor Reik, Karen Horney, Helene Deutsch und Melanie Klein. Seine Arbeiten zur psychosexuellen Phasenlehre sowie zu den damals sogenannten »prä-ödipalen« Störungen waren wichtige Schritte auf dem Weg zu einem vertieften Verständnis der Störungen, die heute als »ich-strukturelle« bezeichnet werden. Ernst Falzeder und Ludger M. Hermanns, deren brillante Herausgeberleistung viel dazu beigetragen hat, dass uns Abrahams Profil nun etwas schärfer vor Augen treten kann, ziehen deshalb zurecht das folgende Fazit: Abraham war ein »origineller Theoretiker, dessen Einfluß auf die Ideengeschichte der Psychoanalyse […] noch nicht wirklich ausgeleuchtet ist«. Diesem Urteil schließe ich mich vorbehaltlos an.

 

Bernd Nitzschkes Besprechung des Buches Sigmund Freud & Karl Abraham: Briefwechsel 1907–1925. Vollständige Ausgabe. 2 Bde. Herausgegeben von Ernst Falzeder und Ludger M. Hermanns. Wien (Turia + Kant) 2009, ist unter leicht verändertem Titel erschienen in: psychosozial 34 (Nr.123/Heft I), 2011, S. 119-125.